ein Gastbeitrag von Thierry Simonelli
Lesedauer 6 MinutenTeil 1v2: Die neue Psychologie des Totalitarismus
Zu den überraschenden Begleiterscheinungen der COVID-Pandemie gehört das Entstehen von Star-Experten und -Wissenschaftlern entlang einer großen binären Trennlinie, die wahre Wissenschaftler von Verschwörungstheoretikern und anderen Betrügern unterscheidet.
Zu den Wissenschaftlern, deren Position jedoch nicht so einfach auszumachen ist, gehört Mattias Desmet, Professor für Psychopathologie an der Universität Gent. In unzähligen YouTube-Interviews erklärt Desmet, das Verhalten während der Pandemie sei das von Menschenmassen, die von einer Massenhypnose ergriffen worden sind.
Laut Desmet müsste man also davon ausgehen, dass die COVID-Pandemie vor allem eine massenpsychologische Pandemie war, die er als hypnotische „Massenformation“ („mass formation”) bezeichnet.
Im Juni 2022 erschien Desmets Buch mit dem interessanten Titel Die Psychologie des Totalitarismus, der nicht zufällig an Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus erinnert. In seinem Buch führt Desmet seine Ansicht aus, dass die Massenhypnose der Pandemiezeit das psychologische Pendant zum politischen Totalitarismus sei. Im Totalitarismus, so Desmet, seien sowohl die Bürger als auch die politischen Eliten hypnotisiert.
Was bei Desmet kritisch anmutet und auf eine Analyse der Effekte von Angstpolitik und Medienmanipulation angelegt zu sein scheint, erweist sich jedoch bei der Lektüre des Buchs vor allem als eine implizite Kritik von irrationalen Massen, deren Hypnose ohne jeglichen Hypnotiseur auskommt.
Die totalitär gewordene Welt
Eines schönen Morgens im November 2017 wurde Mattias Desmet, der sich gerade bei Freunden in einem Chalet in den Ardennen aufhielt, von einer plötzlichen Eingebung erfasst: „Ich wurde von dem greifbaren und scharfen Bewusstsein eines neuen Totalitarismus erfasst, der seine Saat hinterlassen hatte und das Gewebe der Gesellschaft steif werden ließ“ (Desmet, 2022, S. 1).
Desmet, Mitautor von über 100 Artikeln über Depression, Alexithymie und die Bewertung von psychoanalytischen Psychotherapien, erkannte also 2017, es sei „unleugbar geworden“, dass die Regierungen uns unserer Freiheit berauben, dass „alternative Stimmen“ nicht mehr geduldet werden, dass die „Sicherheitskräfte“ dramatisch zugenommen haben und „vieles mehr“ (ebd. S. 1, 90). Gesellschaftliche Änderungen, die seiner Auffassung nach als „Totalitarismus“, gemäß der „dystopischen Vision“ (sic!) von Hannah Arendt, bezeichnet werden müssen.
Selbstverständlich mutet es überraschend an, eine Analyse des Totalitarismus im Jahr 2022 und im Hinblick auf die COVID-Pandemie, einzig auf das Werk von Hannah Arendt zu stützen. Der Begriff des Totalitarismus hat immerhin seit Arendt zahlreiche Entwicklungen, Kritiken und Abänderungen durchlaufen (siehe hierzu Losurdo, 2004).
Hinzu kommt, dass Arendts essentialistische Auffassung des Totalitarismus auf mehreren konstitutiven Elementen beruht: der Bildung entpolitisierter Massen infolge des ersten Weltkriegs, der Verdoppelung staatlicher Institutionen, die eine ständige Mobilisierung der Bevölkerung mit Hilfe von Propaganda aufrechterhalten, und letztendlich auf dem Terror als „Wesen“ des Totalitarismus, der seinen Höhepunkt in der Errichtung von Konzentrationslagern hat.
