Der Trümmerhaufen als Aussichtsturm

ein Beitrag von Walter van Rossum

Lesedauer 6 Minuten
1bis19-Der Trümmerhaufen als Aussichtsturm
Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818) – Caspar David Friedrich

Im März 2020 kollabierte die uns bekannte Realität – im Nachhinein möchte man fast sagen: binnen Stunden. Doch es gibt kein physikalisches Zeitmaß für diesen Kollaps. Es wurden ein paar sonderbare Imperative in die Welt gebellt – und die bekannte Ordnung ging in die Knie: der Rechtsstaat, die Wissenschaft, die Medizin, das argumentierende Begründen, die Aufklärung, die Wirtschaft und die Kunst. Noch bevor wir ein Aber absetzen konnten, um unsere Einwände und Gegenrechnungen zu präsentieren, waren wir längst abgeschaltet von den Zugängen zur autoritären Welt. Aussortiert als Querdenker, Querulanten, Verschwörungstheoretiker und Staatsfeinde.

Wir fanden uns wieder unter lauter Gleichgesinnten, die wir noch gar nicht kannten und wie Freunde begrüßten, weil wir mit ihnen reden konnten. Im Großen und Ganzen ist es bis heute so geblieben. Die Fortsetzung des Pandemieterrors durch einen Krieg, der mit aller Macht eskaliert wurde, durch Inflation, eine dramatische ökonomische Destabilisierung, durch ein apokalyptisch aufgeladenes Management des Klimawandels, ein paar weitere Kriege und die Aussicht auf kommende, hat diese Raumaufteilung eher verstärkt als gemildert.

Es bestehen kaum Zweifel, dass einige sehr reiche Gruppen und mächtige Institutionen weitreichende Vorbereitungen getroffen hatten, die Dinge in eine bestimmte Richtung zu lenken.i Gleichwohl erklärt das aber höchstens die halbe Geschichte. Eine entscheidende Frage bleibt offen: Wie ist es möglich, dass eine halbwegs leicht zu enttarnende Bedrohung in die Welt gesetzt wird und die hochkomplexe, äußerst differenzierte abendländische Zivilisation daraufhin ihren Dienst einstellt? Als wäre sie nur ein leichtes Seidenjäckchen gewesen, ein hauchdünner ideologischer Firnis?

Stets frei und doch in Ketten

Wie konnte es geschehen, dass sich fast alle und alles den Verfügungen im Zeichen der Pandemiebekämpfung gefügt hat? Darauf gibt es nur eine Antwort: Da war nichts, nichts Nennenswertes jedenfalls. Unsere kulturellen Errungenschaften, die zivilisatorischen Prinzipien, die Bestände bewährten Wissens – nichts davon konnte oder wollte sich den Dampfwalzen der neuen Staatsraison entgegenstellen. Vielleicht sind so viele Menschen den Imperativen der Pandemiker so leichtgläubig gefolgt, weil Befehle in ihren Ohren wie Sirenengesang klangen: Orientierung. Eindeutigkeit. Wie lange hatte man sie schon vermisst.

Wir hatten seit geraumer Zeit die Leere in uns selbst gespürt. Wir hatten Mittel gefunden, sie zu überspielen, indem wir bei diesem Budenzauber mitmachten. Wir hatten uns arrangiert. Wie aber konnten wir glauben, die Abwesenheit eines Potentaten und das Recht, alle paar Jahre irgendwelche abgebrühten Typen wählen zu dürfen, das wäre Demokratie?

Wir waren stets frei und doch in Ketten. Wir haben improvisiert. Manches sah aus, als sei es gelungen. Wir waren stets unter Strom, und gelegentlich erwischten wir uns bei dem Versuch zu begreifen, was wir eigentlich wollten. In der Regel lebten wir als Gäste unseres Lebens, das irgendwie seinen Weg nahm. Nichts stimmte. Wir wussten es, wir sahen es, wir fühlten es. Doch unser Misstrauen war zu unartikuliert, zu flüchtig, um einer Zivilisation zu entsagen, die irgendwie zu funktionieren schien und unaufhörlich Übermenschliches produzierte. Unsere Zweifel verschwanden im grandiosen Spektakel des Realen. Unverbindliche Vorbehaltsklauseln im Exil des Inneren.

Die „Zeitenwende“ wurde uns befohlen. Wir hatten sie nicht auf dem Schirm. Den Menschen widerfuhr eine ungeheure Entwurzelung. Manche ließen sich leicht ausreißen, andere spürten den Verlust ihrer Routinen, die sie für Heimat gehalten hatten, wieder andere verfielen in Trauer und Ohnmacht. Die eine Gruppe wurde zur Oberwelt und hielt sich gehorsam in Rufweite des Rudels auf. Die andere fand sich als Parallelgesellschaft wieder und nahm den Kampf auf. Jeder nach seinen Möglichkeiten.

Politisierung der Abtrünnigen

Es gilt, unsere Möglichkeiten einzuschätzen und die Bestände unserer Errungenschaften zu besichtigen. Das dissidentische Spektrum reicht vom offen sichtbaren Konflikt bis zum diffusen Vertrauensverlust. Bei einem großen Teil der Abtrünnigen dürfte eine massive Politisierung stattgefunden haben. In den letzten Jahren wird eine stets zunehmende Entfernung der Bürger vom System fühl- und messbar.

