Mit dem Pokerzug in die Schweiz

von Martina Binnig

Lesedauer 4 Minuten

Mit dem Pokerzug in die Schweiz
Gute Karten bei der Deutschen Bahn?

Während Bahnreisende in der Schweiz mit „geschätzte Fahrgäste“ angesprochen werden, enden Züge in Deutschland mitunter kommentarlos ein paar Haltestellen eher, damit die Verspätungsstatistiken entlastet werden. Denn merke: Ein Zug, der nie ankommt, fließt erst gar nicht in die Statistik mit ein. Nach der Logik der Bahn eine klare Sache: Was nicht ist, kann nicht zu spät sein. Der Reisende indes schaut in die Röhre.

Wer Pokern reizvoll findet, ist bei der Bahn bestens aufgehoben. Jede Buchung einer Fahrkarte kann nämlich zur sportlichen Herausforderung werden, denn die Frage ist: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Zug, für den ich eine Karte und gar eine Sitzplatz-Reservierung buche, überhaupt fährt, und – wenn ja – einigermaßen pünktlich ankommt?

Ich möchte von Köln nach Basel fahren. Am günstigsten ist neben dem 9 Euro-Ticket, das für nicht masochistisch veranlagte Reisende allerdings keine Option ist, ein Super-Sparpreis für einen IC. Oder natürlich das Einlösen von 1000 Prämienpunkten in eine Freifahrt. Etwa zeitgleich starten ein ICE und ein IC von Köln nach Basel. Jetzt pokere ich: Die Wahrscheinlichkeit, dass der IC entfällt oder eine große Verspätung anhäuft, ist nach empirischen Beobachtungen der letzten Zeit als sehr hoch einzustufen. Auch der ICE könnte natürlich vom Ausfall betroffen sein, jedoch mit geringerer Wahrscheinlichkeit. Da ich unbedingt vor einer bestimmten Uhrzeit in Basel ankommen muss, buche ich neben einer Karte für den IC zum günstigen Supersparpreis sicherheitshalber noch eine Freikarte für den ICE mit meinen Prämienpunkten.

Am Abfahrtstag ist die Spannung groß. Ha! Tatsächlich fällt der IC aus, und ich nutze die Freikarte für den ICE. Die Fahrtkosten für den IC werden mir wegen Ausfalls erstattet. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Züge pünktlich fahren, ist als derart niedrig anzusetzen, dass sich das Spiel mit dem doppelten Kartenkauf durchaus gelohnt hat. So bin ich auf der sicheren Seite und tiefenentspannt.

Deutsches Kläffen zur Maskenpflicht

In der Schweiz dann das Eldorado: Die Züge fahren dicht getaktet und pünktlich. Falls doch einmal vier Minuten Verspätung anfallen, erklingt aus dem Lautsprecher eine höfliche Entschuldigung bei den „geschätzten Fahrgästen“. Gekläffe zur Maskenpflicht dagegen ist nicht zu hören, denn es besteht keine Maskenpflicht mehr im Zug. Bahnfahren kann also tatsächlich noch Spaß machen! Ich reise eine Woche lang zwischen St. Gallen und Genf und verzeichne kein einziges negatives Bahnerlebnis.

Anders auf dem Rückweg. Hier entfällt der deutsche ICE von Zürich gleich wieder, doch es gibt einen Schweizer Ersatzzug von Zürich nach Basel. In Basel kann dann in den gebuchten ICE umgestiegen werden. Ein Insider erzählt mir, dass dieser Zug, der offiziell in Zürich starten sollte, dort schon seit Wochen nicht mehr gesichtet wurde, sondern stets erst in Basel beginnt. Wegen der Verspätungen. Im ICE dann als erstes die Ansage, dass ab Basel Badischer Bahnhof Maskenpflicht bestehe. Zwar sitze ich mit denselben Menschen im Zug, mit denen ich bis Basel ohne Maske gefahren bin, doch das spielt keine Rolle. Immerhin: Die Kontrolle der Maskenpflicht funktioniert einwandfrei in der deutschen Bahn. Man muss halt Prioritäten setzen. Schnöde Pünktlichkeit ist dagegen doch vernachlässigbar.

