Nackt im Lockdown
Oder: Wie sich Demokraten (innen und außen) in Klausur begeben

von Katja Leyhausen 

Lesedauer 4 Minuten
J. Salomonson beim Ackerbau auf dem Monte Verità (1907)

Der Zeitgeschmack will es so: Liberales Miteinander zeigt sich am gemeinsamen Essen und Genuss. Wenn Grundrechte-Aktivisten zusammenkommen, dann stehen fette Fleischteller voller Wiener Würstchen, Schweinebäckchen und Schäufele direkt neben opulenten Tofu-Bowls, prallen Kürbisravioli und herzhaften Sellerieschnitzeln auf dem Tisch. Dann werden zur Nacht komfortable Zimmer bewohnt und, zum gleichen Preis für alle, auch Unbequemlichkeiten. Dann verzichten die einen aufs eigene Bad, weil nur den anderen eins zur Verfügung gestellt werden kann. Erinnert man sich am nächsten Morgen daran, dass einem nächtens, auf dem Weg zum Teil-Bad, ein notorischer Nudist begegnet ist, hält man das für einen libertären Traum. Fast wie im Lockdown.

An einem verschneiten Januar-Wochenende begab sich die magische Zahl von 17 Personen an einem fabelhaften Ort einer wenig bekannten Weltregion in Klausur. Sie wollten die politische Arbeit für den Erhalt der Grundrechte konzeptionell und mit praktischer Planung voranbringen. Nichts schwieriger als das, denn die Zeiten sind unübersichtlich. Sie sollen es wohl auch sein. Die Fleischteller und die reinen Mehlspeisen ohne Insektenzusatz, die Nudisten, Genießer und Unbequemen sollen abgeräumt werden. Ihre Eigenart und Vielfalt stört den Kampf gegen den einen, weltumspannenden Feind – welcher auch immer gerade in den Hauptnachrichten lauthals beworben wird: gegen ein Atemwegsvirus (unter vielen), einen Autokraten (unter vielen), eine Klima- bzw. Umweltschädigung (unter vielen) …  

Obwohl sie sich doch schon seit fast zwei Jahren gemeinsam für die Grundrechte engagieren, rieben sich ehemalige Grünen-Wähler, ehemalige AfD- und SPD-Mitglieder, aktive FDP-Politiker und freie Links-Aktivisten immer noch die Augen, dass sie so angeregt und unideologisch diskutieren, so effektiv planen und so lustig miteinander sein konnten. 

Klausur statt Lockdown

Die Ergebnisse der politischen Arbeit sollen hier nicht vorweggenommen werden. Die politische Aktion muss sich manifestieren. Doch ein Traum soll festgehalten werden: der Traum von Eisschollen auf einem See mit Schneemützchen und einer Wortschatzanalyse über Hass und Hetze beim Spaziergang im schneeverschneiten Wald. 

Ein Korpuslinguist hatte das Stichwort gegeben bzw. ein Fachvertreter der Energiewirtschaft, der sich unter dem allgegenwärtigen sprachpolizeilichen Druck für die Sprachwissenschaft zu interessieren begonnen hat. Er empfahl das Buch des Korpuslinguisten, was die Schneewanderer zu fragen anregte: 

Was sind die synonymen, gleichbedeutenden Wortverwandten von Hass und Hetze, Hassrede und Hate-Speech? Wie werden sie alle im öffentlichen Diskurs gebraucht? Welche Fragen verfolgt man mit dieser wissenschaftlichen Frage? Was weiß man, wenn einem ein Korpuslinguist erklärt, diese Substantive kämen in den Laut-Medien meistens gemeinsam mit dem Attribut rechts oder rechtsextrem vor und hätten sich so zum festen Stereotyp der rechten Hetze verbunden? Was bedeutet es, wenn er meint, mit all diesen Beobachtungen das Framing der Linken erkannt zu haben? Weiß er jetzt, dass die Linken ihre politischen Gegner (mit Stereotypen) framen, oder aber umgekehrt, dass die Linken von ihren Gegnern (mit Stereotypen) geframt werden? Wer bedrängt hier wen mit Sprache und Sprachwissenschaft? Und wer bitte kümmert sich um die Nudisten, die Carnivoren und all die anderen bösen Grenzübertritte? 

