„Was muss eigentlich noch passieren, damit ihr es kapiert?“

Ein Kommentar von Camilla Hildebrandt

Lesedauer 6 Minuten
1bis19-Was muss eigentlich noch alles passieren
© Camilla Hildebrandt

Deutschland überschlägt sich in der Weihnachtszeit, in Vorbereitung auf das Fest der Liebe, regelrecht mit der zunehmenden Schuldzuweisung Ungeimpfter. Ungeimpfte sind die neuen Schuldigen. Schuldig für den Zustand des Landes, schuldig für die Situation in den Krankenhäusern, schuldig für die Spaltung der Gesellschaft. „Dank euch (Ungeimpfter) droht der nächste Winter im Lockdown“, kann man zur besten Sendezeit in den ARD-Tagesthemen von einer MDR-Kommentatorin hören. Die Ungeimpften also lieber gar nicht mehr aus dem Haus lassen, denn sie sind der „Appendix der Gesellschaft“. Oder wie es Sarah Bosetti, ihres Zeichens Autorin für die Öffentlich-Rechtlichen Medien, formuliert: „Wäre die Spaltung der Gesellschaft wirklich etwas so Schlimmes? Sie würde ja nicht in der Mitte auseinanderbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“ Aber einschließen wäre zu drastisch, wir schließen sie lieber aus. Kein Theaterbesuch für Ungeimpfte, kein Shopping – nur Lebensmittel -, keine Konzerte, keine Treffen, keine Barbesuche. Moderatoren-Kollegen verlieren ihren Job und beenden jäh ihre Karriere, weil die Regierung und der Sender 2G beschließen, Krankenpfleger werden freigestellt, weil sie über leere Betten berichten, Cafés geschlossen, weil die Betreiber es wagen, Ungeimpfte zu bedienen, Unternehmen rufen dazu auf, Kollegen zu denunzieren, die vielleicht gefälschte Impfpässe besitzen.

Impfplicht für Schuldige

Nun soll es schon im Frühjahr 2022 eine Impfpflicht mit nicht ausgetesteten Impfstoffen geben, die Geimpfte weder davor schützten sich anzustecken, noch das Virus zu übertragen, schwer zu erkranken oder an Covid zu sterben. Impfstoffe, die nach sechs Monaten ihre Wirkungskraft verlieren, so das Ergebnis mehrerer Studien. Und gegen die neue Virus-Mutation Omikron, so Biontec-Hersteller Ugur Sahin, fällt der Schutz für zweifach Geimpfte zudem teilweise drastisch ab. „Vorläufige Laborstudien zeigten, dass zwei Dosen deutlich geringere Neutralisierungstiter gegen Omikron aufweisen.“ Aber egal, dann lassen wir uns eben drei-, vier- oder fünfmal impfen. Und wenn endlich alle durchgeimpft sind, wird alles gut. Dann gibt es kein Covid mehr oder zumindest nur harmlose Infektionen. Und unsere Intensivstationen sind endlich nicht mehr dramatisch überfüllt. Denn da liegen nur Corona-Patienten, oder?

Der Bankkaufmann und ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn sagte Ende November 2021:„Diese (ungeimpften) Menschen würde ich am liebsten auf eine Intensivstation zerren und sie im Angesicht des Leids fragen: Was muss eigentlich noch passieren, damit ihr es kapiert?“

Nur den offiziellen Quellen vertrauen

Da Bürger und Bürgerinnen „keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen (glauben sollen), die wir immer auch in viele Sprachen übersetzen lassen“ – so die ehemalige Bundeskanzlerin in ihrer TV-Rede vom März 2020 – , konsultiere ich das RKI-DIVI-Intensivregister, um zu verstehen, was die Schuldigen vermeintlich nicht kapieren, und kann Folgendes nachlesen:

– Seit April 2020: Die Intensivbetten sind mit 20.000 Patienten kontinuierlich belegt,
keine zahlenmäßigen Veränderungen
– Von rund 20.000 belegten Intensivbetten im Dezember 2021 sind rund 4900 mit Covid-Patienten belegt, etwas weniger als ein Viertel
– Rund 50% der Verstorbenen über 60 waren doppelt geimpft

Aufgrund der Horrormeldungen in den Leitmedien kommt der Leser aber schnell zu der Vermutung, die Intensivstationen seien vor allem mit Covid-Patienten belegt. Die Zeitreihe des RKI besagt aber eindeutig: Die Anzahl der aktuell rund 4900 Covid-Patienten auf den Intensivstationen
(Stand 09.12.2021) nimmt aktuell etwas zu, Covid-Patienten machen dennoch nur ein Viertel der Intensivpatienten aus.

