Kollektives Trauma

ein Gastbeitrag von Tristan Nolting

Lesedauer 6 Minuten
1bis19 - Kollektives Trauma
 © Pills

In einem Interview der „Welt“ vom Oktober 2021 vertrat der Psychologe Alexander Bodansky die Auffassung, dass der Begriff des „kollektiven Trauma“ ein Mythos sei. Dies habe ich mir zum Anlass genommen, um darüber zu schreiben. Ich möchte den Begriff des kollektiven Traumas jedoch nicht von einem melancholischen, sondern von einem zuversichtlichen Standpunkt aus betrachten.

Das „kollektive Trauma“ als Mythos oder als inflationären Begriff zu titulieren, halte ich zunächst für einen Irrweg. Ein Trauma auf gesellschaftlicher Ebene zu betrachten, ist nicht nur notwendig, sondern auch gemäß der Theorie des kollektiven Unbewussten von C.G. Jung folgerichtig abzuleiten. Wie genau wäre ein gesellschaftliches Unbewusstes ohne gesellschaftliches Trauma vorstellbar? Wenn die Psyche eines Menschen analog zu der Psyche der Gesellschaft funktioniert – und daran ist auf systemtheoretischer Ebene nicht zu zweifeln – dann muss auch ein Trauma ein übergreifendes Phänomen sein.

Auch ließe sich nicht wirklich klären, wo denn das Trauma eines Menschen tatsächlich seinen Ausgang genommen hat. Sprich: Wo kommt Trauma eigentlich her? Soll dieses Trauma aus sich selbst heraus entstanden sein? Nein, keineswegs. Das Trauma eines Menschen ist immer auch in Verbindung zu anderen Menschen zu sehen. Die Gesamtheit aller Traumata von Menschen in der Gesellschaft fasse ich damit als kollektives Trauma auf. Je stärker das kollektive Trauma ist, desto mehr wird auch der einzelne Mensch in Mitleidenschaft gezogen. Wir sehen es eindrücklich auch an gesellschaftlichen Ausnahmezuständen.

Eine Naturkatastrophe geschieht und Menschen auf der ganzen Welt fühlen sich betroffen.

Die COVID-19-Pandemie wird ausgerufen und die Belastung für ganze Gesellschaften ist immens.

Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft

Wird das Trauma nicht erkannt, kann es sich weiter verbreiten und andere Menschen anstecken. Fast wie ein Virus. Der Psychologie ist inzwischen nur allzu gut bekannt, dass Emotionen wie Angst oder Trauer ansteckend sein können. Es ist letztlich wie in einem Teufelskreis: Wird den Opfern nicht der notwendige Raum geboten, in dem das Trauma heilen kann, wird es weitergetragen. Sei es durch Hass, Gewalt, Missgunst, Neid oder sonstige Gedanken, Einstellungen und Handlungen.

Entscheidend ist für mich auch die Haltung zum kollektiven Trauma. Bisher konnte ich vier verschiedene Positionen dazu analysieren. Ich werde auch noch erklären, welche Position ich für sinnvoll halte.

Das kollektive Trauma wird negiert. Damit geht auch einher, dass die Sorgen und Ängste der Menschen auf höherer Ebene nicht gesehen werden. Gemeinsamkeiten sorgen dafür, dass Menschen sich nicht so alleine fühlen. Und dazu zählen eben auch negative Gemeinsamkeiten wie Traumata. Die Negation eines übergeordneten Zusammenhangs erzeugt in gewissem Maße somit Einsamkeit und verschlimmert das Erleben des einzelnen Menschen. Die Negation schließt dabei auch eine agnostische bzw. skeptische Position wie „das lässt sich nicht beweisen“ ein. Diese erste Position dürfte mit dem Skeptizismus übereinstimmen. Das kollektive Trauma wird ignoriert. Mit Ignoranz ist gemeint, dass der Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft in Bezug auf ein Trauma als irrelevant angesehen wird. Selbst wenn es ein kollektives Trauma gäbe, so wäre es nicht mehr als die Summe der einzelnen individuellen Traumata. Die gegenseitige Beeinflussung wird ausgeklammert oder als (noch) nicht empirisch eingestuft. Die Betrachtung von Trauma bleibt also auf der untersten bekannten Stufe stehen, indem neue Erkenntnisse verwehrt werden. Diese Position dürfte der rationalen Wissenschaft entsprechen.

