Parrhesia – Wahrsprechen in der Demokratie (Teil II/III)

Ein Beitrag von Katja Leyhausen

Lesedauer 6 Minuten
1bis19 - Parrhesia – Wahrsprechen in der Demokratie (Teil 2v3)
Demosthenes übt seine Redekunst (1870) von Jean Lecomte du Nouÿ

Gute Parrhesia schlechte Parrhesia: Eine Wende in der Erzählung

Auf der Hälfte seiner Vorlesungen macht Foucault plötzlich eine Kehrtwende in der Bewertung des Wahrsprechens. Zuerst ging es ihm um die Frage, was Parrhesia ausmacht: das existentielle Risiko, das Wahrsprecher eingehen, wenn sie mit ihren offenen Reden die Mächtigen provozieren. Anhand der Tragödien des Euripides zeigt er diese individuellen Risiken und unterstellt doch, dass sie im Rahmen menschlicher Gemeinschaften eingegangen werden müssen. Diese Bewertung schlägt plötzlich um (ab S. 79): Foucault liest die Quellen aus der Zeit nach dem Peloponnesischen Krieg (431 v. Chr. bis 404 v. Chr.), welcher mit der Niederlage der Athener und ihrer Demokratie endete. Er liest Isokrates, Demosthenes, Platon und Aristoteles, und alle diese Autoren trauen dem Wahrsprechen in der Demokratie nicht mehr viel zu.

Zeitlich bezieht sich die erste Hälfte der Vorlesungen, mit der positiven Bewertung von Parrhesia, auf das 5. Jh. vor Christus. Die andere Hälfte, mit der skeptischen Darstellung, führt bis ins 4. Jh. nach Christus; sie erstreckt sich über acht Jahrhunderte. Foucault bekommt dabei Probleme, den Stoff zu ordnen. Sein Zeitraffer im zweiten Teil (der insgesamt 180 Seiten) kann die systematischen Überlegungen des ersten nicht einholen. Am Übergang von hier nach da stolpert Foucault wie über eine unbeachtete Türschwelle. Man muss deshalb aufmerksam lesen, um zu verstehen, welcher negative Aspekt des Wahrsprechens in der Demokratie ihn am meisten beschäftigt. Methodisch habe ich auf die Häufigkeit und Emphase der Kritikpunkte geachtet, und auch auf die Position dieser Punkte im Textaufbau.

Führt demokratische Parrhesia zur Anarchie?

Mit Isokrates (Mitte 4. Jh.v. Chr.) kommt Foucault zu dem Ergebnis, in der Demokratie gäbe es “keine echte Parrhesia”, weil die öffentlichen Redner dem Volk in seiner Mehrheit nur nach dem Mund redeten. Der “ehrliche Redner” müsste “mutig genug” sein, “sich dem demos zu widersetzen”, doch die Redner in der Demokratie “sagen nur, was das Volk hören will”. Die Mehrheit höre gerne auf die “Trunkenen und Schmeichler”; das Wahrsprechen ertrage sie nicht (ebd. 83-85).

Das führe zu “törichter Geschwätzigkeit”, die zudem noch gefährlich sei, denn sie sei eine Manifestation von “Gesetzlosigkeit” und mangelnder “Selbstbeherrschung” (ebd. 85): Wer sagt, was ihm gerade einfällt, der wird auch tun und lassen, was er will. Der Gedanke wird besonders von Platon ausgeführt: Für ihn bestand das Problem der “schlechten unmoralischen oder ignoranten Sprecher” (ebd. 79), die sich als Wahrsprecher nur ausgeben, ausdrücklich nicht darin, dass sie die Bürgerschaft in die Tyrannei führen könnten. Nicht die Tyrannei, sondern die Anarchie sei eine Gefahrfür die Gemeinschaft (ebd. 86-88).

Die verkehrte Gefahr der Wahrsprecher

Die Entwicklung, die Foucault darstellt, beginnt also bei der Gefahr, welcher Wahrsprecher per Definition ausgesetzt sind (der Gefahr für Wahrsprecher), hin zu einer Gefahr, die von Wahrsprechern ausgeht (als Gefahr für die Gemeinschaft). Diese Entwicklung entspricht zugleich einer Interessenverschiebung bei Foucault: Weil er selbst sich viel mehr für dieses – von Platon übernommene – Problem gemeinschaftsgefährdender Parrhesia interessiert, geraten ihm die Gefahren und Bedingungen fürs Wahrsprechen ihrerseits aus dem Blick.

