3G, 2G, Ausgrenzung? In Spanien setzt die Justiz der Politik aktuell Grenzen, das Leben geht weiter

Ein Kommentar von Camilla Hildebrandt

Lesedauer 8 Minuten
Verbotsschild auf Teneriffa
© Camilla Hildebrandt

Zahlen und Fakten in Spanien

  • 79 % der Bevölkerung ist geimpft, 87,8 % über 12 Jahre
  • keine Impfpflicht
  • in Innenräumen müssen Masken getragen werden
  • im Außenbereich muss keine Maske getragen werden, solange ein Abstand von 1,5 Meter eingehalten wird
  • Schulen, Bars, Theater, Restaurants, Tanzschulen, Fitnessstudios, kleine Konzertsäle sind für alle zugänglich, mit Maske

Das Leben mit Maske

Das Tragen der Maske bezeichne ich als den kleinsten gemeinsamen Corona-Nenner, der hier von der großen Mehrheit akzeptiert wird. Diskutiert wird so gut wie nicht darüber. Sobald die Maske auf Mund und Nase sitzt, bunte Stoffmasken, FFP2, OP und netzartige Masken, die an Schleier erinnern, scheint alles gut zu sein und auch Abstände nicht mehr wichtig. Zwar kann man in Zeitungs-Kommentaren lesen, wie sinnlos die Masken, zumindest im Freien, seien, aber obwohl draußen die Maske nicht vorgeschrieben ist, sind viele einsame Jogger damit unterwegs, Spaziergänger am Strand, Motorradfahrer, Fußgänger. Der Kommentator von El Español, Guillermo Ortiz schreibt dazu am vierten Oktober 2021:„Warum wir in Spanien beschlossen haben, dass Covid-19 nicht mehr existiert“:

Wenn die Delta-Variante nicht mit uns zurechtkam, wer wird es dann in Zukunft können? In der Überzeugung, dass die Antwort „Niemand“ lautet, werden Masken in öffentlichen Räumen – die wahrscheinlich von Anfang an unnötig waren – immer seltener, die Innenräume von Bars und Restaurants füllen sich ohne Angst, und bei Sportveranstaltungen, in Kinos und Theatern kehrt langsam wieder Normalität ein.

Die Schulen waren in Spanien zwar fast durchgängig während der Krise offen, aber die Kinder mussten grundsätzlich Maske tragen, auch aktuell auf dem Schulhof. Kontakt dürfen sie in den Pausen nur mit Schülern derselben Klasse haben, man bleibt in seiner Blase, abgezäunt durch Markierungen. Nach der Schule warten fast alle Eltern im Freien und mit Maske auf ihre Schützlinge, die sich dann in ihrer Freizeit mit anderen Kindern, ohne Maske, treffen. Elternabende sind ausschließlich online. So erlebe ich es hier auf den Kanaren.

Achtung, da ist die Polizei, du hast die Maske nicht auf“, sagt der 11-jährige Pablo kürzlich auf dem Weg durch die Stadt zu mir. „Stimmt“, sage ich, „aber das ist keine Pflicht mehr“. Er schaut mich verwundert an, und er und sein Vater gehen mit Maske weiter.

Impfpflicht und Ausgrenzung per 3G – abgelehnt

Es gibt keine Impfpflicht und kein Arbeitsverbot für bestimmte Berufe in Spanien. Vorstöße dazu wurden vom Obersten Gericht abgelehnt. Auch der Forderung der Regierung der Kanarischen Inseln, für den Zugang zu Gastronomie- und Beherbergungsbetrieben ein Covid-Zertifikat oder einen Diagnosetest zu verlangen, erteilte der Oberste Gerichtshof der Kanarischen Inseln (TSJC) eine Absage.

