Von Sitzordnungen und Denkordnungen

ein Gastbeitrag von Felix Lachmann

Lesedauer 6 Minuten
Von Sitzordnungen und Denkordnungen
 © 4. Juli 1917 Demonstration Nevsky Prospekt Sankt Petersburg

Die Corona-Krise ist mitnichten ein rein medizinisches Thema. In erster Linie ist sie eine durch und durch politische Krise, die schonungslos insbesondere die Grenzen unseres westlichen Systems aufzeigt. Egal, wohin man schaut, überall zeigen sich zum Zerreißen gespannte Zustände: angefangen bei völlig unterbesetztem Krankenhauspersonal über Inflation bis hin zum drohenden Ausfall der Energieversorgung. Jeder dieser Punkte würde eigentlich einen eigenen Beitrag verdienen, ich möchte aber einen grundlegenden Aspekt beleuchten: das Versagen unseres gesellschaftlichen politischen Koordinatensystems. Mit ihm kann die komplexe Realität nicht mehr abgebildet werden.

Von der Sitzordnung zur Denkordnung

Um das Problem zu verstehen, empfiehlt sich ein kleiner historischer Exkurs. Unser politisches Koordinatensystem teilt die Strömungen anhand einer Achse von links bis rechts ein – es ist also eindimensional. Es stammt vom Ende des 18. Jahrhunderts, genauer gesagt bildete sich die Kategorisierung im direkten Nachgang der Französischen Revolution. Als die Konstituante1 tagte, wie sich der verfassungsgebende Konvent nannte, sortierten sich die verschiedenen Fraktionen auf die Sitzplätze.

Der reaktionäre Adel wollte den vorherigen Status der Monarchie wieder herstellen und saß auf der rechten Seite. Die damals als radikal und revolutionär geltenden Sozialdemokraten saßen links. Da die Französische Revolution als einer der Gründungsmythen unserer modernen Zivilisation gilt, etablierte sich die Einteilung von links bis rechts ebenso im gesellschaftlichen Bewusstsein wie die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.

Links“ und „rechts“ im 20. Jahrhundert

Entlang dieser Achse ordneten sich die politischen Bewegungen und Parteien, die sich im 19. Jahrhundert zu gründen begonnen hatten: Sozialdemokraten, Liberale, Royalisten, Konservative, später im 20. Jahrhundert Faschisten und die totalitären Strömungen des Kommunismus und Nationalsozialismus. Genau betrachtet zeichnete sich schon hier die Grenze des Schemas von „links“ bis „rechts“ ab. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt konstatierte dazu 1951: „In einer Zeit, in der Nationalismus und Sozialismus die populären Brennpunkte des politischen Fanatismus darstellten, in der diese Schlagworte die ideologische Wasserscheide zwischen rechts und links hergaben und daher für schlechthin unvereinbar gehalten wurden, warf die ‚National-Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei‘ eine Synthese auf den Wortmarkt, die nationale Einheit versprach. Schon mit ihrem Namen, der sich mit der Addierung des Nationalen und Sozialistischen nicht begnügte, sondern ihm zur Sicherung noch die (rechte) Handelsmarke ‚deutsch‘ und die (linke) ‚Arbeiter‘ anheftete, stahl die Bewegung allen anderen Parteien ihre politischen Gehalte und prätendierte, sie alle in sich zu verkörpern.“2

Die ehemaligen Gegenpole verloren ihre strukturierende Kraft. Goebbels sprach am 06.12.1931 im Partei-Magazin „Der Angriff“ vom rechten bürgerlichen, konservativen Block, welcher der NSDAP wie kein zweiter verhasst wäre. Stalin ließ die Sozialdemokraten in der These vom „Sozialfaschismus“ als rechte Kollaborateure verunglimpfen. Daraus entwickelte sich schließlich der Begriff des „Antifaschismus“, mit dem alles zum zu bekämpfenden Faschismus gestempelt wird, was nicht der eigenen Ideologie entspricht.

Nicht zufällig also bezeichnete die Führung der DDR die Mauer zur westlichen Welt als „Antifaschistischen Schutzwall“. Mit der ursprünglich emanzipatorischen Bewegung der „Radikalen“ der französischen Revolution hatte die „linke“ SED zwar nichts mehr zu tun, das Vokabular des politischen Koordinatensystems aber blieb bis heute gleich.

Gegenwart: der moralische Autoritarismus

Die begriffliche Verwirrung ist heute nicht kleiner geworden. Die Grünen, einst zutiefst machtkritische Rabauken der Bundesrepublik, gerieren sich heute als leidenschaftliche Befürworter eines rigoros autoritär auftretenden Staates. Sie fordern Schlagstock und Tränengas3 gegen friedliche Demonstranten und wollen im Zuge der sogenannten „Klimakrise“ das Verhalten des Individuums bis ins Detail kontrollieren. Nicht anders die SPD. Trotzdem gelten sie als „linke“ Parteien.

Seine emanzipatorische Aura hat der Begriff „links“ allerdings behalten. Er gilt als „fortschrittlich“ und daher vielen Menschen intuitiv als „moralisch gut“. Der „Boogeyman“ innerhalb der deutschen Parteienlandschaft in Form der AfD setzt sich hingegen (momentan) gegen einen übergriffigen Staat ein – und gilt trotzdem als „rechte“ Partei. Da „rechts“ das Gegenteil von „links“ ist, muss man auch dort die „Feinde des Fortschritts“ suchen, dort ist der Hort des „Ewiggestrigen“ und „moralisch Bösen“.