Die Angst vor dieser Gefahr führt sogar dazu, dass Foucault, wie Platon, das Wahrsprechen umdeutet. Auch er fürchtet sich vor der Anarchie, die von einem unberechenbaren Mob verursacht werden könne. Ins Zentrum seiner narrativen Wende setzt er deshalb das, was er die “neue sokratisch-philosophische Tradition” von Parrhesia nennt (ebd. 91-107).Plötzlich interpretiert er das Wahrsprechen als Mittel zum Zweck der Selbstbeherrschung: Alle weiteren Quellen der antiken Problematisierung von Parrhesia werden in diesem Licht interpretiert – ungeachtet dessen, dass diese Konzeption damals in “aristokratischen Clubs” ohne demokratische Gesinnung entwickelt wurde (ebd. 112).

Nicht Freiheit, sondern Machtkonzentration schadet der Gemeinschaft und ihren Wahrsprechern

Der wichtigste Einwand sei schon hier erlaubt: Aus der Sicht der Gegenwart besteht die Gefahr für die Demokratie nicht in zu viel Freiheit und mangelnder Selbstbeherrschung, sondern in zu viel Machtkonzentration. Und diese Gefahr ist beides: eine Gefahr für die demokratisch verfasste Gemeinschaft UND eine Gefahr für die Wahrsprecher. Das Problem kann man aus Foucaults systematischer Darstellung im ersten Teil seiner Vorlesungen selbst herauslesen:

In jeder Gemeinschaft gibt es einen parrhesiastischen Vertrag, durch den sich Macht und Wahrheit gegenseitig respektieren (30 f.). Ein weiser König beispielsweise duldet Wahrsprecher am Hof, die ihm sagen, was er nicht hören will. So kann verhindert werden, was der SED-Führung in der DDR passierte: dass der König an der Realität vorbei regiert und sich völlig in seinen Hirngespinsten der Gesellschafts-, Herrschafts- und Zweckoptimierung verrennt. Wenn er sich jedoch von seinen Leidenschaften und Emotionen hinreißen lässt, dann fällt der parrhesiastische Vertrag. Dann geraten zuerst die Wahrsprecher in große Gefahr und schließlich, über kurz oder lang, das gesamte gesellschaftliche Gefüge.

Diese Gefahr der Wahrsprecher besteht nicht nur bei einem tyrannischen Monarchen, sondern im selben Maße bei entfesselter Mehrheitshysterie. Angst vor Krankheit und Katastrophen führt gegenwärtig zur Angst vor der freien Rede und besonders vor denen, die sie unerschrocken weiter praktizieren. Am Ende sollen sie schuld sein an einem gesellschaftlichen Chaos, das durch die ungebändigte Macht einer leidenschaftsgetriebenen Mehrheit entsteht.

Emotion und Wahrheit

Das Problem dabei ist aber die Allmacht des Königs bzw. der Mehrheit, nicht die Emotionalität. Im Gegenteil: Sich im entscheidenden Moment (Kairos) von einer Emotion leiten zu lassen, das ist für Wahrsprecher ein wichtiger innerer Antrieb. Bei Euripides gewann Ions Mutter ihre Kraft aus der großen Sehnsucht nach ihrem Sohn. “Denn nachdem sie von Apollon vergewaltigt und ihres Sohnes beraubt worden war, nun erfahren zu müssen, dass sie auch keine Antwort auf ihre Fragen” nach dem Sohn “bekommen wird …, das erweist sich für sie als zuviel, um es zu erdulden. … ihre Verbitterung, ihre Verzweiflung und ihr Zorn brechen” in einer Anklage gegen Apollon “hervor. Sie entscheidet sich, die Wahrheit zu sprechen” (ebd. 52).

Diese wichtige Episode, die Foucault im ersten Teil des Buches anführt, vergisst er im zweiten Teil. Er fragt nur noch, wie Wahrsprecher Selbstbeherrschung einüben können. Drei Dimensionen der sokratisch-platonischen Parrhesia erläutert er dabei: eine epistemische – nennen wir sie wissenschaftliche – Dimension, eine politische und eine ethische.

Der König und der Philosoph: wissenschaftliche Parrhesia

Durch die epistemisch-wissenschaftliche Funktion disziplinieren Wahrsprecher die Gemeinschaft. Foucault zitiert seinen Gewährsmann Platon: Wenn sich Privatleute in ihren privaten (wirtschaftlichen und rechtlichen) Angelegenheiten nur von den Klügsten beraten lassen (ebd. 82), dann solle das auch die politische Gemeinschaft tun. Man solle Experten anhören, damit sie in allem nur das Beste entscheiden und in die Öffentlichkeit tragen. Platon hatte einen Philosophen als Gesellschaftsexperten vorgeschlagen. Foucault seinerseits vertraut das Wahrsprechen dem guten Monarchen an, der Parrhesia nicht nur großmütig zulässt, sondern sie aktiv in weise Bahnen lenkt, indem er für ihre Ausübung nur die allerbesten Experten bestellt.

