Gastbeitrag von Casey Koneth
Am 26. April 2021 erhielt die Anwältin des Arztes Dr. Paul Brandenburg folgende Mitteilung der zuständigen Berliner Staatsanwältin: »Das gegen Ihren Mandanten geführte Ermittlungsverfahren habe ich gemäß §170 Abs. 2 StPO eingestellt.« Damit wurde nach fast vier Monaten eine Ermittlungsakte geschlossen, die den Tatvorwurf »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse« beinhaltet und an kafkaesken Absurditäten kaum zu überbieten ist. Was war passiert?
Prolog: Am 9. Januar 2021 findet auf dem Berliner Alexanderplatz eine Kundgebung von »Querdenken 30« statt. Die Journalistin Sophia-Maria Antonulas ist vor Ort, um für die Zeitung »Demokratischer Widerstand« über die Veranstaltung zu berichten. Dabei hält sie sich an den vorgeschriebenen Mindestabstand, trägt jedoch keine Mund-Nasen-Bedeckung, da sie von der Maskenpflicht befreit ist. Als die Einsatzkräfte der Polizei ihr Attest sehen wollen, händigt sie es ihnen aus. Die Polizisten fordern sie auf mitzukommen, um das Attest abseits der Kundgebung zu überprüfen. Die Journalistin bietet den Polizisten an, dass sie das Attest zur Überprüfung mitnehmen können, weigert sich jedoch, den Bereich der Kundgebung zu verlassen, da sie als Pressevertreterin ihrer Arbeit nachgehen und über die Kundgebung berichten will. Daraufhin wird sie von den Einsatzkräften vom Platz getragen und vierzig Minuten lang in einer Zelle eines Gefangenentransporters festgehalten. Alles zur Überprüfung eines Attests.
Wie die Überprüfung eines solchen Attests ablaufen soll, scheint innerhalb der Polizei nicht eindeutig geregelt. Jedenfalls gibt es dazu unterschiedliche Aussagen vonseiten der Beamten. Eine lautet, es würden formale Kriterien geprüft, etwa ob ein Stempel der Praxis oder die Unterschrift des Arztes vorhanden seien. Doch solche formale Kriterien für die Gültigkeit eines Attests gibt es laut Berliner Ärztekammer nicht. Auf Nachfrage erklärt die Kammer: »Ärztinnen und Ärzte haben bei der Ausstellung von Bescheinigungen gemäß § 25 Satz 1 Berufsordnung der Ärztekammer Berlin mit der erforderlichen ärztlichen Sorgfalt zu verfahren. Bestimmte formale Anforderungen gibt es bei den Bescheinigungen im Zusammenhang mit der MNB nach hiesiger Kenntnis nicht.« Sprich: Auch ein Stempel, für den die Deutschen offenbar noch immer eine besondere Vorliebe hegen, da er ihnen ein Gefühl von Korrektheit und Sicherheit vermittelt, ist für ein ärztliches Gesundheitszeugnis keineswegs vorgeschrieben und sagt daher auch nichts über die Echtheit oder Falschheit eines Attests aus. Ausschlaggebend ist stattdessen, dass die Ausstellung eines Attests auf der ärztlichen Sorgfalt und der wahrheitsgemäßen medizinischen Diagnose des Arztes basiert. Da die Ausbildung zum Polizisten bis dato kein Medizinstudium mit einschließt, dürfte es außerhalb des Kompetenzbereichs der Polizei liegen, eine ärztliche Einschätzung inhaltlich zu beurteilen. Eine andere Aussage von Einsatzkräften lautet, die Überprüfung erfolge anhand einer Datei, in der Ärzte gelistet seien, die vermehrt Atteste ausgestellt hätten. Sie gälten daher als »tatverdächtig«, sogenannte Gefälligkeitsatteste auszustellen. Fundiert erscheint auch dieses vermeintliche Überprüfungsmittel nicht. Denn allein die Anzahl ausgestellter Atteste sagt nichts darüber aus, ob die Atteste mit der nötigen ärztlichen Sorgfalt ausgefertigt wurden, ergo ob sie richtig oder unrichtig sind. Es vermittelt eher den Eindruck, dass Ärzte, die Gesundheitszeugnisse zur Befreiung von der Tragepflicht einer Mund-Nasen-Bedeckung ausstellen, unter Generalverdacht gestellt werden. Laut einer dpa-Meldung vom 30. Dezember 2020 wurden zum Zeitpunkt der Pressemeldung allein beim Berliner Landeskriminalamt (LKA) knapp 100 Ermittlungsverfahren wegen des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse geführt.
