Ein Beitrag von Katja Leyhausen
Lesedauer 7 MinutenWer in der politischen Debatte sachlich und friedlich auftreten will, der sollte die aggressiven Sprüche seiner Gegner nicht zitieren und sie lieber unkommentiert lassen. Denn selbst wenn man diese Sprüche bloß analytisch auseinandernehmen wollte, man würde sie dadurch nur immer noch weiter in der Öffentlichkeit verbreiten. Man würde dadurch den aggressiven Ton nur salonfähig machen. Gefragt ist stattdessen die freie Rede, die sich noch nicht einmal in dieser indirekten Weise steuern lässt. Mit der Praxis der freien Rede bei den alten Griechen (Parrhesia) hat sich Michel Foucault 1983 in seinen Berkeley-Vorlesungen beschäftigt. Die Kyniker beispielsweise vollzogen Parrhesia 1. als kritisches Predigen, 2. als skandalöse Lebensweise und 3. als provokativen Dialog (Foucault 1996, 123).
Sprache als Rüstung
Wer in der politischen Debatte sachlich und friedlich auftreten will, der sollte die aggressiven Sprüche seiner Gegner nicht einmal zum Zwecke der Analyse zitieren und weiterverbreiten. Gefragt ist die nicht – auch nicht indirekt – gesteuerte, freie Rede. Das wird gegenwärtig immer schwieriger, denn die No-Covid-Fraktion kann vor Kraft kaum laufen. Ihre Vertreter reklamieren ALLES für sich: Die Mathematik und die evidenzbasierte Medizin, die Wissenschaft und die Vernunft, die Moral und die Solidarität, die politische Handlungsmacht und die mediale Deutungshoheit, das Recht und die Verfassung, die Demokratie und unsere Zukunft … Wie Ritter aus einem Mittelaltermuseum kommen sie in eisernen Rüstungen daher. Ihre Sprache ist so aufgerüstet, dass es vor Metall nur so scheppert und kracht und man sich fragen muss, was für Spargelmännchen wohl dahinter stecken mögen. Lockdowns, Impfpflicht, unbegrenztes Gelddrucken – die zerstörerischen Dimensionen solcher “Maßnahmen” sind viel zu groß, als dass sie von kleinen Politikern, Journalisten, “Experten” in ihren Konsequenzen überblickt werden könnten.
Das erinnert an die Geschichte des Diogenes von Sinope, der in einer Tonne geschlafen haben soll und deshalb auch Diogenes in der Tonne genannt wird. Der griechische Kyniker hatte es sich zur Lebensphilosophie gemacht, in Bedürfnislosigkeit und Unabhängigkeit zu leben und mit seinen freien Reden die Mächtigen offen herauszufordern. Der Legende nach war Alexander der Große auf ihn aufmerksam geworden: Der große König besuchte den berühmten Philosophen und musste sich von ihm anhören, er möge doch so gut sein und ihm aus der Sonne gehen. Dabei meinte das Volk, damals voller Bewunderung für den großen Alexander, er selbst stamme von der Sonne ab (Foucault 1996, 123). Diogenes ging in seiner großen Freiheit noch weiter: “Du bist doch ein König und wirst gerühmt wegen deiner Tapferkeit, nicht wahr”?, fragte er Alexander. “Wie kann es dann sein, dass du Waffen trägst? Du legst dich sogar mit deinen Waffen schlafen. Weißt du nicht, dass es ein Zeichen von Furcht ist, wenn ein Mensch Waffen trägt? Ein furchtsamer Mensch aber kann genausowenig König werden wie ein Sklave” (ebd. 133).
Parrhesia der Wahrsprecher
Mit der Praxis der freien Rede bei den alten Griechen hat sich Michel Foucault 1983 in seinen Berkeley-Vorlesungen beschäftigt: Parrhesia nannten sie sie, was im Deutschen als Wahrsprechen und im Englischen als „free speech“ übersetzt werden kann. Zuerst hat Foucault das Konzept in den Tragödien des Euripides im 5. Jh. v. Chr. gefunden, zur Zeit der attischen Demokratie; er verfolgt es bis ins 4. Jh. n. Chr. Sogar das Christentum ist stark von diesem Konzept beeinflusst. Parrhesia ist das Anliegen, sich
1. offen und ohne rhetorische Absichten zu äußern, um alles zu sagen, was man als wahr weiß,
2. sich dabei in eine reale Gefahr zu begeben, insofern man damit nämlich
3. Kritik an den Mächtigen übt, an der Mehrheitsmeinung oder vielleicht sogar an einem nahen Freund, man aber
4. genau diese Verpflichtung zur Parrhesia gegenüber dem jeweiligen Gemeinwesen spürt und man sich deshalb diesem sprachlichen Handeln nicht entziehen kann (ebd. 9-19).
