Ehrenrettung für Bullerbü: Das Unterkomplexe als lebensfeindliches Denken

von Kenneth Anders

Lesedauer 10 Minuten
Interieur (1901) von Vilhelm Hammershøi

In letzter Zeit ist oft die These zu hören, die derzeitigen Erschütterungen der Gesellschaft hingen mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters zusammen. Dieses hätte eine ähnliche Neuordnung der Gesellschaft zur Folge wie seinerzeit die Erfindung des Buchdrucks. Die damaligen Umbrüche hatten es ja auch in sich, man denke nur an die Reformation und den dreißigjährigen Krieg.

Mir leuchtet das spontan ein, aber es ist ein gestaltloser Gedanke. Mein Freund Udo, der diese Deutung der Gegenwart auch auf den ersten Blick überzeugend fand, kommentierte: Das könne ja alles sein, er wüsste aber gern, wie lange das denn jetzt dauern würde – drei Jahre, dreißig oder dreihundert? Immerhin möchte man sein verbleibendes Leben ein wenig planen und einteilen, und da wüsste man gern, worauf man sich einzustellen hat.

Übrigens bin ich gar nicht sicher, dass die Digitalisierung das Problem ist. Ich fürchte, der Fehler liegt, wie schon oft in der Geschichte, darin, dass alte Kulturtechniken zugunsten neuer Kulturtechniken einfach aufgegeben werden, obwohl es klüger wäre, sie beizubehalten und parallel weiterhin auszuüben. Denn das Schreiben ersetzt das Sprechen nicht und die Messenger-Nachricht ersetzt den Brief nicht und der Film ersetzt das Buch nicht. Und in diesem Falle denke ich, das Scrollen ersetzt das Lesen nicht.

Wie dem auch sei, ich möchte einer Facette des gegenwärtigen Umbruchs nachspüren, die ich im ersten Impuls die Dummheit nennen wollte, als einer historischen, sich also immer wandelnden Erscheinungsform des bequemen Denkens.

Dummheit ist ein grobes Wort

In den letzten Jahren habe ich die Dummheit fürchten gelernt. Lange Zeit dachte ich, über dumme Äußerungen könne man lachen, müsse man lachen. Aber nun weiß ich, dass die Dummheit nur zum Lachen ist, solange sie nicht herrscht.

Doch Dummheit ist ein grobes Wort. Es sagt nichts darüber aus, ob jemand geistig beschränkte Fähigkeiten hat oder nur dumme Dinge sagt oder dumm handelt, oder alles zusammen. Diese Unterscheidung ist wichtig.

Außerdem schließt es den anderen vom Gespräch aus. Wenn man sagt, jemand sei dumm, wirft man ihn aus dem Gespräch heraus. Ich mag es auch nicht, wenn meine Gesprächspartner mit dem Wort „falsch“ daherkommen. Es hat einen ähnlichen Effekt. Es ist belehrend, überheblich, besserwisserisch. Zeitungsartikel, die den Nachweis der Falschheit einer Aussage schon im Titel führen, lese ich mir nicht durch.

Also trete ich einen Schritt zurück und nehme den Befund der Dummheit aus dem Rennen. Ich denke an jene, die vor mir gesehen haben, dass etwas nicht gut läuft, und dennoch auf die Unterstellung der Dummheit verzichtet haben. Ich erinnere mich an Wolfgang Wodarg, der im Frühjahr 2020 mutig widersprach und dem dabei, inmitten bergehoch aufgetürmter Argumente, ein Stoßseufzer entfuhr: „Das ist alles so unterkomplex!“ Er hätte auch „dumm“ sagen können, aber er sagte „unterkomplex“.  

Darin sehe ich eine Weisheit, die nicht nur mit der Rücksicht auf den anderen zu tun hat. Sie gründet auch in der Einsicht, dass alles mit allem verbunden ist und dass letztlich das Gelingen unseres Lebens davon abhängt, ob wir dies erkennen können.