María, Krankenschwester aus Madrid, erzählt: „Bei uns hatten alle Covid im Krankenhaus und bei meinem Einstellungsgespräch wurde ich gefragt, ob ich geimpft bin. Verpflichtend für die Einstellung ist das aber nicht.“ Dennoch wird die Impf-Vorraussetzung für Pflege- und Gesundheitsberufe immer wieder diskutiert. Laut Juan de la Cruz Ferrer, Jurist und Dozent an der Universität Complutense in Madrid (UCM), „muss man sich zunächst die Verfassung ansehen, die die Freiheit garantiert, Einschränkungen der Freiheit müssten per Gesetz erfolgen“. In dem Artikel „Kann Spanien die Arbeitnehmer zwingen, sich gegen Covid zu impfen oder alle drei Tage einen PCR-Test durchführen zu lassen, wie es Italien vorgeschrieben hat?“ vom 18.09.2021 heißt es: „Im Prinzip“ sei er nicht dafür, eine Maßnahme wie die italienische allen Arbeitnehmern aufzuerlegen, aber er sei der Meinung, dass sie „für bestimmte Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeitnehmer gefährdet ist oder Dritten Schaden zufügen könnte“, neu bewertet werden könnte.“
In den Gesundheitsberufen stehe man sehr unter dem gesellschaftlichen Druck sich impfen zu lassen, sagt Roberta López* (* Name von der Redaktion geändert), seit 20 Jahren Ärztin auf den Kanaren. „Jeden Tag werde ich gefragt, wann ich mich impfen lasse. Aber ich werde es nicht tun, da ich kein Vertrauen in diese Vakzine habe“. Angst vor einer Entlassung habe Roberta jedoch nicht.

Die meisten sind hier geimpft, offiziell 79%, und halten die Impfung für richtig und wichtig. Wer nicht geimpft ist, wird aber akzeptiert, das ist meine Wahrnehmung. Guillermo Ortiz: „Was die Impfpflicht betrifft, so hat Spanien, ein Land, das sich gerne in jeden Schlamassel verwickelt, eine Lektion erhalten: Wenn die Debatte über dieses Thema minimal war, dann vor allem deshalb, weil es nicht notwendig war, jemanden dazu zu zwingen. Die Impfquoten sind sehr hoch, und es gibt natürlich Vorbehalte, aber nicht in Form von aktivem Widerstand. Es gibt diejenigen, die Impfstoffe für Betrug halten, und diejenigen, die sie für ein Allheilmittel halten (…). Die Entscheidung, die Impfung nicht verpflichtend zu machen, hat den Erfolg der Kampagne wahrscheinlich sogar noch verstärkt. Dies ist nicht in allen Ländern der Fall.“

Ausgrenzung kann ich aktuell nicht erleben, aber eine zunehmende Ablehnung der aktuellen Corona-Maßnahmen – der Maske. Wenn man die Menschen konkret darauf anspricht, heißt es: „Wenn es nach mir ginge, müssten die Kinder auf keinen Fall beim Tanzen im Innenraum Masken tragen, aber ich verliere meinen Job, wenn ich das nicht mache“ (Tanzschule). Oder: „Ich bin geimpft, was andere machen, ist ihre Sache. Aber warum gibt es keine Spielsachen auf dem Schulhof?“ (Eltern in der Schule). Der Schneider im Dorf hat gar keine auf. Die spanische Gesundheitsministerin spricht von der Beibehaltung der Maske auch für die nächste Grippe-Periode.

Lennart, der seit einigen Monaten auf Lanzarote lebt, hat auch andere Erfahrungen gemacht. Ob er keine Verantwortung für die älteren Mitmenschen verspüre, wurde ihm lautstark vorgeworfen, und dass er sich ja nicht bei ihm zuhause blicken lassen solle, so ein Kollege, denn die Großmutter sei durch ihn massiv gefährdet.
Die meisten akzeptieren hier, ohne nachzufragen, alles, was vorgegeben wird, resümiert Lennart. Sein Arbeitsgeber hingegen ist aufgeschlossen. Dass Lennart nicht geimpft ist, stört ihn nicht.

Bankrotterklärung und offene Diskriminierung im HighTech-Land Deutschland

Die Zahlen sind in Deutschland und Spanien dieselben: Rund 80 Prozent der Bevölkerung ist geimpft. In Deutschland hat das RKI allerdings erst jetzt zugegeben, dass die Impfquote höher, d.h. aktuell bei 80% liegt. Die Zahlen könnten allerdings nur geschätzt werden, so Institutsleiter Wieler, da die technischen Mittel der digitalen Erfassung nicht ausreichend seien: „Man sei bei der Ermittlung der Impfquote auf das sogenannte Digitale Impfquotenmonitoring (DIM) angewiesen. Die Anwendung und Zuverlässigkeit dieses Meldesystems liege „ausschließlich in der Hand der impfenden Stellen (Impfzentren, Impfteams, Krankenhäuser, Arztpraxen, Betriebsärzte)“.

