Parrhesia und die Sorge um sich selbst – Kontrolle oder Provokation? (Teil III/III)

von Katja Leyhausen

Lesedauer 5 Minuten
1bis19 - Parrhesia und die Sorge um sich selbst – Kontrolle oder Provokation? (Teil 3v3)
Speakers‘ Corner -London 2005 Foto: Pedro Figueiredo – flickr.com/photos/pfig 

Foucaults letztes Großkapitel in seiner Analyse des Wahrsprechens heißt “Parrhesia und die Sorge um sich” (ab S. 91). Folgen wir ihm dabei noch ein Stück. Denn gegenwärtig sieht es so aus, als wären wir durchaus in einer Mehrheitstyrannei angekommen, die durch Katastrophenleidenschaft aufgeputscht ist und zugleich durch Überregulation und Herrschaftszement bereits so abgestumpft, dass sie an Problemerkenntnis und Problemlösung gar nicht mehr interessiert zu sein scheint. Falsche Wahrsprecher haben da leichtes Spiel; die Gefahr für die demokratische Gemeinschaft und für diejenigen, die mutig warnen, könnte größer kaum sein. In dieser Situation geht es nicht mehr allein darum, das Bürgerrecht der Parrhesia zu verteidigen. Das tun Wahrsprecher natürlich weiterhin. Doch es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich zusätzlich auch noch um sich selbst zu sorgen.

Das ethische Kriterium des guten Charakters als Ziel der Geschichte

Schon vor Beginn dieses Kapitels über “die Sorge um sich” hatte sich Foucaults Interesse deutlich verschoben von der mutigen politischen Aktion hin zur Anarchieverhinderung. In diesem Rahmen entwickelt er ganz besonders das ethische Kriterium von Parrhesia, das er geradezu zum Ziel ihrer geschichtlichen Entwicklung erklärt. Das führt uns zum Handwerk der Historiker: In jedem Stück Geschichtsschreibung gilt das Prinzip der Retrospektivität. Der Historiograph erzählt seine Geschichte von demjenigen Ende aus, das er selbst ihr setzt und setzen kann, ohne die Quellen zu verfälschen.

Die Entwicklung, die Foucault darstellt, heißt: Nach dem Peloponnesischen Krieg bekamen die Wahrsprecher ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und dann passierte es, dass es sich von der politischen Aktion immer mehr zu einer persönlichen Einstellung entwickelte: Die Philosophen und Schriftsteller besannen sich darauf, dass Wahrheit ihre Voraussetzungen in individueller Tugend und Charakterfestigkeit haben soll. Aus politischem Mut zum Risiko wurde schonungslose Ehrlichkeit gegen sich selbst.

Ähnlich wie bei den Nachrichten über die Corona-Toten (an oder mit Corona?), über Long-Covid (Long-Covid oder Long-Lockdown?) über die COVID-Impfnebenwirkungen (an oder nach der Impfung?) liegt diese und-dann-Verbindung sprachlich-rhetorisch immer zwischen einer bloß zeitlichen Relation (Was kam danach?) und einer kausal-verursachenden Relation (Was passierte deswegen?). Narrative entstehen, weil dieser Interpretationsspielraum beim Erzählen sprachlich nie völlig vereindeutigt werden kann.

Foucaults Interpretation bedient also den kausal-argumentativen Zusammenhang: Weil das demokratische Recht der freien Rede zur individuellen Ausschweifung und zur gesellschaftlichen Anarchie führe, solle jeder Einzelne an sich arbeiten. Wer die Wahrheit kennen will, müsse “die Wahrheit über sich selbst kennen” (ebd. 110). Und genauso hat sich die Geschichte des Wahrsprechens seit der Zeit der hellenistischen Monarchien bis hin zum frühen Christentum dann auch zugetragen (ebd. 105): Die ganze Geschichte wird retrospektiv im Licht dieser Suche nach Ehrlichkeit und Selbstbeherrschung konzipiert.