Zurück zum Alexanderplatz am 9. Januar: Nach einer Stunde Freiheitsentzug (inklusive vierzig Minuten in einer Gefangenenzelle) beschlagnahmen die Beamten vor Ort das Attest der Journalistin Sophia-Maria Antonulas und erteilen ihr einen Platzverweis. Noch am selben Tag leiten sie zwei Strafanzeigen gegen sie in die Wege. Eine der beiden Strafanzeigen wirft ihr den »Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse« (§ 279 StGB) vor. Der Polizeiakte ist zu entnehmen: »Die Einsatzkräfte des Bearbeitungstrupps konnten nach der Inaugenscheinnahme und Prüfung des vermeintlichen Attests feststellen, dass es sich nicht um ein Original handelt.« Wie die Prüfung des Attests vonstatten ging und wie die Beamten zu dem Schluss kommen, dass das Attest – das ihnen im Original ausgehändigt wurde – kein Original sei, wird in der Akte nicht dargelegt. Im Polizeibericht heißt es lediglich: »Attest ausgestellt durch: Dr. med. Paul Brandenburg, Facharzt für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin, Gelbfieberimpfstelle und Tropenmedizin« (Anm.: Hervorhebung durch die Red.). Letzterer Zusatz ist nicht nur falsch, sondern steht auch gar nicht auf dem Attest, das den Beamten sowohl im Original vorliegt als auch der entsprechenden Polizeiakte in Kopie beiliegt. Wie dieser – frei erfundene – Zusatz in den Polizeibericht gelangt, bleibt ein Rätsel.
Die zweite Strafanzeige wirft der Journalistin das »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse«
(§ 278 StGB) vor. Dieser Tatvorwurf ist bereits juristischer Nonsens, da er laut Strafgesetzbuch voraussetzt, dass ein Arzt das Attest ausgestellt hat, und ausschließlich gegen einen Arzt erhoben werden kann. Wird hingegen jemandem, der kein Arzt ist, vorgeworfen, unberechtigt unter dem Namen eines Arztes ein Attest ausgestellt zu haben, lautet der entsprechende Vorwurf »Fälschung von Gesundheitszeugnissen« (§ 277 StGB). Eine Verwechslung der Paragrafen durch den aufnehmenden Polizeibeamten? Das würde zumindest erklären, warum der Tatvorwurf zwar »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse« (durch einen Arzt) lautet, sich der Polizeibericht aber inhaltlich auf den Vorwurf der »Fälschung« (durch die Journalistin) bezieht.
Damit nicht genug der Ungereimtheiten im Polizeibericht. Auch die von der Polizei gemachten Angaben zum Attest stimmen nicht mit den Daten des ihr vorliegenden Attests überein. So ist dem Attest zwar eindeutig zu entnehmen, dass es sich bei dem ausstellenden Arzt um Dr. Paul Brandenburg handelt, doch in der Strafanzeige wird der Aussteller nun plötzlich mit dem Namen Dr. Paul Beckmann aufgeführt. Ein versehentlicher Übertragungsfehler? Blättert man eine Seite weiter, erfährt man: »Die Überprüfung des Dokuments ergab, dass das Attest von einem fiktiven Arzt ausgestellt wurde.« Der Logik eines Übertragungsfehlers folgend, bei dem der reale Dr. Paul Brandenburg vom Attest versehentlich zum fiktiven Dr. Paul Beckmann im Polizeidokument umbenannt wurde, könnte man hier noch nachvollziehen, wie es zu der Fehleinschätzung kommt, dass der Arzt nicht existiere. Doch die falsche Namensangabe, die sich in das Polizeidokument eingeschlichen hat, wird nicht fortgesetzt. Vielmehr wird direkt nach der Behauptung, es handle sich um einen fiktiven Arzt, nun wieder der richtige Name des realen Arztes Dr. Paul Brandenburg als Aussteller des Attests genannt. Auch die Zusatzbezeichnung »Facharzt für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin« wird richtig angegeben und nicht – wie in der parallel erstellten Strafanzeige – durch einen fiktiven Zusatz (»Gelbfieberimpfstelle und Tropenmedizin«) erweitert. Beide Strafanzeigen, die wie dargelegt sowohl von den Angaben auf dem Attest als auch voneinander abweichen, wurden vom selben Polizeimitarbeiter aufgenommen. Wenn man hier die Hypothese aufstellen wollte, dass die eine Hand nicht gewusst habe, was die andere tat, wäre sie in diesem Fall wortwörtlich zu verstehen.
