ein Gastbeitrag von Thierry Simonelli
Lesedauer 6 MinutenTeil 2v2: Von der Massenseele zum lebendigen Universum
Die massenlose Massenseele
So nahe Desmets „Massenformation“ der „Massenseele“ Le Bons steht, so sieht er doch von jeglicher Differenzierung der Massen ab. Le Bon schlug eine Klassifizierung in heterogene Massen – anonyme und nicht-anonyme Massen – und homogene Massen – Sekten, Kasten und Klassen – vor, die jeweils ihre eigenen Strukturen und Dynamiken aufweisen. Auch Hannah Arendt unterschied noch moralisierend zwischen Stämmen, Mob, Massen, verarmten Menschenmengen und Bevölkerung (s. Canovan, 2002). Desmet dagegen kennt nur noch eine einzige Masse: die Masse der seit der Aufklärung totalitarisierten Weltbevölkerung.
Eine weitere Originalität, die Desmet einbringt, liegt in seiner idiosynkratischen Definition der Menschenmenge. Für Le Bon und alle auf ihn folgenden Sozialpsychologen stellen Menschenmengen flüchtige Phänomene von Personen dar, die zur gleichen Zeit an einem Ort versammelt sind. Daran erinnert F. E. H. Wijermans: Wie auch immer die psychologischen Definitionen der Menschenmenge in der Sozialpsychologie aussehen mögen, sie „teilen alle die Vorstellung einer Anzahl von Personen, die sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden“ (Wijermans, S. 12).
Im Gegensatz zu den psychologischen Massen der wissenschaftlichen Sozialpsychologie sollen Desmets Massen vielleicht anfangs flüchtig, dann dennoch dauerhaft sein. Ebenso ist die Einheit von Ort und Zeit nicht mehr erforderlich: Die Individuen der „Massenformation“ können komplett isoliert sein, monatelang in ihren Wohnungen eingeschlossen sein und immer noch alle Massensymptome aufweisen: Entindividualisierung, Irrationalität, Hypnose und Psychose.
Wie entsteht dann aber die Hypnose der „Massenformation“? Desmet zufolge beruht eine solche Hypnose auf vier gesellschaftlichen Bedingungen: verallgemeinerter Einsamkeit, einem Verlust des Sinns des Lebens, ungerichteter (objektloser) Angst und „einer Menge frei schwebender Frustration und Aggression“ (ebd., 96). Massenhypnose entsteht also zuerst nicht notwendig durch den Druck der Medien, nicht unter der Spannung der Angstpolitik, nicht einmal aus der sehr konkreten Angst vor einer scheinbar tödlichen Krankheit, sondern allein durch „das Potenzial der nicht abgeführten Aggression, das in der Bevölkerung vorhanden ist – Aggression, die noch nach einem Objekt sucht“ (Desmet, 2022a).
Trotzdem räumt Desmet gleichzeitig ein, dass es auch „unpersönliche“ Steuerung und Manipulation gibt (ebd., 100). Der Leser darf also selbst wählen, ob die Manipulation aus der Hypnose oder die Hypnose aus einer Manipulation entsteht. Wichtig für Desmet bleibt das Unpersönliche: “Eine solche Steuerung wird jedoch selten von einzelnen Personen vorgenommen; die grundlegendste Steuerung ist unpersönlicher Natur.” Eigentlich werden die Massen von Ideologie gesteuert, und “wenn alle die gleichen Regeln befolgen, ergeben sich streng regelmäßige Muster” (Desmet, 2022b).
Sollte man daraus schließen, dass Totalitarismus nicht nur im Wesen ein psychisches Phänomen ist, sondern als solches auch von niemandem geplant und aktiv verwirklicht wird? Wie im Fall des Verhältnisses von Hypnose und Manipulation findet man auch hier wieder mehrere Möglichkeiten bei Desmet. Massen würden niemals durch Machteliten hypnotisiert, da diese selbst hypnotisiert seien. Die letzteren seien jedoch weniger von den vier gesellschaftlichen Bedingungen hypnotisiert als von ihren eigenen Ideologien.1 Und gleichzeitig soll es auch eine kleine Anzahl von Personen geben – der Holocaust wurde Desmet zufolge von „ungefähr fünf Personen“ geplant und verwirklicht – welche die blinden Massen hypnotisch dirigieren.