Illusionen von Herrschaft

Was ist Komplexität? Das ist kein einfacher Begriff, denn man muss irgendeine Vorstellung von Systemen haben, um ihn adäquat anzuwenden. Umgangssprachlich wird komplex mit kompliziert verwechselt, das trifft es nicht. Ein Uhrwerk ist kompliziert, ein lebender Köper aber ist komplex. Von Komplexität sprechen wir, wenn wir die Wechselwirkungen innerhalb eines Systems betrachten, in dem verschiedene Elemente ein Ganzes bilden. Das kann ein Organismus, eine Gesellschaft oder die Weltwirtschaft sein.

Warum die Dinge ein Ganzes bilden und warum Prozesse Systemqualität annehmen; das ist ein Geheimnis, das wir nicht entschlüsseln können. Wir können es nur beobachten und beschreiben. Immer wieder haben Menschen in der Philosophiegeschichte darüber nachgedacht. Ich selbst bin – sozusagen altmodisch – noch sehr von der Teleologie geprägt, vom philosophischen Nachdenken über Dinge, die ihren Zweck in sich selbst haben. Die Systemtheorie des zwanzigsten Jahrhunderts hat diesen Zweckbegriff über Bord geworfen. Aber die Bereitschaft, der Komplexität des Lebens nachzuforschen, zieht sich durch die Jahrhunderte.

Komplexität ist eine Eigenschaft des Lebens. Sie fasziniert mich, weil sie der menschlichen Rationalität eine klare Rolle zuweist: Du kannst versuchen, mich zu verstehen, und du kannst die Zusammenhänge erforschen und deine Klugheit daran schulen, aber bilde dir nicht ein, du könntest herrschen! Systeme organisieren sich selbst. In ihnen können wir unter Umständen eine Rolle spielen, sie beeinflussen. Aber nicht beherrschen.

Ändert sich ein Element, ändert sich alles andere. Alles steht in Beziehung, alles reagiert aufeinander. Kommt ein Kind in eine Familie, ändert sich die Familie, es wird nicht nur addiert, es ändert sie. Das einzelne Element darf nicht isoliert betrachtet werden, weil es nicht nur auf ein anderes Element wirkt (wie etwa das Zahnrad in einer Maschine), sondern auf das Ganze. Und niemand kann ein Ganzes beherrschen.

Lebensfeindliche Haltungen aus dem akademischen Milieu

Aber große Teile der Gegenwartsgesellschaft sind dennoch vom Gedanken der Herrschaft durchdrungen. Diesen Gedanken kann nur verfolgen, wer einzelne Aspekte oder Teile isoliert und versucht, sie unter Kontrolle zu bringen. Man wollte ein saisonales Atemwegsvirus beherrschen. Man will das Klima beherrschen. Man will die Kommunikation beherrschen, die Ansichten der Menschen und ihr Verhalten. Auf eine solche Idee kann nur kommen, wer die Komplexität des Lebens nicht sieht. Die Politik und ihre Medien kennen derzeit keine Komplexität, ja, sie bekämpfen die Komplexität, sie blenden sie aus und hacken auf alle ein, die sie geltend machen. Es ist das durchgehende Moment dieses Denkens, und dieses Denken ist zutiefst lebensfeindlich.

Wie konnte das kommen? Ich glaube, da muss man nicht im täglichen Leben suchen. Ich kenne viele Menschen, die keinen hohen Bildungsabschluss haben, und dennoch ein tiefes Wissen von der Komplexität haben. Die nicht unzulässig vereinfachen, die in der Lage sind, sich zurückzunehmen und zu schauen, und mit Bedacht zu sprechen und zu urteilen. Nein, die lebensfeindliche Haltung, die ich hier betrachte, hat ihre ersten Schritte im akademischen Milieu gemacht, an den Universitäten und in den Lebensstillaboren, die an ihnen andocken; in den NGOs mit ihren neuen Kommunikationsstrategien und in den digitalen Startups. Hier hatte man schon lange keine Lust mehr, Bücher zu lesen, die vom Leben handelten, oder das Leben mit Menschen zu teilen, die anders lebten als man selbst. Sondern man begnügte sich damit, seine guten Absichten zu pflegen und sie zur gesellschaftlichen Norm zu machen.