Das kollektive Trauma wird bejaht. In diesem Fall wird von einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft ausgegangen, insbesondere auf unbewusster Ebene. Die Mechanismen des Individuums und der Gesellschaft wirken somit analog. Kommt es zu gesellschaftlichen Veränderungen, so wird sich auch das Individuum wandeln. Soziale, ökonomische oder ökologische Krisen haben nicht nur eine individuelle Auswirkung, sondern auch eine kollektive. Gleichzeitig kann das Trauma kollektiv noch verstärkt werden. Pionierarbeit in der Erklärung dieser Zusammenhänge hat der Philosoph Ken Wilber mit seinem Quadranten-Modell geleistet. Diese Position entspricht der analytischen Psychologie und Traumaforschung.

Leid ist kein Einzelfall

Das kollektive Trauma wird integriert. Die Erkenntnisse der analytischen Psychologie (insbesondere die Theorie der Archetypen und des kollektiven Unbewussten) und der Traumaforschung kommen in Prävention und Therapie praktisch zum Einsatz. In Krisen kommt es vermehrt zum Bewusstsein, dass alle Aspekte des menschlichen Erlebens gleichsam berücksichtigt werden müssen. Das kollektive Geschehen wird als Spiegel inneren Erlebens angesehen und im Individuum zum Ausdruck gebracht. Insbesondere die Psychotherapie stärkt im Sinne der Psychosomatik das Individuum in der Akzeptanz der Krise und in der Bereitschaft, etwas Konstruktives zum individuellen und kollektiven Trauma beizutragen. Das ist die Geburtsstunde des Verantwortungsbewusstseins und der Erkenntnis, dass das Individuum immer in höhere bzw. übergreifende Sphären eingebunden ist. Diese Position dürfte am ehesten mit der transpersonalen und spirituellen Psychologie in Verbindung zu bringen zu sein.

In gewisser Weise sind diese vier Stufen auch Entwicklungsschritte, die erkannt werden, wenn das Individuum Erfahrungen mit einem Trauma macht – ob individuell oder kollektiv. Es kann enorm zum eigenen Kohärenzgefühl beitragen, zu wissen, dass alle Menschen an einem Strang ziehen. Oder zumindest, dass sie es können und wollen. Leid ist kein Einzelfall und welcher Mensch dies erkannt hat, kann etwas gegen den Schmerz tun. Nicht nur im Äußeren, sondern auch im Inneren.

Ich möchte damit nicht sagen, dass die erste Position besser ist als die vierte. Ich glaube aber, dass eine gewisse Reife notwendig ist, damit Menschen zu einer transpersonalen oder spirituellen Ansicht gelangen. Wer sich einmal an die wirklich tiefgreifenden Probleme der Menschheit herangetraut hat – und ich spreche hier nicht von der ökologischen Krise, sondern von der tiefenökologischen Krise – der wird zur selben Ansicht gelangen. Es ist fatal zu glauben, der Skeptizismus oder die rationalen Wissenschaften könnten in diesem Punkt etwas für die Menschheit bewirken. Sie kratzen eher an der Oberfläche der eigentlichen Probleme.

Was unter dieser Oberfläche liegt, ist eine Chance auf Veränderung und Verwirklichung. Diese Epoche im Erleben der Menschheit ist geprägt von Zweifeln und Leid. Doch wie auch erst in der Nacht die Sterne zu leuchten beginnen, sind nun erst die Chancen erkennbar, die uns vorher verborgen geblieben sind. Die COVID-19-Pandemie schenkt uns ein neues Bewusstsein für Gesundheit. Zumindest könnte diese Krise das. Und Gesundheit bedeutet – da wird mir hoffentlich jeder zustimmen – nicht Abhängigkeit, sondern Freiheit. Gesundheit ist die Möglichkeit, sich selbst verwirklichen zu können. Wer sich nicht selbst verwirklicht, der wird zwangsläufig krank. Ich könnte nun Argumente für diese Position anbringen wie etwa die Bedürfnispyramide nach dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, aber das brauche ich nicht. Ich glaube, die meisten Menschen spüren dies.

