Am Gefälle der höheren Einsichten

Ein Gastbeitrag von Kenneth Anders

Lesedauer 5 Minuten
A messa prima - Treppenstudie von G. Segantini (1884-1885)
© A messa prima – Treppenstudie von G. Segantini (1884-1885)

Mein Erwachsenenleben als Staatsbürger wird durch zwei einfache Worte markiert.

Das eine Wort lautet: unverzüglich. Es fiel in der Ankündigung der deutsch-deutschen Grenzöffnung, ich hörte es live vor dem Fernseher, in Leipzig bei einem Kommilitonen. In mir breiteten sich sofort widersprüchliche Gefühle aus: Unglaube, Freude, aber auch Unruhe. Denn obwohl ich noch jung war, war mir doch sofort klar, dass alle Bemühungen und Hoffnungen der Menschen um mich herum ihre Geschicke fortan selbst in die Hand zu nehmen, nun in die Übernahme vorgegebener Ordnungen münden würden. Deshalb mischte sich auch Beklommenheit in den Klang dieses Wortes.

Das andere Wort lautet: alternativlos. Es fiel wohl zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Euro und einer defizitären griechischen Staatskasse; nichts, was mich damals sehr interessierte. Das Wort aber blieb. Es gab zwar viele Beschwerden gegen seine Verwendung und bald wurde es kaum noch ausgesprochen. Doch die Alternativlosigkeit hat sich trotzdem durchgesetzt, mit der Unnahbarkeit eines Pharaos. Heute überragt sie meine Welt wie ein Gebirge aus Fakten, die immer bereits fertig interpretiert sind, weshalb es immer nur einen Schluss geben kann, nur eine Möglichkeit, nur Richtig und Falsch, Schwarz oder Weiß.

Immer nur dieses Echo der Macht

Es ist ein sehr steiles Gebirge. Die Menschen, die es besiedeln, bestehen aus Gruppen. So nehme ich das wahr: Die einen klimmen hinauf. Sie sind die Einsichtigen, Klugen, Gebildeten, Besseren, Schönen und Guten. Sie erkennen die Fakten an und wissen, was aus ihnen folgt.

Und sie schauen herab auf die Uneinsichtigen, Dummen, Ungebildeten, Schlechteren, Hässlichen und Bösen, die unten stehen und offenbar gar nicht hinaufwollen. Oben meint man, sie sollten umerzogen oder verboten oder jedenfalls besser kontrolliert werden. Und man ruft herab, das Berg-Echo lässt Worte frei: umstritten, gefährlich, rechts, Leugner, Schwurbler, Idiot.

Im Tal steht man schweigend und mürrisch im Schatten der Menschen da oben auf dem Kamm, und man hört immer nur dieses Echo der Macht. Beiden Gruppen fällt es immer schwerer, noch etwas Nettes oder Öffnendes zu sagen.

Am Hang halten sich einzelne Leute auf Terrassen fest, die sie sich mühsam gesichert haben. Die meisten hoffen, dass alles von allein wieder besser wird, sodass sie sich nicht äußern müssen. Aber ihre Terrassen erodieren. Andere, auch am Hang, versuchen, ein Gespräch zwischen oben und unten zu organisieren. Meistens kritisieren sie das Echo, statt selbst etwas zu sagen. Denn vom Hang aus kommt man gegen das Echo kaum an.

Es gab einmal verschiedene Straßen zwischen oben und unten, sodass niemand dauerhaft an seiner Position verharren musste. Man konnte sich auf rechtlichen, politischen oder Debattentrassen auf und ab bewegen. Aber erst wurden diese Straßen zusammengelegt und dann wurden sie gesperrt.

Das Leben als einzige Zwangslage

Lässt sich sagen, ob in dieser Gesellschaft jemand Recht hat? Darauf kommt es nicht mehr an. Denn entscheidend ist, was die Idee der höheren Einsicht mit uns macht: eine Gesellschaft, in der man sich zu den Überlegenen bekennen muss, wenn man nicht zur Gruppe der Unterlegenen gezählt werden will. In dieser freudlosen Gesellschaft lebe ich nicht mehr besonders gern.

Oft male mir ich mir das Leben, wie es nun sein wird, in dunklen Phantasien aus. Spezialpolizeitrupps mit Faktencheckern und Volksverpetzern kriechen dann über die Geröllhalden, auf denen ich mich mühsam zu halten versuche. Sie stoßen unverzüglich alles hinab, was ihnen nicht passt, denn es eilt, die Welt muss gerettet werden. So komme auch ich ins Rutschen und werde unter der letzten Lawine ihrer Wahrheiten begraben.