Die Ungeimpften sind also die Schuldigen?

Was würde passieren, wenn alle geimpft wären? Geimpfte würden Geimpfte anstecken, denn das tun sie aktuell und werden es auch noch morgen tun. Und wenn alle geimpft sind, liegen vor allem nur noch Geimpfte der Risikogruppe mit Covid auf den Intensivstationen. Aber sie werden dort liegen, denn kein Impfstoff der Welt verhindert die Ansteckung und Übertragung von Covid, noch verhindert er mit Sicherheit einen schweren oder gar tödlichen Verlauf, wie man es im wöchentlichen COVID-19-Lagebericht vom 02.12.2021 nachlesen kann:

Auf Intensivstation betreute symptomatische COVID-19-Fälle:
60 Jahre und älter: 44,5% vollständig geimpft

Verstorbene symptomatische COVID-19-Fälle:
60 Jahre und älter: 48% vollständig geimpft

Die Intensivstationen sind am Limit! Patienten müssen ausgeflogen werden! Kommt die Triage?

Wenn aber nur ein Viertel der Intensivbetten – so das RKI – mit Covid-Patienten belegt ist, mit geimpften und ungeimpften Covid-Patienten, warum sind dann die Intensivstationen am Limit, bzw. warum sind die Intensivstationen überhaupt im Hightech-Deutschland am Limit?
Ich konsultiere erneut das RKI-DIVI-Intensivregister:

– Mai 2020, Anzahl an Intensivbetten: rund 33.000 (plus 10.000 Notfallbetten)
– August 2020, Anzahl an Intensivbetten: rund 28.000 (plus 10.000 Notfallbetten)
– Januar 2021, Anzahl an Intensivbetten: rund 23.000 (plus 10.000 Notfallbetten)
– Dezember 2021 – Anzahl an Intensivbetten: 23.500 (Notfallbetten können voraussichtlich nicht betrieben werden, da kein Personal vorhanden ist)

Wir haben also rund 33.000 Intensivbetten auf 23.500 abgebaut, obwohl seit April 2020 eine permanente Belegung von 20.000 Betten nachzuweisen ist. Noch dazu wissend, dass die Betten zu Dreivierteln mit Nicht-Covid-Patienten, sondern also Bürgerinnen und Bürgern mit anderen schweren Krankheiten belegt sind.

RKI-DIVI:
„Ab etwa Mitte Oktober 2020 sinkt die Anzahl der freien betreibbaren Betten bis Ende Dezember und ist seitdem auf einem etwa gleichbleibenden Niveau von ca. 3.500 freien Betten und 20.000 belegten Betten.“

Was haben die – ungeimpften – Schuldigen nicht „kapiert?

Meine Antwort auf Herrn Spahns rhetorische Frage, was Ungeimpfte eigentlich nicht kapieren, lautet also nach eingehender Studie der RKI-Informationen:

Ich kapiere, Herr Spahn, dass die Bundesregierung mit Ihnen als Gesundheitsminister und
Frau Merkel als Kanzlerin eine fatale Gesundheitspolitik betrieben hat und die neue Bunderegierung diese fatale Gesundheitspolitik weiterführen wird. Ich kapiere, dass unser Gesundheitssystem nicht zum gesundheitlichen Wohle der Menschen, sondern im Sinne der Wirtschaftlichkeit funktioniert. Ich kapiere, dass Intensivbetten mitten in der Pandemie wissentlich auf ein Minimum abgebaut wurden. Ich kapiere, Herr Spahn und Herr Lauterbach, dass ein Krankenhaus, wenn es nur wenige Intensivbetten zur Verfügung hat, schnell am Limit ist und nach Hilfe schreit, wobei erschwerend hinzukommt, wenn Pfleger und Krankenhauspersonal erbärmlich schlecht für ihren Job bezahlt werden und die geplante Prämie für die Genannten natürlich nicht jetzt kommen wird.
„Das Geld ist da, doch die neue Ampel-Regierung kann sich nicht auf die Formalitäten einigen.“

Ich kapiere, Herr Spahn, Herr Lauterbach, Herr Scholz und Frau Merkel, dass, wenn eine Regierung zulässt, während einer weltweiten Pandemie, verursacht durch einen tödlichen Virus, über
20 Krankenhäuser zu schließen, weil sie nicht rentabel wirtschaften, die Regierung bei dieser Entscheidung kaum an die Gesundheit der Bürger und Bürgerinnen gedacht haben kann.