Wenn auch die Frage der Massen in den liberalen Demokratien des 21. Jahrhunderts aktuell bleibt, wird man in der Pandemiezeit schwerlich eine umfassende faschistische, nazistische oder totalitäre Bewegung noch den Terror der Konzentrationslager oder der Gulags finden. Wenn sich also die Psychologie des Totalitarismus nicht nur als Lesart des historischen Totalitarismus, sondern auch des angeblich aktuellen Totalitarismus ausgibt, scheint es schwer zu erkennen, auf welche Wirklichkeit sich Desmet mit seiner Analyse bezieht.
Totalitarismus als Psychologie
“Es ist ganz offensichtlich, dass weder Informationsmangel noch Gehirnwäsche für die Unterstützung eines totalitären Systems durch die Massen verantwortlich sind” (Arendt, 1991, S. 629).
Die Absicht der rund 900 Seiten von Arendts Buch über den Totalitarismus bestand darin, die radikale historische Neuheit des Nazi- und des Sowjetregimes auszuarbeiten. Das bezweifelt Desmet jedoch implizit. Denn was die Philosophin laut Desmet in ihrer „Vision“ nicht verstanden habe, das sei der tiefe Unterschied zwischen traditionellen Diktaturen und Totalitarismus. Desmet zufolge liegt der wahre Unterschied zwischen beidem nicht in der Politik oder der Gesellschaft, sondern in der Psychologie. Nur die Psychologie soll es ermöglichen, die intimen Mechanismen des Totalitarismus zu verstehen und ihn so von anderen politischen Systemen zu unterscheiden (sic, Desmet, 2022, S. 2). Während für Hannah Arendt die psychologische Erklärung des Totalitarismus absurd schien, sieht Desmet ihr eigentliches Wesen in der psychischen „Massenformation“.1
Leider wartet der Leser der Psychologie des Totalitarismus vergeblich auf eine echte Definition dieses Phänomens.2 Außerdem scheint der Begriff „mass formation“ eine originelle Begriffsschöpfung Desmets darzustellen. In internationalen wissenschaftlichen Datenbanken wie PubMed, Scopus, Web of Science oder ScienceDirect sucht man ihn vergeblich.
Mit einer thermodynamischen Analogie beschreibt Desmet die „Massenformation“ als ein „komplexes und dynamisches Phänomen […], das damit verglichen werden kann, wie Konvektionsmuster in Wasser oder Gas entstehen, wenn sie erhitzt werden“ (ebd., S. 93)3.
„Die Massenformation” bringe “die Individuen in einen neuen psychologischen Bewegungszustand” (ebd.), in dem die kollektive Hypnose „das ethische Selbstbewusstsein der Individuen zerstört und sie ihrer Fähigkeit zu kritischem Denken beraubt“ (ebd., S. 2-3, 92) werden. Die „Massenformation“ sei eine „Massenhypnose“, und diese sei das psychologische Fundament des politischen Totalitarismus.
Abgesehen davon, dass Massenhypnose – eigentlich Gruppenhypnose – in der wissenschaftlichen Literatur nicht viel öfter erwähnt wird, als die “Massenformation”, so muss man sich auch gewahr werden, was Hypnose im nicht metaphorischen Sinn bezeichnet. Die hypnotische Trance deutet nämlich auf einen veränderten Bewusstseinszustand hin, der mit einer tiefenentspannten Dissoziation zwischen dem Selbst und der Außenwelt einhergeht und deren Dauer selten ein paar Stunden übertrifft. Auch ist die vermeintlich vergrößerte Beeinflussbarkeit durch Hypnose alles andere als belegt.
Die unerwartete Rückkehr von Gustave Le Bon
In Desmets Art von „Hypnose“ wird der Leser leicht die Massenpsychologie von Gustave Le Bon wiedererkennen. Hinter dem Begriff der „Massenformation“ verbirgt sich die „formation des foules“ (ein einziges Vorkommen in Le Bons Werk) und ihr Resultat: die „Massenseele“ oder „Kollektivseele“.
Es überrascht dann nicht, dass Gustave Le Bon die einzige sozialpsychologische Quelle für Desmets „Massenformation“ bleibt. Und es überrascht auch nicht, dass Desmets „Massenformation“ die markantesten Züge von Le Bons „Massenseele“ bloß rekapituliert.