Zusammengefasst: Massen werden durch Einsamkeit, Sinnlosigkeit, freischwebende Angst und Aggressivität hypnotisiert. Durch die “phänomenalen Möglichkeiten” der Massenmedien werden sie auch von der unpersönlichen Ideologie der Aufklärung hypnotisiert, genauso wie auch die scheinbaren Manipulierer. Und dazu gibt es noch ein paar einzelne nicht-manipulierte Manipulierer, welche die Massen, wie im Fall der Schoah, hypnotisieren.
Jenseits des Realitätsprinzips
Die Frage, die sich dem Leser der Psychologie des Totalitarismus immer wieder aufdrängt, lautet: Wovon spricht Desmet eigentlich? Wo findet man heute „hypnotisierte“ Massen? Und wie erkennt man sie? Wenn die Welt seit der Aufklärung totalitär geworden ist und die Massen hypnotisiert sind, wie kommt es dann, dass der Professor selbst solcher „Massenformation“ entkommen konnte?
Hier gelangt Desmet von einer Psycho-Fiktion über eine Geschichts-Fiktion zu einer Polit-Fiktion. Denn obwohl die ursprünglichen Einsichten Le Bons in die Seele der Massen seit 1895 teils verworfen, teils durch überzeugendere empirische Erklärungsansätze ersetzt worden sind (s. Van Ness & Summers-Effler, 2016), dienen sie Desmet dennoch als Begründung einer eigenartigen politischen Interpretation der Welt im Allgemeinen.
Desmet schlüpft in die Rolle des Universalgelehrten, der Le Bon so sehr am Herzen lag, als er eine praktische Psychologie für die kulturellen und politischen Eliten konstruierte. Denn obwohl Le Bon die Populärpsychologie tiefgreifend geprägt hat (Cf. Rubio, 2008), vergessen seine Kommentatoren oft, dass seine psychologischen Analysen auch eine erklärte politische Absicht verfolgten.
Le Bon war kein Freund der Massen. Im Gegenteil, er war der Meinung, dass „Zivilisationen […] von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet“ werden (Le Bon, 2013, S. 13). Die Massen zerstören jedoch die rationale Ordnung und errichten die Herrschaft des Irrationalen: „Von dem Moment an, wo die Revolution von der Bourgeoisie in die Volksschichten hinabreichte, hörte sie auf, eine Herrschaft des Rationalen über das Instinktive zu sein, und wurde im Gegenteil zu dem Versuch des Instinktiven, das Rationale zu beherrschen“ (ebd., S. 56).
Die Politik des psychologischen Totalitarismus
So tragen die Massenpsychologie Le Bons und ihr neues Gewand, die „Massenformation“, den Stempel des konservativen Elitismus. Le Bon richtet sich mit seiner Massenpsychologie an den Staatsmann, der die „primitive Barbarei“ nicht mehr ohne psychologisches Wissen beherrschen kann (Le Bon, 2021, S. 64).
Desmet scheint diese Perspektive jedoch teilweise umzukehren: Die Massen sind zwar hypnotisiert, irrational und gewaltbereit, aber es ist die Aufgabe des psychologischen Experten, sie von ihren politischen und historischen Bindungen zu befreien. Die Psychologie der „Massenformation“ versucht nicht, den Staatsmann vor dem Volk zu schützen, sondern sowohl die „totalitarisierte Bevölkerung“ als auch die ideologisch hypnotisierten Führer aus ihrer Massenhypnose zu erwecken.
Die Freiheit vom Totalitarismus bestände dann gesellschaftlich darin, den „Verlust der Unterstützung für demokratische Prinzipien“ rückgängig zu machen und die „Auferlegung eines experimentellen Impfprogramms“ aufzuheben (Desmet, 2022a, p. 90‑91).
Mit dieser gesellschaftlichen Freiheit wird dann die psychische Freiheit zur weltweiten spirituellen Revolution möglich, die uns endlich von der „mechanistischen Ideologie“ (sic!) der Aufklärung befreien soll.