Eindimensionale Botschaften von der Wirklichkeit

1988 veröffentlichte Niklas Luhmann seine „ökologische Kommunikation“. Er machte in diesem Buch darauf aufmerksam, dass man das gesellschaftliche Umweltproblem nicht mit Kampagnen und Agitation würde lösen können, da eine Gesellschaft nur solche Themen bearbeiten kann, über die sie auch kommuniziert. Kommunikation aber ist Wechselwirkung, ist Komplexität, nicht Propaganda. Man müsse also eine echte Kommunikation aufbauen, die nicht fertige Antworten durchsetzen, sondern adäquate Beschreibungen des Problems hervorbringen sollte.

Man legte das Buch weg. Die Umweltbewegung sah sich außerstande, die Herausforderung des Lebens anzunehmen. Stattdessen entfaltete sie ein gigantisches propagandistisches Programm. Je länger es währt, umso mehr entfremden sich die eindimensionalen Botschaften von der Wirklichkeit. Wer die ersten Schritte dieser Entwicklung nachlesen will, muss nur in den Schriftenreihen des Umweltbundesamtes nachschauen, in denen unermüdlich wissenschaftlich daran gearbeitet wurde, das Bewusstsein der Bürger „zu verbessern“.

Aber diese Ignoranz wurde in der Philosophie vorbereitet. Gerade nahm ich an der Verteidigung einer Masterarbeit teil, die ich betreut hatte. Es ging um Landschaft und Landschaftswahrnehmung. Da fiel mir auf, dass seit Jahrzehnten an den Universitäten die so genannte konstruktivistische Theorie gelehrt wird: Die Landschaft ist nicht da draußen, ist nicht Berg und Tal, Baum, Haus und Straße, Landschaft ist ausschließlich das, was sich im Kopf der Menschen konstituiert. Die Verbindung zum Raum ist in diesem Denken gekappt, das Bewusstsein ist scheinbar mit nichts verbunden. Statt darüber nachzudenken, wie sich die Wechselwirkung von Welt und Denken verbessern ließe, übergibt man alle Inhalte an das Kopfkino der Menschen: Es kommt lediglich auf die Wahrnehmung an, und jeder Mensch – wer hätte das gedacht – nimmt die Welt nun einmal unterschiedlich wahr.

Zwischen Postmoderne und Marxismus

Der Willkür sind damit alle Tore geöffnet. Was sich erst wie eine Befreiung angefühlt haben mag, schlägt nun nach Jahren in die Gleichschaltung um. Denn wenn die je subjektive Wahrnehmung der Schlüssel zur Welt ist, muss eben die Wahrnehmung manipuliert werden, wenn man diese Welt verändern oder retten will, je nachdem. Die postmoderne Philosophie feiert das Unterkomplexe. Sie isoliert das Bewusstsein, statt es in den Beziehungsreichtum des Lebens zu stellen.

Wie war das früher? Man sollte nicht Äpfel mit Birnen gleichsetzen. Aber vergleichen kann man sie schon. Schauen wir also auf die wirkmächtigste Philosophie vor dem Anbruch der Postmoderne, den Marxismus.

Sicher unterschätze ich heute die Einfalt des politischen Denkens in der DDR. Ich war ja damals noch jung und nahm das alles nicht so ernst. Die Erinnerung an so manchen Staatsbürgerkundelehrer oder Parteisekretär sollte eigentlich genügen, um daran zu erinnern, wie mechanistisch das damals herrschende Denken gebaut war. Aber trotzdem möchte ich daran erinnern, dass die kanonischen Texte dieses Denkens von Marx und Engels waren. Gegen ihre Thesen lässt sich allerhand ins Feld führen, aber sie steckten voller Dialektik. Sie waren sprachlich anspruchsvoll und ausgebufft. Und wir mussten diese Texte lesen, schon in der Schule und dann auch im Studium, immer, immer wieder. Ich behaupte, das hat, neben allem Widerwillen und Unverständnis, etwas mit uns gemacht.

