Mit der Zahnradbahn ins App-Paradies

eine Glosse von Martina Binnig

Lesedauer 3 Minuten

1bis19 - Mit der Zahnradbahn ins App-Paradies
Vortrieb

Доверяй, но проверяй – Vertraue, aber prüfe nach!, wusste schon einst Lenin. Weshalb die wichtigste Konsequenz aus der großen Pandemie heute sein muss: Nur ein bedingungsloses Health&Care-Controlling kann den Menschen künftig gesund und leistungsfähig erhalten.

Ich stehe an der U-Bahn-Haltestelle im Kölner Hauptbahnhof. Mein Blick fällt unwillkürlich auf die digitale Werbetafel hinter den Gleisen, die mit ihrer ständigen Abfolge von Schlagzeilen, Filmen und Slogans um Aufmerksamkeit heischt. Ich kann mich den Bewegtbildern nicht länger entziehen und schaue wie hypnotisiert hin. Gerade flackert eine Werbung für eine App über den Bildschirm, mit deren Hilfe kontrolliert werden kann, ob ich genug trinke.

Da fährt zum Glück meine Bahn ein. Ich steige ein, setze mich hin und dämmere ‒ müde von einem langen Arbeitstag ‒ sofort weg. Plötzlich dröhnt mir eine Lautsprecherstimme in den Ohren: „Achtung! Sie haben heute noch nicht genug getrunken! Sorgen Sie in den nächsten 15 Minuten unbedingt für eine Flüssigkeitszufuhr von 25 Millilitern!“

Ich zucke zusammen, denn ich sitze in einer Einzelkabine in der Zahnradbahn, die mittlerweile das einzige Fortbewegungsmittel in der Stadt geworden ist. Ich kann nicht mehr aussteigen, und die nächste Haltestelle wird erst in 20 Minuten erreicht sein. Ich werde nervös: Die Nicht-Erfüllung der App-Aufforderung wird dazu führen, dass mir weitere Punkte von meinem digitalen Universalkonto abgezogen werden. Dabei wollte ich nächste Woche ein Konzert besuchen, in dem historische Kammermusik aus dem vergangenen Jahrhundert auf dem Programm steht. Wie gerne würde ich einmal eine Violine und ein Violoncello hören! Außerdem ist es das einzige Konzert, das mir in diesem Jahr zusteht. Nun wird mein Punktestand dafür wohl nicht mehr reichen.

Immerhin ist meine Impfstatus-App auf aktuellem Stand. Vielleicht bekomme ich dafür noch ein paar Bonus-Punkte gutgeschrieben. Meine Smartwatch, die fest mit meinem Handgelenk verbunden ist, blinkt auf und reißt mich aus den Gedanken: „Achtung! Ihre Konto-App wurde gesperrt! Mögliche Gründe dafür werden ermittelt.“

Ich seufze tief und dennoch laut- und regungslos auf, damit mich die Überwachungskamera und das Mikrofon, die in jeder Kabine installiert sind, nicht als verdächtig abspeichern. Heute müsste ich mein Zahnradbahn-Abo verlängern, was ohne Konto-App jedoch nicht funktionieren wird. Schnell versuche ich, mein Ticket noch zu lösen, und hoffe auf eine leichte Zeitverzögerung zwischen Warn-App und Konto-App. Doch zu spät: Der Ticketkauf ist schon blockiert. Aus welchem Grund nur wird meine Konto-App gesperrt worden sein? Könnte dafür vielleicht schon ausschlaggebend sein, dass ich zu wenig getrunken habe?

Meine Smartwatch blinkt und vibriert erneut: „Achtung! Sie haben heute noch zu wenig uriniert!“, wird mir mitgeteilt. Auch das noch! Da ich eh schon zu wenig getrunken habe, wird es mir nicht möglich sein, die geforderte Menge in der geforderten Zeit abzusondern. Schon mal gar nicht hier in der Zahnradbahn. Mein Konzertbesuch rückt in immer weitere Ferne.

Ob ich zur Strafe nun nie wieder ein Konzert besuchen darf?, schießt es mir durch den Kopf. Diesmal schrillt meine Smartwatch in den höchsten Tönen, denn die Blutdruck-App meldet sich aufgeregt: „Achtung, Ihr Blutdruck ist zu hoch! Entspannen Sie sich augenblicklich!“

Ich mache vor Schreck die Augen auf und erkenne meine Ziel-Haltestelle. Gerade noch rechtzeitig steige ich aus. Dabei fällt mein Blick auf einen Bildschirm, auf dem Werbung für eine App flackert, mit deren Hilfe kontrolliert werden kann, ob ich genug trinke…

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