Abgesehen vom offenkundig fehlenden Tatverdacht und von den groben Schlampigkeiten, die beide Strafanzeigen aufweisen, würden sich die beiden Tatvorwürfe gegen die Journalistin (Fälschung eines Attests und dessen Gebrauch) zumindest dem äußeren Anschein nach noch unter einen Hut bringen lassen. Allerdings lässt sich die geistige Dehnübung kaum noch bewerkstelligen, die es erfordert, um dem weiteren Verlauf noch jegliche Logik abzuringen. Es werden nun zwei kriminalpolizeiliche Ermittlungsverfahren eingeleitet: eines gegen die Journalistin, eines gegen den Arzt. Beiden wird parallel ein und dieselbe Tat zur Last gelegt. Sowohl dem Arzt als auch seiner Patientin wird vorgeworfen, das Attest unrichtig ausgestellt beziehungsweise gefälscht zu haben – obwohl es sich um ein und dieselbe Bescheinigung handelt. Wie ist das möglich?
Zehn Tage nach der Beschlagnahme des Attests auf dem Alexanderplatz wird die Strafanzeige gegen die Journalistin wegen »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse« (§ 278 StGB) um ein wesentliches Detail ergänzt: Als »Beschuldigter« wird nun der Arzt Dr. Paul Brandenburg genannt. Darüber hinaus wird im polizeilichen Schlussbericht an die Berliner Staatsanwaltschaft ein neues vermeintliches Argument aufgeführt: Unter Berufung auf Informationen der Berliner Ärztekammer sei ein »Attest zur Befreiung der Pflicht, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, mit einer zutreffenden Diagnose im Attest zu begründen«. Weiter heißt es im Polizeibericht: »Hierbei ist jedoch keine Diagnose zu verzeichnen (sic!), welche eine derartige Befreiung begründet.« Dem Verfasser ist offenbar ein Grammatikfehler mit Auswirkung auf die Semantik unterlaufen und er wollte eigentlich das Gegenteil sagen, nämlich, dass auf dem vorliegenden Attest keine Diagnose verzeichnet sei, wodurch er zu dem Schluss kommt: »Demnach ergibt sich hierbei der Verdacht, dass es sich um ein Gefälligkeitsgutachten handelt.« Die Ermittler beziehen sich also auf allgemeine Informationen der Berliner Ärztekammer, um den Tatvorwurf zu begründen. Diese Herleitung ist nicht nur haltlos, sondern geradezu irreführend. Denn anders, als es der Polizeibericht suggeriert, handelt es sich bei den herangezogenen Informationen der Kammer nicht um verbindliche Vorgaben.
Die Ärztekammer Berlin stellt auf ihrer Website allgemeine Informationen für Ärzte bereit, die sich auf Ausnahmeatteste bezüglich der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung beziehen. Hierbei handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als eben das: allgemeine Informationen. Die Ärztekammer zitiert unter anderem unterschiedliche Gerichtsentscheidungen, die seit 2020 in unterschiedlichen Bundesländern in unterschiedlichen Einzelfällen bisher ergangen sind. Hier drei Beispiele, aus denen sich bereits ergibt, dass die rechtlichen Anforderungen an ein ärztliches Attest von Fall zu Fall und von Gericht zu Gericht divergieren:
- Das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße habe im Falle eines Schülers entschieden, dass sich aus dem ärztlichen Attest zur Ausnahme von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nachvollziehbar ergeben müsse, auf welcher Grundlage der ausstellende Arzt seine Diagnose gestellt habe und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstelle.