Man muss einen Unterschied machen zwischen denen, die vom System ausgeschlossen worden sind und denen, die zwar den Glauben an die herrschende Gesellschaft verloren haben, aber daraus noch keinen Schluss gezogen haben. Die Zahl der Gehorsamsverweigerer lässt sich ungefähr schätzen. Laut Robert Koch-Institut haben sich in Deutschland bis heute knapp 20 Millionen Bürger nicht impfen lassen.ii Darüber hinaus schätzt der Datenanalyst Tom Lausen, dass in Deutschland zwischen 12 und 15 Millionen Impfpässe gefälscht worden seien.iii Dabei sollte man nicht vergessen, dass solche Fälschungen von der Justiz unnachgiebig bis heute strafrechtlich verfolgt werden und das Strafmaß erheblich verschärft wurde.

Wenn man die 19,7 Millionen Ungeimpften und die 12-15 Millionen mit gefälschten Impfpässen addiert, kommt man auf die verblüffende Summe von maximal knapp 35 Millionen Impfgegnern. Möglicherweise gibt es eine Schnittmenge von Ungeimpften und gefälschten Impfausweisen. Doch alles in allem darf man von einer Größe von 25 – 30 Millionen ausgehen. Das wäre ungefähr ein Drittel der Gesamtbevölkerung, das den Gehorsam mehr oder weniger aktiv verweigert hat.

Spektren der Parallelgesellschaft

In meinem Buch The Great WeSet. Alternativen in Medien und Rechtiv habe ich versucht, von wenigstens einigen Beispielen für aktiven Widerstand auf den Gebieten Medien und Recht zu berichten. Die primäre Leistung der neuen Medien bestand darin, eine Öffentlichkeit bzw. eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Es galt, alle die Menschen, die irgendwo im Land einsam zweifelten und verzweifelten, in einen Zusammenhang zu bringen, der Gemeinschaft stiftete, Beistand versprach. Doch was bald noch wichtiger wurde: Der improvisierten Gegenöffentlichkeit gelang es binnen kurzer Zeit, alternative Daten zusammenzutragen und sich ein differenziertes Wissen anzueignen. Es entstand ein komplexes, gut fundiertes Gegennarrativ, das erlaubte, sämtliche Behauptungen des paratotalitären Corona-Regimes zu widerlegen.

Wie sich bald herausstellte, hatten wir zu annähernd hundert Prozent recht und könnten das bestens belegen. Das gilt auch für die nachfolgenden moralisch toupierten Ideologeme, wie das Zeitenwendegetrommel, mit denen man die lückenlos folgenden Ausnahmezustände zu legitimieren versuchte.

Die Gemeinschaft der Querdenker ist denkbar heterogen und ihre Mitglieder leben überall. Es sind Professoren, Hausfrauen, Arbeitslose und Bauern aus unterschiedlichsten sozialen Verhältnissen und mit diversesten Bildungsvoraussetzungen, von politischen Überzeugungen gar nicht zu sprechen. Und sie leben auch in unterschiedlichen Beziehungen zur herrschenden Gesellschaft. Die Diaspora der Desperados lebt und agiert in weiter Zerstreuung. Es wird Zeit, an ihrer Vernetzung zu arbeiten, ohne das Prinzip des Dezentralen aufzugeben.

Die ‹Querfront› gegen Corona ist fragil. Doch wenn ich das richtig beobachte, gibt es eine Art belastbaren Respekt unter den politischen Gegnern der alten Raumaufteilung. Differenzen aller Art muss es geben dürfen. Die Verwerfungen des klassischen politischen Feldes sind kurios. In der Parallelgesellschaft findet sich das alte politische Spektrum wieder, das die herrschende Gesellschaft mitsamt jeglichem Pluralismus abgeschafft hat. Die Parallelgesellschaft muss lernen, mit ihren inneren Differenzen zu leben, sonst wird es sie nicht lange geben.

Rückkehr oder Aufbruch?

Stellt sich die Frage, was wir tun können. Wir sind viele, und die Zahl allein ist eine nennenswerte Waffe. Doch im Moment sieht es so aus, als ermatte der Widerstand in der Weite des Raums und angesichts seiner Aufgaben. Wir beantworten umgehend alle Thesen und Perspektiven, mit der die Oberwelt ihr Publikum im Zaun hält. Aber haben wir eine eigene Agenda? Der Publizist Milosz Matuschek skizziert die Aufgabe: »Alles hängt gerade davon ab, ob sich die Gesellschaft selbst organisieren kann und einen gemeinsamen Willen zu bilden vermag. Gegen Machtkonzentration, Technokratie, Korporatismus und Planungszentralismus hilft nur die organisierte Kraft dezentral agierender Individuen. […] Gegen die Kraft der Vielen ist kein Kraut gewachsen. Die nächste Revolution wird dezentral sein, niedrigschwellig umsetzbar sein und nichts kann sie aufhalten.«v

Die verführerische Vision eines Milosz Matuschek gründet auf der Vorstellung eines gemeinsamen Willens zu einer sich selbst organisierenden Gesellschaft. Doch dieser Wille hat sich nicht nur noch nicht organisiert. Bei Vielen scheint dieser Wille im Hals stecken zu bleiben. Jeder muss für sich klären, ob er noch mal zurück will in die alte leidlich reparierte Welt, oder ob wir eine neue Welt tastend gestalten wollen. Ich fürchte, viele hoffen auf Rückkehr. Sie reden von Aufarbeitung. Wenn die gelungen sei, dann könnte die Welt wieder in Ordnung sein. Allein, die Chancen stehen extrem schlecht.