Sogar mein nächster Umstieg in Mannheim klappt einigermaßen fahrplangemäß. Hier habe ich eindeutig mehr Glück als etliche Mitreisende, und so komme ich spätabends tatsächlich in Köln an. In der Straßenbahn vom Hauptbahnhof zum Heumarkt geraten ein paar junge Männer, die sich gegenseitig „Bruder“ nennen, aneinander, und ich halte mich wohlweislich fern. Am Heumarkt läuft dann einer plötzlich davon und wird von den anderen verfolgt. Dabei macht es mehrfach „Klick“, und ich sehe, dass mindestens zwei nun ein Klappmesser in der Hand halten, das etwa die Länge eines Standard-Lineals hat. Interessant, was diese jungen Männer, die sich auf Schritt und Tritt mit „Bruder“ ansprechen, unter ihren T-Shirts verborgen halten können. Die Anschlussbahn fällt aus. Zeit genug, alle zwei Minuten von bemitleidenswert heruntergekommenen Gestalten angebettelt zu werden. Eindeutig: Die Kölner Heimat hat mich wieder.

Wer will auch schon unbedingt nach Wesel?

Wenige Tage später muss ich beruflich nach Wesel fahren. Mit dem Nahverkehrszug. Notgedrungen. Die Fahrt beginnt mit nur fünf Minuten Verspätung, und ich fühle mich schon fast wie in der Schweiz. Allerdings nicht allzu lange. Denn hinter Leverkusen werden zwei Überholungen durch den Fernverkehr angekündigt, die nach einiger Zeit auch erfolgen. Erst 1, dann 2, dann 3, dann 4… Dann meldet sich der Zugchef hörbar genervt und drückt seine Hoffnung aus, dass nach der fünften Überholung vielleicht auch unser Zug wieder weiter fahren dürfe. Darf er. Allerdings hat er nun 30 Minuten Verspätung. Was soll´s, denke ich mir, in der irrigen Annahme, ja trotzdem noch pünktlich zu meinem Termin zu kommen, denn immerhin habe ich sicherheitshalber einen Zug früher als nötig genommen.

Ich lehne mich also entspannt zurück, um eine Minute vor Ankunft in Oberhausen-Sterkrade durch eine Lautsprecherdurchsage aufgeschreckt zu werden, dass der Zug in Oberhausen-Sterkrade enden werde, da er zu viel Verspätung habe. Sonst nichts. Wie ich jetzt nach Wesel komme, ist meine Sache. Leider habe ich einen Kontrabass bei mir, was meine Beweglichkeit einschränkt. Ich hechte dennoch durch die Unterführung zum anderen Gleis, um dann dort zu erfahren, dass der nächste Zug nach Wesel komplett entfällt. Bleibt also der übernächste Zug, der allerdings Verspätung hat. In der Schweiz würde sich das Personal in solch einer Situation sicher tausendmal bei den geschätzten Fahrgästen entschuldigen. In Deutschland: nix. Wer will auch schon unbedingt nach Wesel? Selbst Schuld.

Immerhin regt mich diese kreative Zerstörung des Vertrauens in die Bahn seitens der Bahn dazu an, mich zu fragen, ob ich mir ihr Prinzip nicht einfach ebenfalls zu eigen machen könnte: Wenn es Statistiken schönt, Züge gar nicht statt zu spät ankommen zu lassen (https://www.n-tv.de/wirtschaft/Zugausfaelle-tauchen-nicht-in-Statistik-auf-article20421667.html), könnte ich in Zukunft, falls ich mal irgendwo mit Verspätung ankommen würde, lieber gar nicht erscheinen, um dann voller Stolz zu verkünden, dass ich noch niemals nie irgendwo zu spät gekommen sei. Ich fürchte nur, dass dieses Bahn-Prinzip in meinem eigenen Umfeld eher nicht funktionieren würde, sondern mir nur einen zweifelhaften Ruf einbringen würde.

Aber im Ernst: Gibt es irgendwelche Stellenangebote aus der Schweiz? Nähe Genfer See wäre schön. Nur bitte nicht aus Cologny, denn da wohnt jemand, dem ich lieber nicht über den Weg laufen möchte, weil er Dinge sagt wie: „Eine kreative Zerstörung, wie wir sie nun erleben, schafft immer neue Jobs. Es braucht zum Beispiel Roboter-Polierer und Drohnen-Dispatcher.“ (https://www.blick.ch/wirtschaft/wef-gruender-klaus-schwab-ueber-die-vierte-industrielle-revolution-in-der-schweiz-fallen-200000-buerojobs-weg-id4538228.html) Andererseits: War es nicht schon immer mein Traum, Roboter-Polierer:in zu werden?

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