Der Parrhesiastes bzw. Wahrsprecher geht die Verpflichtung ein, sich aus seiner unterlegenen Position im gesellschaftlich-politischen Machtgefälle heraus einer Gefahr auszusetzen, indem er das sagt, was den Mächtigen nicht gefällt: dem Tyrannen, der mächtigen Mehrheit oder auch einem lieben Freund. Er läuft dabei Gefahr, aus der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen, aus der Familie oder aus dem Bund der Freundschaft vertrieben zu werden. Dabei hat er eine ganz besondere Beziehung zu den verschiedenen Parametern der Kommunikation:
- Durch seine uneingeschränkte Offenheit hat er “eine spezielle Beziehung zur Wahrheit”,
- “durch die Gefahr eine spezielle Beziehung zum eigenen Leben”. Denn er riskiert den sozialen und sogar den physischen Tod, “anstatt in der Sicherheit eines Lebens auszuruhen, bei der die Wahrheit unausgesprochen bleibt (ebd. 15).
- Er hat “durch Kritik … eine spezielle Beziehung zu sich selber oder zu anderen Menschen” (ebd. 16)
- “und durch die Pflicht eine spezielle Beziehung zum moralischen Gesetz” (ebd. 19). Parrhesia kann nicht erzwungen oder erkauft werden.
Zweifel, Mut und Tat
Mit Parrhesia ist ein anderer Wahrheitsbegriff verbunden als der moderne Wahrheitsbegriff: Seit Descartes und dem Rationalismus der Aufklärung geht der Feststellung von Wahrheit der Zweifel voraus. Ohne den Zweifel im Akt des Denkens (cogito ergo sum) gibt es keine Wahrheit (ebd. 13). Die Wahrheit der Parrhesia dagegen definiert sich durch das Risiko, das man im Akt des Sprechens selbst eingeht: Wieso sollte man die Mächtigen provozieren und sich selbst einer existentiellen Gefahr aussetzen, wenn nicht aus der verpflichtenden Erkenntnis der Wahrheit heraus? Bei den Griechen war es so: “Wenn jemand bestimmte moralische Qualitäten hat, dann ist das der Beweis dafür, dass er Zugang zur Wahrheit hat – und umgekehrt”. Der Mut des Parrhesiastes, etwas anderes zu sagen, “als die Mehrheit glaubt”, war Beweis für seine Aufrichtigkeit (ebd. 13f.). Das schützte ihn aber auch in der griechischen Demokratie nicht vor der tödlichen Verbannung oder dem Schierlingsbecher. Die Mehrheitsmeinung galt mehr als Wahrheit, und die Mehrheit ist, wie der Tyrann oder der Lehrer in der Schule (das sind Foucaults Beispiele), zur Parrhesia gar nicht fähig – weil sie in der Demokratie die Macht hat und folglich gar nicht gefährdet sein kann. Am vermeidbaren Risiko bei diesem “Spiel von Leben und Tod” erkannten die Griechen den Wahrsprecher (ebd. 15).
Wahrheit wurde also in sozialer Gemeinschaft aktiv praktiziert, nicht im stillen Kämmerlein entdeckt, erkannt oder gar nur passiv konsumiert. Durch bestimmte Techniken und Praktiken wurde sie auf der Agora aktiv vollzogen (ebd. 24). Die Wahrheit der Griechen war kein Besitz von toten Wissensbeständen, sondern ein performativer Akt der bewussten Weltgestaltung. Notwendig ist es für unsere Gegenwart, in der wir nach Descartes leben und auch nach einer langen philosophischen Tradition der Auseinandersetzung mit Rationalismus und Vernunftglauben, die mutige Aktion mit rationalem und wissenschaftlichem Zweifel zu verbinden. Wer aber nur zweifelt, nicht aktiv handelt und sich nicht äußert, der partizipiert, diesem altgriechischen Konzept zufolge, nicht an der Wahrheit.
Parrhesia und Macht
Aus dem Konzept der Parrhesia in den altgriechischen Quellen entwickelt Foucault einen politischen Leitfaden für die Demokratie, eine ethische Haltung des Bürgers und eine Form “der Sorge um sich selbst” (ebd. 22-24). Zuerst untersucht er die Tragödien des Euripides, die dieser in der attischen Demokratie im 5. Jh. vor Christus schrieb, bis er im Jahre 407 v. Chr. starb: Dort galt Parrhesia als Recht des freien Bürgers. Sklaven, Fremden und Verbannten wurde dieses Recht der freien Rede nicht gewährt. Für die Gegenwart kann man die umgekehrte Schlussfolgerung daraus ableiten: Wenn die Mächtigen es bewerkstelligen, einen provokanten Wahrsprecher – wie und wodurch auch immer – zu einem Sklaven, Fremden, Verbannten zu machen, dann nehmen sie ihm die Möglichkeit der freien Rede. Und weil die freie Rede selbst eine Macht ist, macht man ihn dadurch noch mehr zum Sklaven.