Foucault analysiert drei soziale Orte von ethisch geleiteter Parrhesia: Parrhesia in der Öffentlichkeit (bei einem Kyniker wie Diogenes), halböffentliche Parrhesia in der Schule und in Freundschaften (in epikureischen Gruppen) und private Parrhesia (bei Epiktet). Der Raum fürs Wahrsprechen sei dadurch von Agora und Königshof auf neue Räume erweitert worden, so meint Foucault optimistisch (ebd. 110 f.).

Pädagogische Parrhesia in Staat und Schule: Rettung durch einen Anderen

Eine von Foucaults wichtigsten Quellen in diesem Zusammenhang ist der archäologisch aufregende Text “Über Freimütigkeit” des Philodemos von Gadara. Philodemos vergleicht die Staats- und Menschenführung mit den Aufgaben eines Steuermanns, der im “entscheidenden, kritischen Augenblick” (Kairos) die richtigen Befehle so gibt, dass die anderen wissen und tun, was getan werden muss. In einer solchen Steuerungsfunktion bestände auch die Bedeutung der pädagogischen Freundschaft in den Lerngruppen Epikurs: Wie Regierungen seien auch Lehrer einer “pädagogischen Beziehung der Führung” verpflichtet. Ihre Aufgabe sei es, jemanden anderes “in die Lage zu versetzen, die Wahrheit über sich selbst zu entdecken” (ebd. 115-118).

Dieses Prinzip der “Rettung durch einen anderen” befürwortet Foucault; und hier sieht man Foucault an der Schwelle zu Foucault stolpern: Lehrer und Staatenlenker können keine Wahrsprecher sein, hatte er im ersten Teil seiner Vorlesungen herausgearbeitet (ebd. 14). Denn sie sind in einer Position der Macht, in der sie Wahrheit weder benötigen noch (mangels Auseinandersetzung mit Macht) aktiv herstellen können. Die Anmaßung, jemand könne/müsse/solle mit Macht einen anderen retten, ist eine “autoritäre” Phantasie (Foucault selbst verwendet das Adjektiv; ebd. 118) – aber sicher kein Akt des Wahrsprechens.

Stoische Selbstprüfung: Zeig mir deinen Ausweis!

Da bei Foucault parrhesiastische Staatskunst darin besteht, Menschen autoritär zu regieren, und parrhesiastische Erziehung in pädagogisch-autoritärer Seelenführung, besteht für ihn die individuelle Parrhesia in der von Seneca und Epiktet propagierten Kunst, sich in Strenge selbst zu beherrschen. Diese stoische Tradition suchte nach Beständigkeit und Souveränität durch Seelenruhe/Ataraxie. Sie empfahl, wie bei der christlichen Beichte, unablässige “Selbstprüfung” vor einem Richter oder “Selbstdiagnose” wie beim Arzt. Dabei arbeiteten sowohl Seneca als auch Epiktet sprachlich mit dem Vokabular von Verwaltung und Grenzpolizei (ebd. 155 f.): In einer “Haltung ständiger Überwachung” solle man, Epiktet zufolge, all seine sinnlichen “Vorstellungen” bezwingen. Nichts, “was nicht der Souveränität unseres Willens unterworfen ist”, solle in diese Vorstellungen eindringen können. Deshalb solle man wie ein “Pförtner oder Nachtwächter” fortlaufend zu sich selbst sagen: “Zeig mir deinen Ausweis” (ebd. 169-173).

Muss also der Wahrsprecher auf der Höhe unserer Zeit sein eigener Nachtwächter sein? Foucault bestimmt die Selbstkontrolle als Ende und Zweck seiner Geschichte der ins Christentum mündenden altgriechischen Tradition. Doch wäre das ein vorläufig gutes und passendes Ende vom Ende der Geschichte demokratischer Parrhesia? Wie kann man diese Geschichte bis in die neuzeitlichen Demokratien vom 18. bis 21. Jahrhundert weiterschreiben? Soll sich der mutige Wahrsprecher zu einem Verwalter gegen sich selbst entwickeln? Soll er Parrhesia in ihr gerades Gegenteil verkehren und sich fortlaufend selbst kontrollieren? Haben wir nicht schon genug Nachtwächter, die Ausweise und Vorschriften kontrollieren?