Dann ist Parrhesia freilich kein Bürgerrecht mehr und keine politische Praxis, sondern eine technokratische Institution. Sie wird zum Amt für einige wenige, die sich vom König für ihr Expertentum bezahlen und honorieren lassen. Das führt schnell zu einer Interessenkonvergenz des mächtigen Königs und der machtvollen Expertenautorität. Das Amt, welches an die Stelle des parrhesiastischen Duldungsvertrages tritt, kann jederzeit missbraucht werden – beim autokratisch herrschenden Tyrannen genauso wie bei Mehrheitstyrannei.

Die politische Funktion von Parrhesia bleibt immer der Widerspruch zur Macht

Es geht also um die Frage nach Legitimation und Glaubwürdigkeit: Wem soll man zuhören, wem kann man glauben? Der trunkenen Mehrheit und denen, die ihr schmeicheln? Den bestellten Experten? Einem Philosophenkönig? Soll man bspw. dem neuen Bundesgesundheitsminister folgen? Er versteht sich ja seinerseits als Wahrsprecher, der der Bevölkerung sagt, was sie gar nicht gerne hört: dass die hygienische Lage brandgefährlich ist, dass die Regierung der Bevölkerung mit polizeilichen Maßnahmen weiter weh tun muss oder jedenfalls einem Teil der Bevölkerung, dass die Zeit für sozialen Frieden durch Grundrechtsgarantien leider noch immer nicht angebrochen ist, dass alles noch schlimmer wird, wenn nicht die ganze Bevölkerung macht, was die Regierung sagt usw.

Es ist in der Geschichte nicht neu, dass Könige und Regierungen sich selbst als Wahrsprecher inszenieren. Doch Foucault hatte herausgearbeitet: Machthaber können nicht aus der Position eines Wahrsprechers heraus agieren, sie mögen sich mit noch so vielen Experten umgeben oder sich selbst als Experten ausgeben. Weil Macht keinen Mut benötigt, hat sie aus sich heraus keinen Zugang zur Wahrheit. Sie braucht jemanden, der ihr widerspricht.

Demonstrieren gegen falsche Wahrsprecher

Womöglich lassen sich die dauernden Widersprüche aus dem Munde des Gesundheitsministers genau dadurch erklären: Was der Minister heute sagt, gilt morgen schon nicht mehr (Wir brauchen keine Impfpflicht/Wir brauchen eine Impfpflicht). Und was er sagt, das bedeutet gleichzeitig auch das Gegenteil (Eine Impfpflicht ermöglicht freiwilliges Impfen). Karl, der König, und Lauterbach, der Experte für Medizin und Staatenlenkung (oder Pharmalobbyismus) – diese beiden Personengruppen fallen sich fortlaufend gegenseitig ins Wort. Hier behält Isokrates Recht: Nach solch trunkenen Weissagungen giert die Bevölkerungsmehrheit, und scheinbar auch nach der politischen Willkür, die damit einhergeht.

Doch eine große Minderheit der Bevölkerung will nicht auf den klugen Experten und weisen König hören; auch der Mehrheitsherrschaft stellt sie sich entgegen. Diese Bevölkerung kennt das parrhesiastische Kriterium von Mut und Risiko.Dem Historiker Foucault geht es an dieser kniffligen Stelle und Schwelle im Text völlig verloren. Sein geschichtlicher Blick reicht nicht bis in die modernen Demokratien und ihren durch die Verfassung garantierten parrhesiastischen Vertrag: Hier gehen Wahrsprecher zum Demonstrieren auf die Straße, um der Regierung, ihren willfährigen Experten und der Mehrheit in ihrer großen Übermacht laut zuzurufen, was sie alle zusammen nicht hören wollen. Beamte remonstrieren, und couragierte Bürger suchen Freiräume für maßvolles Agieren in einem mächtig überregulierten Alltag.

Wer wissen will, wie man den Trunkenen und Schmeichler vom Wahrsprecher unterscheidet, der denke zuerst an den Mut, sich auf friedliche Weise mit den Mächtigen anzulegen. Dieses politische Kriterium ist das einzige Kriterium von historischer Dauer. Und es schließt weder Klugheit aus (das bereits genannte epistemische Kriterium), noch Integrität – das ethische Kriterium, mit dem sich in Kürze der Schlussteil dieses Essays beschäftigen wird.

Foucault, Michel (1996): Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia (Berkeley-Vorlesungen 1983). Hgg. von Joseph Pearson. Aus dem Englischen übersetzt von Mira Köller. Berlin (Merve Verlag).

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