Der Fehler liegt im Finanzierungssystem. Kleinere Kliniken sind wichtig für die Daseins-Vorsorge. Aber sie haben kaum eine Chance, kostendeckend zu arbeiten.“

Ich kapiere auch, dass die Notfallreserve der Intensivbetten zwar mit Millionen-Geldern aufgebaut wurde, aber zu keinem Zeitpunkt hätte betrieben werden können, weil kein Pflegepersonal dafür vorhanden ist. Denn so steht es in der offiziellen Quelle geschrieben, dem RKI-Intensivregister. Denn nachdem ich das Genannte erneut zu Rate gezogen – Abschnitt Zeitreihen, zusätzliche Reihen – und aufmerksam studiert habe, finde ich unter „Wie ist der Rückgang von Betten zu erklären“ eine sehr lange Beschreibung, warum aktuell nur 3.500 betreibbare Betten zur Verfügung stehen und am Ende den wichtigen Satz: „Der entscheidende Faktor für die Betreibbarkeit eines Bettes ist das medizinische Fachpersonal.“

Ich kapiere vor allem, dass die Ungeimpften mit Sicherheit nicht schuld sind, weder an den fehlenden Intensivbetten, noch an der aktuellen Situation als Resultat der katastrophalen Gesundheitspolitik und der zerstörerischen Suche nach Schuldigen. Auch wenn Nikolaus Blome, Spiegel-Kommentator, seine Niederschrift zur aktuellen Lage mit „Wir Geiseln der Ungeimpften“ betitelt.

Und für die Zukunft kapiere ich, Herr Spahn – „Ich geben Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben“ – , dass sich die Worte eines deutschen Politikers auf Regierungsebene wie eine Feder im Wind biegen und verändern lassen und ihre Richtung wechseln, je nach Bedarf. Denn verkündete nicht Herr Lauterbach… „Wenn die Impfung gut wirkt wird sie auch freiwillig gemacht. Dann keine Impflicht nötig. Wenn sie viele Nebenwirkungen hat oder nicht so gut wirkt verbietet sich Impflicht“ ? Deswegen gibt es ja auch keine Spaltung der Gesellschaft – „Weil eine lautstarke Minderheit sehr radikal vorgeht, dürfen wir nicht für die gesamte Gesellschaft eine Spaltung unterstellen. Das halte ich für eine falsche Betrachtung“, so der neue Bundeskanzler Scholz. Und beteuerte nicht noch vor der Wahl der ehrenwerte Herr Kubicki von der FDP, „Überlegungen, dass Ungeimpfte in einen Lockdown gehen sollen, wenn die Corona-Zahlen steigen, stehen nicht nur gegen den Geist unserer Verfassung, sondern vertiefen die gesellschaftliche Spaltung, die die bisherige Corona-Politik hauptsächlich verursacht hat, immer weiter.“ Aber egal, einmal an der Regierung, ist eh alles Geschwätz von gestern und die FDP stimmt entgegen allen vorherigen Aussagen bei der Bundestags-Abstimmung für die Teil-Impfplicht.

Ich war gestern auf dem Weihnachtsmarkt, anschließend auf einem Konzert. Ein wunderbarer Tag, voller Lebensfreude, Menschlichkeit, Weihnachtsstimmung. 3G, 2G oder 1G gab es bis dato nicht hier auf den Kanaren. Seit dem 10. Dezember 2021 gibt es das „Covid-Zertifikat in Form einer freiwilligen Anwendung für alle Bereiche, die Kapazitätsbeschränkungen oder Öffnungszeiten unterliegen.“ Das heißt, die Einrichtungen können selbst entscheiden, ob sie das Zertifikat verlangen oder nicht. Es gilt bis 15. Januar 2022. Die spanische Gesundheitsministerin Carolina Darias ist zudem der Meinung, dass Spanien keine Pflichtimpfung gegen das Covid-19-Virus einführen sollte, im Gegensatz zur Meinung der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, die (…) eine „Diskussion“ innerhalb der Europäischen Union über die Einführung einer Pflichtimpfung gegen das Coronavirus forderte.“ Die Straßen sind hier voller Menschen, Weihnachten naht, alle planen das große Fest der Liebe mit der Familie.

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