In der Massenseele, so Le Bon vor 127 Jahren, „schwindet die bewusste Persönlichkeit“ (Le Bon, 2013, S. 21). Diese wird von der „geistigen Einheit der Massen“ (ebd., S. 22) absorbiert, bis schließlich eine „Versammlung von Idioten“ (ebd., S. 29) daraus entsteht, die zu „blutrünstigsten Taten“ (ebd., S.33) fähig ist.
Ähnlich lesen wir bei Desmet, der Le Bon im Grunde durchgehend paraphrasiert: „Die Massen neigen dazu, Gräueltaten gegen diejenigen zu begehen, die sich ihnen widersetzen, und führen sie gewöhnlich aus, als ob es sich um eine ethische und heilige Pflicht handele“ (Desmet, S. 103-104).
Dennoch fügt Desmet eine ‚spirituelle’ Dramatik hinzu die, wie wir sehen werden, in seinem Denken nicht nur Beiwerk ist: „Die Massen und ihre Führer werden blindlings in einen Mahlstrom der Zerstörung hineingezogen, bis sie mit der letzten Konsequenz des Denkens konfrontiert werden, das ihren Geist monopolisiert hat: der mechanistischen Logik eines toten und seelenlosen Universums“ (ebd., S. 119-120). Hier nimmt Desmets Analyse einen welthistorischen Zug an: Die „Ideologie“ der Aufklärung habe uns, so Desmet, ein mechanistisches Weltbild aufgedrängt, dessen Universum aus leblosen Elementarteilchen bestände. So seien wir vom Zusammenhang mit dem Ganzen des lebendigen Universums abgeschnitten und psychisch auf die „Massenformation“ des Totalitarismus vorbereitet worden.
Literatur
Arendt, H. (1991). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft. München. Piper Taschenbuch.
Canovan, M. (2002). The People, the Masses, and the Mobilization of Power: The Paradox of Hannah Arendt’s „Populism“. Social Research, 69(2), 403–422.
Desmet, M. (2022). The Psychology of Totalitarianism. White River Junction, Vermont. Chelsea Green Publishing.
Le Bon, G. (2013). La psychologie des foules (9. Auflage). Paris. PUF.
Le Bon, G. (2021). Le Bon, G. (2021). La Révolution française et la psychologie des révolutions.
Losurdo, Domenico. 2004. « Pour une critique de la catégorie de totalitarisme ». Actuel Marx 35(1), 115–47.
Rubio, V. (2008). Psychologie des foules, de Gustave le Bon. Un savoir d’arrière-plan. Sociétés, 100(2), 79–89.
Van Ness, J., & Summers-Effler, E. (2016). Reimagining Collective Behavior. In S. Abrutyn (Éd.), Handbook of Contemporary Sociological Theory, 527–546.
Wijermans, F. E. H. (s. d.). Understanding crowd behaviour: Simulating situated individuals. Groningen. University of Groningen.
1 In ihrer nuancierten Diskussion über den „magischen Bann“ und die Faszination, die von Hitler ausging, wendet sich Arendt noch einmal explizit gegen die Psychologie des Totalitarismus: „Zu glauben, dass Hitlers Erfolge auf seiner »Faszinationskraft« beruhten, ist ganz abwegig; mit ihr allein hätte er es nicht weiter als bis zum Salonlöwen gebracht“ (Arendt, 1991, p. 658). Selbstverständlich berücksichtigt Desmet auch mit keinem Wort Arendts Diskussion der Natur und der verschiedenen Funktionen der Massen im nazistischen und sowjetischen Totalitarismus.
2 Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass für Mattias Desmet “Massenformation” und “Totalitarismus” zwei verschiedene Namen für ein und dieselbe intuitiv erfasste Realität sind.
3 Gustave Le Bon verwendete eine organische Metapher, um dieselbe emergente Eigenschaft auszudrücken: „Die psychologische Menge ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen für einen Augenblick zusammengeschweißt wird, absolut so, wie die Zellen eines lebenden Körpers durch ihre Vereinigung ein neues Wesen bilden, das Charaktere zeigt, die sich stark von denen unterscheiden, die jede dieser Zellen besitzt“ (Le Bon, 2013, S. 26-27).