- Ein Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin laute, wenn das ärztliche Attest nicht ausreichend aussagekräftig sei, könne der Grund für eine Ausnahme von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auch durch die Patientin oder den Patienten gegenüber der Behörde dargelegt werden.
- Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg habe mit einer Eilentscheidung vom 4.1.2021 die Vorschrift der Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Brandenburg, mit der verbindliche Inhalte der ärztlichen Bescheinigung vorgeschrieben worden waren, insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als dass das ärztliche Zeugnis die konkret zu benennende gesundheitliche Beeinträchtigung (Diagnose) sowie konkrete Angaben beinhalten müsse, warum sich hieraus eine Befreiung von der Tragepflicht ergebe.
Kurzum: Bei den Informationen der Berliner Ärztekammer, auf die sich die Polizei beruft, handelt es sich in keiner Weise um den Versuch einer rechtsverbindlichen Vorgabe, sondern lediglich um die Wiedergabe einer Reihe widersprüchlicher Gerichtsentscheidungen. Zu inhaltlichen Vorschriften an Ärzte bezüglich der Ausstellung von Attesten wäre die Kammer ohnehin rechtlich nicht befugt. Dies muss zumindest den Juristen der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft bekannt sein. So weist die Ärztekammer selbst darauf hin: »Die Ausnahme von der sogenannten Maskenpflicht wegen gesundheitlicher Gründe sorgt für einige Rechtsunsicherheit.« Ihre Hinweise sind offenkundig lediglich unverbindliche Empfehlungen, die ihren Mitgliedern im Dschungel der unübersichtlichen Rechtslage eine Orientierung bieten sollen. Wie die polizeilichen Ermittler dennoch dazu kommen, die unverbindlichen Hinweise als Grundlage für den Tatvorwurf »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse« zu deuten, ist nicht nachvollziehbar. Aus dem Landeskriminalamt (LKA) ist zu erfahren, dass die Ermittler die interne Anweisung haben, die Informationen der Ärztekammer Berlin dahingehend zu »interpretieren«, dass auf einem Attest eine Diagnose stehen müsse. Wenn dem so ist, diente die gezielte Fehlinterpretation unverbindlicher Informationen dem LKA als Mittel, um einen Tatverdacht zu fingieren.
Um die Farce noch einmal zu rekapitulieren: Anfangs wird gegen eine Journalistin der Tatvorwurf erhoben, ein unrichtiges Attest zur Befreiung von der Maskenpflicht gebraucht zu haben. Dieses Attest soll sie selbst gefälscht haben, da der ausstellende Arzt nicht existiere. Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wird dann der – real existierende – Arzt beschuldigt, ein unrichtiges Gesundheitszeugnis ausgestellt zu haben, da auf dem Attest keine Diagnose verzeichnet sei. Diese Begründung basiert wiederum auf der fehlerhaften Interpretation eines unverbindlichen Informationsblattes für Ärzte.
Beide Vorgänge werden dann an die Staatsanwaltschaft übergeben, wo sie auf zwei unterschiedlichen Schreibtischen landen und getrennt voneinander bearbeitet werden. Während der eine Staatsanwalt der Journalistin die »Fälschung« ihres Attests zur Last legt, ermittelt der andere Staatsanwalt gegen den Arzt wegen des Vorwurfs »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse«. Wohlgemerkt: Obwohl es sich in beiden Verfahren um ein und dasselbe Attest handelt und sich beide Tatvorwürfe gegenseitig ausschließen. Es vergehen weitere Monate, ehe schließlich beide Verfahren im Abstand von einer Woche von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden. Bis heute liegt das Attest in der Asservatenkammer. Zum Ausgang des fast vier Monate andauernden Verfahrens äußert sich Dr. Paul Brandenburg so: »Ich bin erleichtert, dass der Irrsinn endlich ein Ende hat. Ich habe das Verfahren als reine Schikane empfunden.«