Diese Theorie war nicht bescheuert, nein, sie arbeitete sich Zusammenhängen ab, die auch die sozialistische Agitation und Propaganda schwer aus ihren Weltbildern kriegte, von der sprachlichen Qualität ganz zu schweigen. Es steckte ein Geist darin. Sonst hätte sich das auch nicht über mehr als hundert Jahre halten können. Diese Qualität wird heute in der Kritik des Marxismus völlig vergessen und geleugnet. Dabei ist sie wichtig. Denn bei allen Denkfehlern wurden die Menschen doch immer wieder auf Wechselwirkungen gestoßen, auf nicht intendierte Folgen menschlichen Handelns. Wie ist es möglich, diese wichtige Eigenschaft dieser Literatur heute zu leugnen? Doch nur, wenn niemand nachliest?

Welt als Bullerbü

Wirklich verstörend aber ist für mich die Befleckung des literarischen Erbes Astrid Lindgrens. Ich frage mich, wer ihre Bücher wirklich gelesen hat. Immer wieder reklamieren grüne Politiker für ihre Politik den Begriff „Bullerbü“, der auf einen Kinderroman Lindgrens zurückgeht. Und viele Gegner der Grünen werfen ihnen eben das vor, indem sie sagen, dass die Welt nun einmal kein Bullerbü sei. Gern wird in diesem Zusammenhang auch Pippi Langstrumpf aufgestellt und gleich wieder abgeschossen wie ein Pappkamerad: Sie mache sich die Welt, wie sie ihr gefällt, und das täten ja die Grünen auch.

Es geht hier nicht um die Politik der Grünen. Es geht um Komplexität des Lebens. Und da besorgt es mich, dass die Grünen, ebenso wie ihre Gegner, nicht zu wissen scheinen, wie nahe Astrid Lindgren dieser Komplexität in ihrem Schaffen gekommen ist, näher, als es je ein Parteiprogramm schaffen wird. Denn die Menschen, die Lindgrens Geschichten bevölkern, handeln immer inmitten der Gesellschaft und im vollen, unbegreiflichen Wunder des Lebens, das für den einzelnen zu einem unerschöpflichen Gefüge an Faktoren und Einflüssen wird, die man nicht beherrschen, nur zusammenführen kann. Da sind strenge Winter und lange Sommer und kaputte Häuser und tiefe Wälder, verbitterte Alte, geizige Bauern und bösartige Handwerker, naive und gewitzte, freche und gütige Menschen, Einbrecher und Landstreicher, Etablierte und Außenseiter, sogar Phantasiegestalten wir Karlsson vom Dach, der mir beim Vorlesen die letzten Nerven raubte, weil er so unfassbar doof war, und dabei so lebendig. Da erkranken Menschen und es wird gestorben, geweint und gelacht.

Und was erzählen all diese Geschichten? Ich glaube nicht, dass man sie auf einen Nenner bringen kann und sollte, aber ich würde sagen, die Aufgabe der Kinder in Lindgrens Büchern ist es, die Herrschaft zu brechen, die sich die Erwachsenen immer wieder über das Leben anmaßen, indem sie einzelnes isolieren und zu kontrollieren versuchen. Und es ist gerade das Großartige an dieser Autorin, dass die Herrschaft nicht durch kindliche Willkür gebrochen wird, wie es den Grünen vorgeworfen wird, und wie diese es offenbar gern für sich in Anspruch nehmen, sondern durch eine enorme geistige Bereitschaft, sich auf das Leben, seine Abgründe und Widersprüche einzulassen. Der großartige Unfug des kleinen Michels ist überhaupt nur deshalb so unterhaltsam, weil er nicht beziehungslos durch einen Bauernhof poltert, sondern Teil des Lebens auf diesem Bauernhof ist und nicht eine einzige Wechselwirkung leugnet oder lebensfeindlich ausknipst, nein, weil er eben all diese mannigfaltigen Dinge verbindet. Michel ist ein Wunder des Lebens.

Zerstörung der Kindheit

Die Kinder bei Astrid Lindgren sind eben nicht ignorant, wie es die Politik derzeit ist. Sie sehen alles. Weil ihre Schöpferin sie alles sehen lässt! Und wer denkt, das Verhalten von Pippi sei reine Willkür, der hat eben nicht diese Bücher gelesen, sondern nur die Filmmusik mit einer verzerrenden Liedzeile gehört.