Radikale Fragen

Die »organisierte Kraft dezentral agierender Individuen« gibt es noch nicht. Zum einen, weil vermutlich die meisten auf der Schwelle verharren – unentschieden zwischen Reparatur und Aufbruch. Zum anderen fehlt es an organisierenden Kräften. Das kann keine Partei sein, kein Verein, kein Hoher Rat der Weisen. Es müsste eine Art Agenda sein: ein Strauß an Entwürfen. Keine Bau- oder Fünfjahrespläne, sondern tastend entwickelte Vorschläge, Perspektiven für die, die sich einer totalitären Technokratie, der totalen Kontrolle und dem Transhumanismus der schönen neuen Welt entziehen wollen. Jeder muss seine Mittel und Wege finden, sich dem System zu entziehen. Das beginnt damit, dass man sich dazu entschließt.

Wir werden uns also beispielsweise fragen müssen, ob die parlamentarische Demokratie noch als Modell taugt oder ob wir noch mal zulassen wollen, dass Parteien den Staat und seine Gesellschaft kapern. Ob unsere Geldordnung nicht eine diskrete Form der Versklavung bedeutet. Wir müssen die Frage nach der Eigentumsordnung stellen und die Frage nach der Macht. Wie könnte eine Republik des Gemeinwohls aussehen? Vor allem müssen wir uns die eine Frage stellen, die wir uns nicht getraut haben zu stellen: Wie wollen wir leben?

Die Frage stellt sich nicht an einem wie immer gearteten Nullpunkt, wir betreten keinen leeren Raum. Wir leben mitten in systemischen Ordnungen, die in uns stecken. Wir müssen uns gleichzeitig aus dem System entfernen und das System aus uns entfernen. Ein erheblicher Teil unserer Opposition versucht genau das und hat begonnen, alternative Welten zu entwerfen oder gar konkret einzurichten. Das ist noch nicht die neue Welt, aber ein paar Orte, wo man nicht mehr lebt, als könnte man gewinnen – die Unsterblichkeit oder wenigstens ein Freispiel. Es geht immer auch um den Auszug aus einer Realität, in der wir uns selbst aus den Augen verloren haben, einer Zivilisation, die beim Überhang der Mittel über die Zwecke schier den Verstand verloren hat. So weit die Phantasie, von der Technokraten nicht mal träumen können.

Die Radikalität dieser Frage, deutet die Radikalität der Antwort an. Wenn das Ganze das Falsche ist, dann müssen wir uns auf die Suche nach einer neuen bewohnbaren Welt mit einer – wie Heinrich Böll es nannte – »bewohnbaren Sprache« begeben.

i Walter van Rossum, Meine Pandemie mit Professor Drosten. Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen.

ii Ich benutze hier den Begriff Impfung nur der Einfachheit halber, obwohl es sich im medizinischen Sinn gar nicht um eine Impfung handelte.

iii https://t.me/TomLausen

iv Massel Verlag. München 2023

v https://www.freischwebende-intelligenz.org/p/wernichtaufwachenwill?s=r

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Ein Kommentar

  1. So sehr ich mir auch wünsche, dass diese Utopie Wirklichkeit wird – mit geschönten Zahlen kommen wir trotzdem nicht weiter. Laut RKI sind zwar tatsächlich rund 76 % der Bundesbürger mindestens einmal geimpft und wenn dann die rund 80 Millionen Einwohner als Maßstab angesetzt werden, dann kommt der Autor auf die benannten 20 Millionen. Jedoch sind da die vielen Kinder includiert, für die es keine Impfempfehlung gab. Eine andere Sichtweise ergibt sich, wenn lediglich die Erwachsenen betrachtet werden. Das sind rund 51 Millionen Menschen in Deutschland und davon sind mehr als 85 % mindestens einmal gegen Covid geimpft worden. Das heißt, „nur“ etwa 7,5 Millionen Ungeimpfte. Die Idee, dass es millionenfach gefälschte Impfpässe gäbe, das ist evtl. das, was man in der Justiz „Hören-Sagen“ nennt. Eine wirklich belastbare Zahl sind lediglich die 7,5 Millionen. Und auch unter diesen werden evtl. viele gar keine bewussten Impfverweigerer sein, sondern Menschen, die aus Krankheits-, Abwesenheits, oder sonstigen persönlichen Gründen sich nicht haben impfen lassen (können).
    Es ist zu befürchten, dass wir „Querdenker“ eine überschaubare Minderheit waren und sind.

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