Die Ungereimtheiten in der Polizeiakte sowie die Dauer der Ermittlungsverfahren anlässlich eines Gesundheitszeugnisses machen einen stutzig. Ein skurriler Einzelfall? Angesichts der Antwort des Berliner Senats vom 17. März 2021 auf die Schriftliche Anfrage einer Abgeordneten der Grünen kann man daran zweifeln. Laut Senat wurden in Berlin bis zum Zeitpunkt der Anfrage 44 Strafverfahren gegen Ärzte wegen »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse« mit Bezug zur Maskenpflicht eingeleitet. Zwölf davon wurden bereits wieder eingestellt. Es drängt sich die Frage auf, ob hier Ärzte, die Atteste über eine Maskenpflichtbefreiung ausstellen, systematisch verdächtigt und strafrechtlich verfolgt werden. Nicht zuletzt stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt die Berliner Ärztekammer, auf die sich die Ermittler im geschilderten Fall berufen? Auf ihrer Internetseite gibt die Ärztekammer bekannt, dass sie »einer Reihe von Anzeigen« nachgehe, »wonach Ärztinnen und Ärzte sogenannte Gefälligkeitsatteste zur Vermeidung der Maskenpflicht ausgestellt haben sollen«. Im Schreiben des Berliner Senats wird die Anzahl der berufsrechtlichen Verfahren, die die Ärztekammer Berlin in eigener Zuständigkeit führe, mit 34 Fällen beziffert. In 17 Fällen sei das Verfahren eingestellt worden und in vier Fällen Strafanzeige erstattet worden. Die Ärztekammer sieht sich in diesen Fällen laut eigener Aussage jedoch in einem »gewissen Dilemma«. Nicht etwa, wie man vermuten könnte, weil sie zwischen die Stühle der eigenen Zunft und der Exekutive geraten wäre. Sondern weil sie keine rechtliche Handhabe habe, den Ärzten die Behandlungsunterlagen gegen den Willen der Patienten abzunehmen. Der Ärztekammer bleibe dann »lediglich die Möglichkeit einer Abgabe des Falles an die Staatsanwaltschaft, die die Unterlagen unter bestimmten Voraussetzungen beschlagnahmen lassen kann«. Das klingt fast so, als beklage sich die Ärztekammer darüber, dass ihr hinsichtlich der ärztlichen Schweigepflicht und des Vorgehens gegen die eigenen Mitglieder rechtlich die Hände gebunden sind. Dies deutet darauf hin, dass die Berliner Ärztekammer die anscheinend systematische und ungerechtfertigte Strafverfolgung eigener Mitglieder unterstützt.
In dubio pro reo? Die Unschuldsvermutung »im Zweifel für den Angeklagten« verlangt nicht nur, dass ein Verdächtigter oder Beschuldigter so lange als unschuldig anzusehen ist, bis seine Schuld bewiesen ist. Sondern sie beinhaltet auch, dass ein Ermittlungsverfahren nur bei ausreichendem Anfangsverdacht und nicht aufgrund bloßer Vermutungen eingeleitet werden darf. Laut Strafprozessordnung (StPO) müssen Ermittlungen eingeleitet werden, wenn »zureichende tatsächliche Anhaltspunkte« für eine Straftat vorliegen. Wie der oben erläuterte Fall und die Vielzahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren zeigen, scheinen in Bezug auf Atteste über die Maskenpflichtbefreiung die nötigen Anhaltspunkte jedoch sehr großzügig im Sinne des Tatvorwurfs »Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse« ausgelegt zu werden. Wenn Ärzte, die ein Attest ausstellen, schon allein deswegen einer Straftat verdächtigt werden, weil das Attest ihren Patienten von der Maskenpflicht befreit, ist der Übergang zum Generalverdacht fließend. Ein Generalverdacht wird dadurch definiert, dass er schon ohne konkrete Anhaltspunkte gehegt wird und sich verallgemeinernd gegen eine bestimmte Personengruppe richtet. Damit verstößt er gegen die Unschuldsvermutung und ist keine geeignete Grundlage für polizeiliche Ermittlungen. Wo die Unschuldsvermutung aufhört und der Generalverdacht anfängt, bleibt im Falle der Ermittlungen gegen Ärzte, die ein Attest zur Maskenpflichtbefreiung ausstellen, eine offene Frage.
Gastbeiträge geben die Meinung des Autors/der Autorin wieder.
1bis19 bietet eine Plattform für vielfältige Meinungen und Kommentare.