Das Geschenk der Gesundheit

Schau mal, wofür brauchst du deine Gesundheit, wenn nicht dafür, dass du deine Ziele und Wünsche erreichen kannst? Jeden Tag auf der Couch zu liegen und Fernsehen zu schauen, ist doch kein Leben? Das ist langweilig. Hast du denn da das Geschenk der Gesundheit verdient?

Um Gesundheit zu verdienen, musst du etwas wagen und riskieren. Wenn du dich nicht weiterentwickelst, dann bleibst du auf der Stelle stehen. Es gibt dieses Sprichwort: „Wer rastet, der rostet.“ Nicht anders ist es mit der Gesundheit. Auch das Leben bleibt nicht immer gleich, die Gesellschaft ebenso wenig. Die Welt ist im ständigen Wandel, Monotonie ist eine Sackgasse.

Dies soll nicht bedeuten, dass du dich nicht ausruhen sollst. Entspannung ist überaus wichtig und du brauchst sie mehr, als du es vielleicht glaubst! Doch wofür solltest du dich entspannen, wenn du nicht weiterkommst? Wofür solltest du eine Pause machen, wenn du deine Reise (der Heilung vom Trauma) noch gar nicht gestartet hast? Das ist es doch, was dich nicht zur Erschöpfung bringt. Du kommst einfach nie ans Limit und deshalb kommst du auch nie zur Ruhe!

Hast du dich mal gefragt weshalb du diesen Lebensstil fährst? Sicherlich zum einen, weil es dir jemand vorgelebt hat. Diese Vorstellung, dass jemand anderes dir dein Leben vorleben kann, sollte schnell aus deinem Kopf. Zum anderen aber, weil du Erinnerungen hast, die dich blockieren. Sie sind dir vielleicht jetzt gerade nicht bewusst, aber sie steuern dich und zwingen dich, Gefahren zu vermeiden und bequem zu werden.

Und wir können es auch beim Namen nennen und sagen, was es ist: Es ist dein Trauma.

Und du bist nicht der Einzige, den es betrifft. Alle Menschen haben Erinnerungen, die sie gerne loswerden würden, aber sie wissen nicht, wie. Sie wollen vergessen, können es aber nicht. „Selig sind die Dummen.“, so lautet ein Sprichwort. Aber wer einmal erfahren hat, der kann nie wieder dumm werden. Wer erfahren hat, lebt nun ewiglich in Anspannung und Angst vor seinen unschönen Erinnerungen, weil er das Trauma nie wieder sehen oder erleben möchte.

Dies gilt es zu verändern! Veränderst du dich selbst und akzeptierst du dein Trauma, dann kannst du auch anderen Menschen helfen, ihres zu überwinden! Lass dich nicht blenden, auch ich bin voller Traumata und ich habe kein Problem, darüber zu sprechen. Nur habe auch du den Mut, in deiner Kiste mit unerwünschten Erinnerungen zu kramen und versuche sie Stück für Stück mit deinem Licht zu erleuchten. Ich versuche es durch meine Bücher und Beiträge, du kannst es auf deine Weise tun.

Am Ende wirst nicht nur du dankbar sein, dass du es getan hast. Auch die anderen werden dir dankbar sein. Denn du bist der Held, der zur positiven Veränderung beigetragen hat. Du hast den metaphorischen Drachen besiegt, der dich in deinem Unterbewusstsein gequält hat. Du hast deinem Trauma die Stirn geboten und gleichzeitig dazu beigetragen, dass das kollektive Trauma weniger wird. Und jeder wird es spüren. Ohne dass du es erzählen musst.

Also, worauf wartest du? Soll das kollektive Trauma immer nur noch schlimmer werden? Möchtest du alt werden, ohne jemals gelebt zu haben? Ich weiß, dass du mehr vom Leben willst.

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