Maßnahmen als Gewinn? Oder, wer Maske trägt gehört dazu!

Ein Gast-Kommentar von Friedrich Pürner
Dr. Friedrich Pürner ist Facharzt und Epidemiologe. Bis November 2020 war er Chef des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg bei Augsburg, in Bayern. Nachdem er die Corona-Maßnahmen kritisiert hat, wurde er ins Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit Oberschleißheim strafversetzt, sagt er.

Lesedauer 4 Minuten

Wir Ärzte lernen im Studium irgendwann die Bedeutung des Krankheitsgewinns. Als Krankheitsgewinn werden die objektiven und/oder subjektiven Vorteile eines Patienten gesehen, die dieser aus seiner Erkrankung bzw. seiner Diagnose zieht. So kann der Patient in der Rolle des Kranken von vielen seiner Alltagspflichten entbunden werden. Er erfährt eventuell mehr Mitleid und Mitgefühl, und er könnte auch von seinem Umfeld schonender und zuvorkommender behandelt werden.

Nicht bei allen Kranken zeigt sich dieses Phänomen. Aber es ist uns Ärzten bekannt, und wir haben es im Hinterkopf. Nur, wie komme ich darauf? Ich mache mir Gedanken, und zwar über die Gesellschaft und diejenigen, die mit aller Vehemenz die derzeitige Corona-Strategie befürworten und verteidigen, selbst mit unglaublichen Argumenten. Ein Video brachte mich dazu, genauer über dieses Thema nachzudenken.

Infektionsherd Rodelberg

In traumhafter Winterkulisse an einem schneebedeckten Rodelberg rutschen kreischende Kinder mit ihren Freunden und Eltern den Rodelhang hinab und haben sichtlich Spaß dabei. Sofort kamen mir Erinnerungen an die Zeiten, als ich mit meinen Kindern an diesen schönen Tagen beim Rodeln war und wir danach im Warmen eine heiße Schokolade tranken. Aus dieser Erinnerung wurde ich jäh herausgerissen, als im Video plötzlich zwei Männer des Ordnungsamtes losstürmten und nach einem kurzen Sprint bergauf einen Mann stellten, der vermeintlich ohne Maske den Berg hinaufging. Für diese Tat wurde der Maskenlose mit einer Anzeige wegen Ordnungswidrigkeiten belegt. Natürlich hatten die beiden Ordnungshüter selbst beim Laufen eine Maske auf. Schnaufend erklärten sie dem Täter sein Vergehen und die Folge daraus.
Man könnte nun denken, diese Szene sei ein Scherz. Leider nein. Diese Sequenz war ein Ausschnitt aus einer Reportage des NDR mit dem Titel „Corona-Winter: Der Harz im Lockdown“.

Was ist mit uns passiert? Wie groß ist die tatsächliche Infektionsgefahr im Freien, auch ohne Maske? Eine Infektionsgefahr ist dort praktisch nicht vorhanden. Wann hat das logische Denken ausgesetzt? Wenn das nun unsere neue Realität ist, dann werden wir nie wieder ohne Maske unterwegs sein. Denn wo sollte es infektionstechnisch ungefährlicher sein als im Freien und ohne unmittelbaren Kontakt zu anderen? Was machen wir in den nächsten Wintermonaten? Oder auch im Sommer? Brauchen wir bei über 30 Grad am See auch eine Maskenpflicht?

Solidarität ist keine Einbahnstraße

Ich frage mich ernsthaft, warum es immer noch Menschen gibt, die Maßnahmen wie diese verteidigen. Als ich den Videoausschnitt auf Twitter postete, zeigten viele Unverständnis für diese Regelung. Es fanden sich aber auch Kommentare, in denen diese Regelung – Maskenpflicht im Freien an einem Rodelberg –, gutgeheißen wurde. Ich überlegte, welche Menschen so denken könnten. Dass sie nur aus reiner Solidarität und zum Wohle der Schutzbedürftigen diese Haltung haben, mochte und konnte ich an dieser Stelle nicht mehr glauben. Denn Solidarität und Schutz ist keine Einbahnstraße. Wer das Wohl des Menschen im Herzen trägt, der müsste, wenn er Kinder mit Maske am Rodelberg sieht, weinen und dagegen klagen. Denn aus infektiologischer Sicht sind Masken im Freien fachlicher Unsinn.