Versklavung durch Beschämung
Die Methode der Versklavung läuft über Beschämung und Ausgrenzung. In der Analyse der Tragödie Hippolytos zeigt Foucault (ebd. 28f.): Das Bürgerrecht genügte nicht, um Parrhesia zu genießen. Wenn es eine Schande in der Familie gab, bspw. einen Ehebruch, für den man sich zu schämen hatte, dann genoss man das Recht der freien Rede nicht mehr. Wie man heutzutage beschämende Zugehörigkeiten konstruiert, das wurde in einem Video von “Studenten stehen auf” prägnant und parrhesiastisch formuliert: “Diejenigen mit anderer Meinung haben nicht recht. Die sollten sich schämen, dass sie eine Meinung vertreten, die auch andere vertreten, die auch nicht recht haben”. Medien und Politik kreieren für die Wahrsprecher im übertragenen Sinne eine Familie, eine Verwandtschaft und Nähe, für die diese sich zu schämen haben, so dass sie das Recht nicht mehr für sich beanspruchen können.
Scham der Medien
Die Scham spielt allerdings bei Euripides noch eine andere Rolle. In der Tragödie Ion wird der Umzug der Wahrheit vom Orakel des Gottes Apollon hin zur Agora nachvollzogen. Ursprünglich war Apollon das griechische Wahrheitsmedium. Doch er war auch der Verführer aller schönen Frauen: Ion ist sein Sohn und weiß es nicht. Die Mutter ihrerseits weiß nicht mehr, wo sich ihr Sohn aufhält. Die Suche nach ihm treibt sie zum Wahrheitsorakel. Da schämt sich Apollon für seine Taten so sehr, dass er sich nicht traut, die Wahrheit zu sagen. Denn bei den Griechen galt die manipulative Verführung durch Sprache, Medien, gefälschte Bilder, falsche Versprechen … im Vergleich zur körperlichen Überwältigung als die schlimmere Form der Gewalt (ebd. 38f.). Der Verführer Apollon, der die Frauen durch sein blendendes Auftreten zum Einverständnis bewog, hatte also damals allen Grund, sich zu schämen. Aus dieser Scham des einstmals respektablen Wahrheitsmediums entsteht im Stück des Euripides eine ganze tragische Welt aus Lüge und Täuschung (ebd. 47). Die Rolle unserer Wahrheitsmedien heute ist damit gut beschrieben. Sie werden, wie die meisten Politiker und Politikberater, keine Fehler zugeben. Wie das delphische Orakel des Apollon werden sie aus Scham und Verdrängung weiter schweigen. Folglich ziehen Wahrheit und Parrhesia gerade um in eine andere Öffentlichkeit.
Vertreibung der Wahrsprecher
Allerdings erleben viele Menschen die Mediengewalt im Wechselbad von Drohkulisse und Heilsversprechen emotional, intellektuell und handwerklich schutzlos. Viele sind Opfer und schämen sich bestimmt. Sie geben daher ihre Scham weiter an die Menschen, von denen sie glauben, dass diese sich gut eignen dafür: an die Wahrsprecher auf den neuen Foren der kritischen Öffentlichkeit. “Glauben sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen” – mit dieser preisgekrönten Kanzlerinnenrede wurde schon am Beginn der COVID-Epidemie der Weg geschaffen für die systematische Vertreibung der kritischen Wahrsprecher aus den traditionellen Medien.
Anhand des Ion zeigt Foucault außerdem: Auch ehrenhafte Bürger durften vom Bürgerrecht der freien Rede keinen Gebrauch machen, wenn sie Fremde waren, wenn sie bspw. (wie der vom Schicksal geschlagene Ion) eine Mutter aus einem anderen Land hatten. Umgekehrt heißt das: Schaffen es die Mächtigen, einen Wahrsprecher auszugrenzen, ihm den Zutritt zu verwehren, ihn als fremd zu brandmarken, dann gilt er als Außenseiter und dann muss man ihn nicht mehr ernst nehmen. Wer – durch 2G beispielsweise – einmal draußen ist, der hat sein Recht auf freie Rede verwirkt. Er mag es sich anderswo zurückholen, vielleicht auf dem Mond.
Foucault versteht in seiner Analyse von Parrhesia, ganz nach dem griechischen Beispiel, die Demokratie als Mehrheitsherrschaft. Sein Vertrauen in Demokratie ist dementsprechend gering, jedenfalls in diesem Text. In dessen weiterem Verlauf wendet er sich deshalb, analog auch zur Abfolge der griechischen Geschichte, den Möglichkeiten des Wahrsprechens in Monarchie und Tyrannei zu, und außerdem der Frage, wie man sich als Wahrsprecher um sich selbst sorgt. Das ist der schwierigere Teil von Parrhesia; damit beschäftigt sich Teil II.
Foucault, Michel (1996): Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia (Berkeley-Vorlesungen 1983). Hgg. von Joseph Pearson. Aus dem Englischen übersetzt von Mira Köller. Berlin (Merve Verlag).