Parrhesia in der Öffentlichkeit: Die Kynische Provokation

Wer 1989 die Wende zur Demokratie miterlebt und sogar persönlich mit vollzogen hat, der wird bei seiner Reflexion von Parrhesia nicht die Angst vor Anarchie und Emotion ins Zentrum der Erzählung rücken. Der oder die wird Demokratie und Wahrsprechen aus ihrer wichtigsten Bedingung heraus verteidigen: aus freiem Mut und riskantem persönlichen Engagement. In der Erzählung einer solchen Historikerin könnte beispielsweise die kynische Lebensweise zum Dreh- und Angelpunkt der temporal-kausalen und-dann-Verknüpfung werden:

Auch die Kyniker (1. Jh. vor Chr.) standen in der sokratisch-platonischen Tradition, derzufolge als Parrhesiastes nur anerkannt wird, wer “Rede stehen kann über sich” (ebd. 97), wer also eine harmonische Beziehung hat zwischen dem eigenen Reden und der Art und Weise, wie er oder sie lebt. Die Harmonie zwischen logos und bios verbürgt eine Beziehung der Wahrheit, bis hin zur Bereitschaft, sein Leben zu ändern. Mit diesem hohen Anspruch sei, so Foucault, die christliche Idee der Konversion vorweggenommen, die mehr beinhalte, als nur das Anliegen, andere von der eigenen Meinung zu überzeugen. Der Wahrsprecher solle durch sein eigenes Reden und Leben seine “Mitbürger auffordern aufzuwachen, abzulehnen, was sie bisher akzeptierten, oder zu akzeptieren, was sie bisher ablehnten” (ebd. 109 f.)

Die Kyniker vollzogen dieses Wahrsprechen einerseits als kritisches Predigen und provokativen Dialog, andererseits jedoch in einer “radikalen” Form als “öffentliche, sichtbare, spektakuläre und manchmal skandalöse Lebensweise” (ebd. 122 f.). Dazu gehörte es, wie Peregrinus Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod zur Schau stellen oder sich wie Diogenes über die Mächtigen lustig zu machen. Heutzutage sollten Wahrsprecher vielleicht lieber nicht in einer Tonne leben. Denn in einer Mehrheitsgesellschaft von sich grandios selbstüberschätzenden und hochgerüsteten Drachen- und Virentötern würde man da sicher NUR ausgelacht.

Aus Angst- und Todesverachtung den Freitod zu wählen, wie Peregrinus es tat, scheint auch keine Lösung zu sein. Schließlich kann man Parrhesia danach nur noch schlecht üben: Wer sich selbst verbrennt, der würde – wie der Pfarrer Oskar Brüsewitz 1976 in Zeitz in der DDR – in der tyrannischen Mehrheitsöffentlichkeit nur zusätzlich totgeschwiegen. Auch die von Diogenes praktizierte öffentliche Masturbation verbietet sich. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich die Grenze körperlicher Provokationen unter hygienistischen Bedingungen verschiebt.

Ist vielleicht zum Abschluss noch eine kynische Flashmob-Idee gefällig? Man wird ja wohl noch träumen dürfen?

Dann nehme man eine kleine Gruppe von parrhesiastischen Aktivisten, männlich und weiblich. Sie betreten ein Lokal und nutzen den kritischen Moment der eifrigen Einlasskontrolle. Sie ziehen sich die Mäntel aus. Plötzlich stehen sie da in gepflegter Nacktheit und rufen dem korrekt-konsternierten Gastwirt aufgeregt zu: Na so etwas! Jetzt haben wir doch tatsächlich den Impfausweis vergessen! …

… Möge dabei noch, wer will, ein dickes Heftpflaster auf seinem Arm vorzeigen! Die provozierenden Lebenszeugnisse der Kyniker (nicht philosophisch-theoretische Reflexionen) sind diejenigen Ausweispapiere, die sie sich und ihrer Nachwelt vorgelegt haben (ebd. 119). Auch heute haben Wahrsprecher die Wahl, welche Dokumente sie wem unterbreiten.

Foucault, Michel (1996): Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia (Berkeley-Vorlesungen 1983). Hgg. von Joseph Pearson. Aus dem Englischen übersetzt von Mira Köller. Berlin (Merve Verlag).

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