Der neue Spiritualismus des lebendigen Universums
Wie kann man also, fragt Desmet, diese Mechanistik der Aufklärung und ihre psycho-totalitären Konsequenzen überwinden? Die „Ideologie“ der Aufklärung begreift das Universum als eine „mechanistische Interaktion zwischen toten Elementarteilchen“ (ebd., S. 148). Desmet erinnert daran, dass es diese „Ideologie“ zwar tatsächlich bereits 400 v. Chr. gab, bei Leukippos und Demokrit. Aber auf ein paar tausend Jahre Geschichte soll es hier nicht ankommen.
Denn was „Einstein, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger, Louis de Broglie, Planck, Bohr, Wolfgang Pauli, Sir Arthur Eddington, Sir James Jean“ in ihren „kontemplativen Werken“ (sic!, ebd., S. 180) gezeigt haben, das sei, dass der Mensch „die Rationalität transzendieren“ muss, um seine volle Potenzialität zu verwirklichen (ebd., 90-91).
Die „letztgültige Erkenntnis […] vibriert in allen Dingen“ (ebd., S. 184) des lebendigen Universums. Deshalb müssen wir die Rationalität in uns überwinden, um unsere kreativen Möglichkeiten ganz auszuschöpfen. Dann kann die kreative Verschmelzung mit dem Universum beginnen.
Unter den Pflastersteinen des toten Universums der Aufklärung liegt der Strand des lebendigen universellen Bewusstseins, das die materiellen Elementarteilchen (ebd., S. 162) in einer „kreisförmigen Kausalität“ (ebd., S. 164) vom Geist zur Materie hin- und zurückführt.
Mit den neuen spirituellen Experten der universellen Lebensschwingungen kann das Volk schließlich die Trennung von Materie und Geist überwinden, aus seiner Hypnose erwachen, von seiner Psychose heilen, von körperlichen und geistigen Krankheiten genesen (ebd., S. 168) und sogar „eine fast unvorstellbare Kraft“ entwickeln (ebd., S. 166). Das, so Desmet, sei immerhin die Lektion der Laura Schultz, einer „63-jährigen Großmutter aus Florida, die 1977 in der Lage war, mit einer Hand das Vorderrad eines Schulbusses anzuheben, um mit der anderen Hand ihr Enkelkind unter dem Bus hervorzuziehen“ (ebd.)
Inwiefern Desmets Denken einen Weg aus dem vermeintlichen hypnotischen Totalitarismus zeigt, sei dahingestellt. Zweifellos zeigt es uns aber einen Weg aus der rationalen Wirklichkeits-Analyse hinaus, hin zum abgegriffenen New Age Spiritualismus mitsamt seinen Erlösungsverheißungen.
Literatur
Arendt, H. (1991). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft. München. Piper Taschenbuch.
Canovan, M. (2002). The People, the Masses, and the Mobilization of Power: The Paradox of Hannah Arendt’s „Populism“. Social Research, 69(2), 403–422.
Desmet, M. (2022a). The Psychology of Totalitarianism. White River Junction, Vermont. Chelsea Green Publishing.
Desmet, Mattias. (2022b). « COVID-19 and the Psychology of Totalitarianism ». Tablet Magazine (26.10.22)
https://www.tabletmag.com/sections/arts-letters/articles/psychology-of-totalitarianism. (Der Text entspricht einem Ausschnitt aus dem 8. Kapitel von Desmets Buch.)
Le Bon, G. (2013). La psychologie des foules (9. Auflage). Paris. PUF.
Le Bon, G. (2021). Le Bon, G. (2021). La Révolution française et la psychologie des révolutions.
Losurdo, Domenico. 2004. « Pour une critique de la catégorie de totalitarisme ». Actuel Marx 35(1), 115–47.
Rubio, V. (2008). Rubio, V. (2008). Psychologie des foules, de Gustave le Bon. Un savoir d’arrière-plan. Sociétés, 100(2), 79–89.
Van Ness, J., & Summers-Effler, E. (2016). Reimagining Collective Behavior. In S. Abrutyn (Éd.), Handbook of Contemporary Sociological Theory, 527–546.
Wijermans, F. E. H. (s. d.). Understanding crowd behaviour: Simulating situated individuals. Groningen. University of Groningen.
1 S. die Breggin-Desmet Debatte vom 14. September 2022: https://reflexivityspace.org/2022/09/14/juxtaposing-peter-breggin-mattias-desmet-interviewed-by-reiner-fuellmich-and-viviane-fischer/