Und oben steht SIE, die das Wort einst eingeführt hat. Sie setzt eine Miene auf, in der ich das Lächeln der Dolores Umbridge[i] erkenne. Ich stehe ihr gegenüber wie ein allein gelassener Zauberschüler.

In diesem Alptraum mache ich mir klar, dass sich das alternativlose Denken schon lange vorher unter uns breitgemacht hatte, ganz im Kleinen. Vielleicht schon in dem Moment, als das Wort unverzüglich ausgesprochen wurde.

Man musste nur alte Bekannte fragen, wie es Ihnen gehe, und bekam zur Antwort: „Na muss ja.“ Man konnte sich schon vor Jahren von jungen Menschen erklären lassen, wie man heil und sicher in die Rente kommt. Man musste nur sehen, wie immer mehr Menschen den Wunsch verloren, jemand möge sich nach ihrem Tod an sie erinnern. Man musste nur den Sog beobachten, der seit dreißig Jahren die Menschen in die Ballungsräume zieht, als sei es ein ehernes Gesetz, sich mit allem versorgen zu lassen und immer weniger selbst zu verantworten. Das Leben, wie es diese Menschen schildern, ist eine einzige Zwangslage. Mir scheint, einige finden das von ihnen selbst gelebte Leben so schrecklich, dass ihnen der Ausnahmezustand sogar zusagt. Man hat Teil an etwas Großem. Der Verzicht auf Glück, Liebe und Offenheit bekommt einen Sinn. Das Unvermeidliche erkennen und sich ihm fügen heißt auch: all die anderen noch besser verachten zu können, die das nicht tun wollen. Rauf auf das Gebirge! Niemand soll mehr Freude haben!

Weder oben noch unten sein

Wo soll ich also hin? Wenn ich mich ehrlich befrage, denke ich: Auch ich stand schon auf dem Gebirge der höheren Einsicht, von dem man auf andere herabschaut. Aber ich befand mich auch schon im Tal der Verfemten und Beschimpften. Und beim Abrutschen oder wieder Hinaufklettern bemerkte ich, dass der Hang doch Tritte und Vorsprünge aufweist, sogar Wege. Manche enden im Nichts, andere führen zu kleinen Oasen. Hier ist ein Busch, dort ein Baum. Da ist der Boden schlechter, steiniger, dort ist er besser, feuchter, fruchtbarer.

Und hier sind noch andere Leute unterwegs. Es geht Ihnen ähnlich wie mir. Sie wollen weder oben noch unten sein, denn oben ist es kalt und unten ist es dunkel. Sie wollen überall hin gehen können. Sie besiedeln das Gefälle zwischen Aussage und Bedeutung, zwischen Beschreibung und Urteil, zwischen dir und mir. Am Hang kann man abstürzen, sich verletzen. Aber man kann sich auch helfen, halten, die Hand reichen.

Ja, es gibt Fakten, doch was sie bedeuten, entscheiden wir. Und notwendig kann eine Handlung immer nur in Bezug auf etwas anderes sein. An der Abwägung, die daraus folgt, möchten wir beteiligt sein.

Da die große Straße gesperrt ist und da sie und ohnehin den falschen Verlauf hat, nutzen wir kleine Pfade und legen immer mehr neue an. Schritt für Schritt tragen wir das Gebirge ab, denn alle sollen sich letztlich wieder frei bewegen und begegnen können.

Es gibt schon genug Privilegien. Wir brauchen niemanden, dem auch noch die Wahrheit gehört und der sich oben auf sie draufsetzt. Wir haben Zweifel, Fragen, Ideen. Wir lieben das Leben, weil es offen ist.

Der vorliegende Text wurde im Rahmen einer Veranstaltung am 14.11.2021 im Theater am Rand, Zollbrücke in Oderaue öffentlich verlesen.


[i] Dolores Umbridge ist eine Romanfigur aus den Harry-Potter-Bänden von J.K. Rowling. Dolores Umbridge erfüllt als Lehrerin die Forderungen des Zaubereiministeriums, in dem sie in ihrem Unterricht alle Konflikte wegtheoretisiert, damit die Schüler keinerlei praktisch anwendbare Kenntnisse erwerben. Ihr von süßlich kitschiger Kleinmädchenhaftigkeit gekennzeichnetes Auftreten kontrastiert mit ihrer durchaus beschränkten Hinterhältigkeit.

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