Und plötzlich landete ich wieder beim eingangs erwähnten Krankheitsgewinn. Wobei nicht alle Maßnahmen-Befürworter aus diesem Grund handeln dürften. Vielleicht sind unter ihnen auch zum Teil Risikopatienten, die Angst haben, zu erkranken. Ja, das wäre eine mögliche Erklärung und bis zu einem gewissen Grad verständlich und nachvollziehbar. Aber was, wenn mancher Befürworter einen objektiven und/oder subjektiven Gewinn aus dieser aktuellen Situation hätte? Wie könnte dieser Gewinn aussehen?

Der Wunsch, ein Held zu sein?

Vielleicht fühlen sich manche Befürworter plötzlich wichtig und innerhalb einer Solidargemeinschaft aufgenommen und zugehörig, ähnlich wie bei einer Sportveranstaltung, auf der man gemeinsam ein Team anfeuert und den Sieg anschließend gemeinsam feiert. Endlich gehört man dazu, endlich gewinnt man zusammen – und ist somit Teil einer Gruppe.

Vielleicht liegt es daran, dass man plötzlich eine Heldenrolle spielen kann. Die Bundesregierung macht es mit ihrem Werbespot vor: Wer zu Hause bleibt, ist ein Held. Noch nie war es so einfach, Leben zu retten. Und wer möchte nicht mal Held sein, vor allem so einfach und ohne viel Zutun. Gemütlich auf der Couch sitzen, Chips essen, Netflix schauen und dabei nebenbei die Pandemie bekämpfen, das Virus auslöschen und besiegen, wie es uns viele Politiker vorsagen. Das Problem dabei: Ein Virus lässt sich nicht töten. Aber man kann lernen damit zu leben.

Vielleicht haben aber manche Befürworter einen noch viel größeren Gewinn, als mir überhaupt klar ist. Dabei denke ich beispielsweise an diejenigen, die endlich im Home-Office arbeiten dürfen, und meine dabei ausdrücklich nicht die Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern, die neben Home-Office und Home-Schooling, auch noch House-Keeping and Husband-Sitting leisten muss.

Vielmehr denke ich an diejenigen, die täglich zur Arbeit pendeln müssen, über viele Stunden unterwegs sind, nur um im Büro die gleiche Tätigkeit zu verrichten, die sie nun gut auch von zu Hause aus machen können. Ich denke aber auch an die ängstlichen Menschen, die Jahr für Jahr Erkältung, Grippe und andere infektiöse Erkrankungen fürchten. Für sie ist es vielleicht ein Segen, endlich ohne komisch angesehen zu werden, auf Abstand gehen zu können, Maske zu tragen und alle anderen hygienischen Vorschriften zu erfüllen.

Übertriebene Angst oder doch Mitläufer

Vielleicht gibt es doch mehr Menschen mit der Tendenz zur Hypochondrie, als ich dachte. Mitbürger, die selten Sport machten, wenig in Gesellschaft und nicht gern im Freien waren, große Parties und Veranstaltungen vermieden. Sie könnten es momentan leichter als vor Corona haben. Nun müssen sie sich nicht mehr rechtfertigen, warum sie dieses oder jenes nicht machen. Noch gibt ihnen die Mehrheit in unserem Land Recht. Noch erfahren sie Unterstützung durch die Politik. Denn wer anderer Meinung ist, der denkt quer, leugnet oder wertschätzt Menschenleben nicht. Diese Haltung leben aktuell viele Politiker vor, was meines Erachtens unverzeihlich ist.

Vielleicht aber wollen und haben die Maßnahmen-Befürworter gar keine subjektiven und/oder objektiven Vorteile aus den Maßnahmen. Vielleicht sind diese Menschen einfach nur Mitläufer.

Ich weiß nicht, was ich schlimmer fände.

Teilen