Linguistische Gesellschaftsanalyse im Schnee

Wo Norm- und Grenzübertritte analysiert werden sollen, da kommt es auf die Gegensatzwörter an. Wie lautet also das Gegenteil von Hass und Hetze? Ist es Toleranz? Was bedeutet Toleranz? Ist das ein passiver Gemütszustand oder ein aktives Handeln? Ist das Gegenteil von Toleranz und Dulden vielleicht eher das aktive, polizeiliche Verbot? Was besagt das alles über den Gebrauch von Hass und Hetze? Wer hasst wen und wen aktiv?

Zwischen den Füßen knirschte der Schnee, bis jemand mit Spezialisierung in so etwas wie vergleichender Veterinär-Anthropologie aus dem Hintergrund antwortete: Es ist doch nichts leichter als das! Das Gegenteil von Hass heißt Liebe! Aber warum gibt es zu Hate-Speech kein Love-Speech? Warum ist das Wort Hass im öffentlichen Raum so präsent und das Wort Liebe praktisch nicht? 

Beim gemütlichen Leseabend im klassizistischen Bibliothekszimmer trat die absurde Literatur des untergegangenen Kommunismus in Polen in die Erscheinung. Dazu die ernsthafte Frage, wie viele Mäuse es im Gebälk eines Gemeinschaftsgebäudes braucht, um die Logik sozialwissenschaftlichen Denkens außer Kraft zu setzen. Am Exempel englischer Weltliteratur wurde illustriert, dass das Ungestüm des Tieres namens Tiger für viele Tiere gut ist und Tiger sich sowieso nicht zu Kaninchen umerziehen lässt. Auch die jüngere Frankfurter Literaturgeschichte kam zu Wort. Sie sprach über einen straffälligen Romancier der 1960er Jahre, welcher die Frankfurter Strafrechtsprofessoren noch Jahrzehnte später in Aufregung versetzte: Der Delinquent hatte in seiner Gefängniszelle, mit eingeschmuggeltem Bleistiftstummel und auf Klopapier, einen Bestseller geschrieben – leider nicht über Verbrecher und den Justizapparat mit seinen wichtigen Professoren, sondern über das soziale Problem, wie man in Deutschland zum Verbrecher wird.

Ein freundliches Menschenbild als Grundlage politischen Denkens  

Der Weg zu Antworten auf die sozialen und politischen Fragen unserer Zeit ist verzwickt. Da kann einem das Lesen, Laufen und Nachdenken schon einmal schwer werden. Im Traum am See nahm deshalb ein junger Mann eine junge Frau auf seine Schultern. Er trug sie, und sie ließ sich tragen. Großzügig waren sie beide, so verständigten sie sich über Wort und Bedeutung von Liebe. Vielleicht wollen auch die weltumspannenden Propagandisten von Feindes- und Hassrede einmal jemanden ein Stück tragen oder von jemandem getragen werden? Vielleicht wollen sie ja geliebt werden? Wer überall nach Hatern sucht, der sucht vielleicht nach Liebe? 

Theorie und Praxis, Literatur und Leben, Traum und Wirklichkeit liegen eng beieinander. Das gilt erst recht für die individuelle Entfaltung in Sprache, Essen, Handeln und die bei alldem gelebte Verantwortung für andere: Libertärer Egoismus ist kein Synomym zu individuellem Glück, und dieses kein Gegenteil von verantwortungsvollem Miteinander. Wer sich für ein freundliches Menschenbild und freundliche Grenzübertritte mit Grundrechtscharakter interessiert, der sollte mal bei 1bis19 vorbeischauen. 

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