Dass die Welt von Bullerbü, gemessen an den anderen Geschichten, etwas einfacher ausfällt, hat übrigens zwei einfache Gründe: Es ist ein Buch für kleine Leser oder Zuhörer und es handelt von einer behüteten Kindheit. Der Horizont kleiner Kinder ist nun einmal anders strukturiert als jener der Erwachsenen. Die kleine Welt ist größer, das wissen wir doch alle, wenn wir an unsere Kindheit denken. Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht „politisch nicht mehr gewollt“ ist, dass Kinder eine behütete Kindheit haben, in der sie sicher und frei aufwachsen können.

Wie dem auch sei, selbst diese einfachen Geschichten stecken voller Leben, voller Komplexität, die man nur verstehen und sich deshalb in ihr klug verhalten kann, aber ausschalten kann man sie eben nicht. Wer es nicht glauben will, der lese, wie Ole zu seinem Hund kam.

Einmal waren wir im Urlaub und ich las meinen Kindern „Ferien auf Saltkrokan“ vor. Am Ende sagte mein damals siebenjähriger Sohn: Das Schönste an dem Urlaub war Saltkrokan. Ja, er hat diese Erzählung genossen, aber er hat sich auch tief in sie eingelassen. Wenn ich heute etwas an ihm bewundere (er ist inzwischen 14 Jahre alt), dann ist es seine Fähigkeit, Komplexität zu erfassen und sprachlich auszudrücken. Ohne Hader und Selbstmitleid blickt er auf die Welt und schaut und versteht und analysiert und macht sich seine Gedanken. Er ist emotional bei der Sache, aber er lässt es fließen. Und ich behaupte, Astrid Lindgren hat einen Teil dazu beigetragen. Wer liest diese Bücher heute, wer hat sie wirklich gelesen?

Lesen als Komplexitätsschule?

Und wer liest wirklich Harry Potter? Diese unterschätzte Geschichte hat es auch in sich. J.K. Rowling ist keine große Sprachmeisterin, aber sie kann sehr beziehungsreiche Geschichten entwickeln. Das Böse ist bei ihr übrigens immer dort zu finden, wo versucht wird, Kontrolle über das Leben auszuüben. Ich meine deshalb, dass die wachsende Distanz in den Medien gegenüber dieser Autorin und ihren Büchern nur oberflächlich auf ihre wenigen Äußerungen über das Frausein zurückgeht. Vor allem, so scheint mir, beginnt man diese Bücher zu hassen, weil sie eben das erfassen, was das Leben gefährdet: die Leugnung der Wechselwirkungen im Ganzen. Denn wer Zugang zu einem Denken hat, in dem alles verbunden ist, wird sich weder benutzten noch beherrschen lassen.

Ist das Lesen also die bessere Komplexitätsschule? Ich vermute es, aber ich kann es nicht beweisen. Meine Jugend gehörte noch in die Epoche des Lesens, also ist mein Maßstab vielleicht falsch. Heute gibt es Filmserien mit Handlungen, die wahre Meisterwerke an Komplexität sind. Bei Better Call Saul kann einem fast der Kopf platzen, und selbst Game of Thrones ist ein großes Gebilde, das einen staunen lässt. Aber diese Komplexität ist nicht versprachlicht. Das gelingt nur in der Literatur, beim Schreiben, Sprechen und Lesen. Und versprachlicht muss doch sein, was dem lebensfeindlichen Prinzip widerstehen soll. Denn das lebensfeindliche Denken plappert ununterbrochen auf uns ein. Ich stelle mir vor, eines Tages wählen wir nicht mehr Parteien, sondern Menschen. Und wir haben uns einen Begriff davon gemacht, worauf es bei jenen ankommt, denen wir für eine Weile unsere Stimme leihen: auf ihre Fähigkeit, das Leben zu verstehen und die politische Klugheit an ihm zu schulen. Wir würden sicher die neuen Medien nutzen, um dies herauszufinden. Keine Wahlkampfveranstaltungen, sondern ein aufmerksames Gespräch in digitalen Formaten, über Monate. Die Fragen, die wir diesen Menschen dann stellen, haben wir in den lebendigen Büchern ergründet und wir haben sie auch schon an unser eigenes Leben gestellt. So ließe sich neues Vertrauen erarbeiten. Wie schön, wäre das!

Teilen