Eine Bankrotterklärung im HighTech-Land Deutschland, vor allem vor dem Hintergrund, dass wir uns offiziell immer noch in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite befinden aufgrund eines tödlichen Virus, gegen den die Impfung uns schützen soll. Viele Leitmedien berichten auch weiterhin von 65 % und beklagen die niedrige Impfquote.

Per 3G- oder 2G-Regel (geimpft, genesen oder getestet) werden nun Ungeimpfte offen diskriminiert und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Zu Kinos, Theater und Wellnessbereichen haben nur Getestete und Geimpfte Zutritt, in Schulen verlangt man drei Mal pro Woche einen Selbstzahlertest, Studenten müssen jeden Tag einen Anti-Covid-Test vorweisen, Restaurants dürfen selbst entscheiden, ob sie Ungeimpfte ganz ausschließen oder nicht, und deutschlandweit soll nun dem Lebensmittelhandel die 2G-Option angeboten werden. Mit dieser Diskriminierung Ungeimpfter tritt Deutschland die Menschenrechte der UN-Charta, welche Deutschland 1973 unterzeichnet hat, und die Grundrechte, verankert in der Verfassung, mit Füßen, die Justiz schaut weitgehend tatenlos zu.

Weiterleben ohne Nachzufragen – Der Covid, gefangen und unbewaffnet, ist verschwunden

Auf den Kanaren und in Spanien hingegen lebt jeder weiter, wie er kann, so ausgelassen und feierfreudig, wie er dazu bereit ist, trotz Corona-Virus. Bei uns im Dorf sehe ich niemanden mit Maske, nur die Touristen. Meine beste Freundin ist geimpft und überzeugt, dass es das Beste ist und dass es ohne die sehr harten Maßnahmen am Anfang der Corona-Zeit wesentlich mehr Tote gegeben hätte. Sie kennt mehrere, die an Covid verstorben sind. Dass das Gesundheitssystem in Spanien immer sehr unzureichend war, an allen Ecken und Enden gespart wurde und wird und jeder, der kann, sich eine Privatzusatzversicherung zulegt, lässt sie, als Krankenschwester, aber gelten. Weiter darüber nachgedacht wird jedoch nicht.
Wir sind immer Freundinnen geblieben, ganz gleich, welche Meinung wir zu Corona haben. Denunziationen gab es viele in Spanien zu Beginn der Corona-Krise. Die sind nun weitestgehend verschwunden. Die Menschen sind müde, wollen leben. „Manchmal hält man es einfach nicht mehr aus, und das war’s. Manchmal sind Sie einer von uns, und manchmal sind Sie ein ganzes Land, zum Beispiel Spanien. Seit Ende Juli, als der Impfschutz die berühmte 50 %-Marke überschritt und die Zahl der Fälle der explosiven Sommerwelle zu stagnieren begann, seufzten praktisch alle von uns erleichtert auf und sagten: „So viel zum Thema, die Pandemie ist vorbei.“ Der Covid, gefangen und unbewaffnet, ist verschwunden. Wir packten unsere Koffer und fuhren in den Urlaub.“ (Guillermo Ortiz)

Dasss Covid-19 nach wie vor Thema Nr 1. in vielen Medien anderer Länder ist, erstaunt den Kommentator von El Español, Guillermo Ortiz: „Hier in Spanien ist diese Medienaufmerksamkeit überraschend, weil wir bereits in andere Sachen verwickelt sind: die üblichen politischen Querelen, alltägliche soziale Skandale oder Naturkatastrophen. Das hat viel damit zu tun, dass wir unsere Probleme bereits gelöst haben oder es vorgezogen haben, sie zu ignorieren: Zunächst einmal waren die Landgrenzen zu Portugal, Frankreich oder Marokko nie geschlossen. Es gab und gibt immer noch Einreisebeschränkungen für verschiedene Länder, je nach Pandemiesituation, und es wird eine Impfung verlangt… aber nichts von dem, was von der Trump-Administration und dann von der Biden-Administration in den USA eingeführt wurde.“

Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen

Wird die Politik der spanischen Regierung, der zweimonatige komplette Lockdown (die Bevölkerung wurde zuhause eingeschlossen, das Militär kontrollierte die Straßen, es gab hohe Strafen für Verweigerer), das prekäre Gesundheitssystem, die massiven Kollateralschäden im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, psychologischen Bereich jemals aufgearbeitet? Nein, sagt Guillermo Ortiz in seinem Kommentar:

„Und wenn doch, würde das Thema nach vierundzwanzig Stunden jedes Interesse verlieren. Es gibt keine ernsthafte Bereitschaft, zu überprüfen, was falsch gelaufen ist, oder sich mit der Vergangenheit zu befassen. Nicht einmal die politischen Parteien, wohl wissend, dass sie damals alle Fehler gemacht haben, wollen das tun. Fehler sollte man im Nachhinein besser nicht nachprüfen, es könnte sie in einem schlechten Licht dastehen lassen. Es ist eine Mischung aus Parteilichkeit und Pandemie-Müdigkeit.“

Am 22. Oktober 2021 hat die spanische Regierung jedoch bekannt gegeben, dass die Bußgelder, welche die Bürger während des ersten Alarmzustands von März bis Juni 2020 in Spanien zahlen mussten, zurückgezahlt werden müssen.

Hintergrund ist: Der Alarmzustand und die damit gerechtfertigten Maßnahmen wurden durch königlichen Erlass beschlossen. Diesen Erlass erklärte das Oberste Verfassungsgericht im Juli 2021 für verfassungswidrig.

Die Zeitung El País schreibt dazu:
„Das Gericht, das aufgrund der Eingabe der Partei Vox darüber entschieden hatte, vertrat die Auffassung, dass die Ausrufung des Ausnahmezustands, der nur vom Parlament auf Vorschlag der Exekutive verhängt werden kann, erforderlich ist, um einen Lockdown der gesamten Bevölkerung zu beschließen. Das Verfassungsgericht hob am Mittwoch (14. Juli 2021) mit sechs gegen fünf Stimmen – ein Richter war vor neun Monaten zurückgetreten und wurde noch nicht ersetzt – die härtesten Maßnahmen des Notstandsdekrets auf (…)“.

Nach Angaben des Innenministeriums sind in Spanien rund 1 Million Bußgelder während des ersten Alarmzustands in ganz Spanien erhoben worden. Laut www.europapress.es hat nun das Ministerium für Territorialpolitik (Ministerio de Política Territorial) eine Arbeitsgruppe gebildet, um die Rückgabe aller Bußgelder zu veranlassen, „und um die Akten zu annullieren, die noch von der Verwaltung bearbeitet wurden.“

Ein erster Schritt zur Aufarbeitung?

„Der Schaden, den der Lockdown 2020 vor allem bei jungen Menschen angerichtet hat, ist größer, als jeder Experte es hätte vorhersehen können“

In dem Artikel „Selbstmord, die stille Bedrohung hinter der Pandemie“ in der Zeitung El País vom Juli 2021 sagt Celso Arango, Leiter der Psychiatrie am Krankenhaus Gregorio Marañón in Madrid: „Der Schaden, den der Lockdown 2020 bei der Bevölkerungsgruppe der jungen Menschen angerichtet hat, ist größer, als jeder Experte es hätte vorhersehen können„. Die Pandemie habe die psychische Gesundheit der Bevölkerung regelrecht erschüttert, so Psychiater und Psychologen. Die vorläufigen Daten des Statistischen Bundeamtes INE für die ersten fünf Monate des Jahres 2020 deuten zwar auf einen Rückgang gegenüber dem Vorjahr hin, aber Studien, die von Nichtregierungsorganisationen wie der Stiftung ANAR durchgeführt wurden, besagen etwas anderes: 2020 gab es 145 % mehr Anrufe über Suizidpläne oder -versuche von Minderjährigen als 2019. Und nach Angaben der Hochschule für Psychologie in Madrid haben die Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche im Jahr 2020 insgesamt um fast 250 Prozent zugenommen.

Man lebt eben weiter hier auf den Kanaren und in Spanien, so gut wie es geht, mit vielen Festen, vielen Umarmungen, mit Kindern, die in der Schule Masken tragen und in der Freizeit mit denselben Kindern, die sie in der Schule nicht treffen dürfen, da sie in anderen Klassen sind, spielen. Man lebt weiter, offiziell mit Maske oder auch ohne, mit dem Virus, ohne 3G.


Zitate aus: Warum wir in Spanien beschlossen haben, dass Covid-19 nicht mehr existiert
14. Oktober 2021 von Guillermo Ortiz
https://www.elespanol.com/mundo/20211014/espana-decidido-covid-19-no-existe/619189298_0.html

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