Sinnentleerte Kategorien

Dieser kurze Abriss kann aufzeigen, welche nicht nur Bedeutungsverschiebung, sondern eigentlich völlige semantische Umkehrung der Begrifflichkeit von „links“ und „rechts“ in den vergangenen Jahrzehnten peu a peu stattgefunden hat. Diese Krise des politischen Vokabulars und damit verbundener mangelnder Erkenntnisfähigkeit hat mit zu der Krise geführt, in der wir heute stecken. Es wird in Kategorien eingeteilt, die in sich mittlerweile völlig sinnentleert sind: Staatshörigkeit ist fortschrittlich und gut, Kritik daran wird häufig damit abgetan, dass sie „irgendwie rechts klinge“. Schließlich würden die Schwefelbuben der AfD ja das Gleiche sagen.

So erübrigt sich auch jedwede inhaltliche Diskussion, denn das Urteil ist gefällt: Entscheidend ist nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer etwas sagt. Hat ein „Rechter“ ein Argument angeführt, so ist es in vielen Diskussionen schon von vornherein verbrannt. Das Gleiche gilt natürlich auch umgekehrt, wenn vernünftige Vorschläge der Gegenseite als „linksgrün versifft“ klassifiziert werden und damit die inhaltliche Auseinandersetzung abgeschlossen ist. Kurz: Mit der eindimensionalen Einteilung in „links“ und „rechts“ kann die komplexe Realität nur noch unzureichend abgebildet werden. Wie kann ein alternatives Koordinatensystem aussehen?

Der Politische Kompass – ein Gegenvorschlag

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Modelle entwickelt, wie politische Positionen abgebildet werden können. Eines der bekannteren dürfte darunter das Hufeisen-Modell sein, das Extreme von Positionen von links und rechts näher zusammenrückt und gleichermaßen von der Mitte entfernt darstellt. Grundsätzlich ist das nicht verkehrt, bleibt aber unterm Strich eindimensional. Gelungener erscheint das Modell des Politischen Kompass‘ (einen Link zu einem kurzen Einführungsvideo finden Sie hier), das sich ebenfalls einer gewissen Popularität erfreut. iv

Mit seiner Hilfe wird die politische Landschaft entlang zweier Achsen eingeteilt: eine wirtschaftliche (links/sozialistisch bis rechts/kapitalistisch) und eine soziale Achse (freiheitlich bis autoritär). Mittels eines Fragebogens ordnet man sich selbst auf dem Koordinatensystem ein. Es ist zu empfehlen, sich für den Fragebogen Zeit zu nehmen, denn die Ergebnisse können recht erhellend sein. Darüberhinaus ist auch durchaus recht spannend, intuitiv die deutsche Parteienlandschaft grob auf einem Koordinatensystem zu verorten und dann mit der tatsächlichen Einordnung zu vergleichen.

Im vorliegenden Beitrag konzentriere ich mich weniger auf die Achse der Wirtschaft. Dem Argument der Entwickler des Politischen Kompasses ist zuzustimmen, dass es sich bei „links“ und „rechts“ heute noch am ehesten um eine Gegenüberstellung von (möglichen) Wirtschaftssystemen handelt, sich viele andere Fragen aber an der sozialen Achse zwischen dem freiheitlichen und autoritären Pol entscheiden.

Weg von der Moral, hin zum Inhalt

Was ist jedoch damit unterm Strich gewonnen? Zunächst ist es in einer Diskussion weniger emotional aufgeladen, wenn man das Argument des Gegenübers beispielsweise als „Das ist mir zu autoritär“ kritisieren kann. Man kommt weg von den letztlich moralinsauren Kategorien links und rechts und verlagert das Gespräch stärker auf eine inhaltliche Ebene. Zudem funktioniert es nicht, seine Forderungen in salbungsvolle Worte zu kleiden.

Das soll ein Beispiel illustrieren: Wenn die Grünen den Neubau von Eigenheimen verbieten wollen, um das Klima zu retten, dann greift der Staat ganz tief in privateste Bereiche des menschlichen Lebens ein. Er maßt sich an, darüber zu bestimmen, wie eine einzelne Familie zu leben hat. Man kann dies in noch so schöne Worte kleiden: Ein Staat mit einer solchen Kompetenz ist nun mal autoritär. Dazu sollte man als Befürworter einer solchen Maßnahme jedoch eben auch stehen – oder umdenken.

Das Wichtigste ist, dass der Nebel aus wohlmeinenden Schlagworten gelüftet wird und man alsbald zu den dahinterliegenden Kernfragen kommen kann: Benötigt Vorhaben XY einen freiheitlichen oder autoritären Staat? Wenn ja, in welchem Maße freiheitlich oder autoritär? In welchen Bereichen ja, in welchen nicht? Setzt der Staat auf eigenverantwortliches wirtschaftliches Handeln des Einzelnen oder agiert die Regierung dirigistisch? Das ist allemal erkenntnisleitender, als diese Frage in ein unterkomplexes, weil eindimensionales Links-Rechts-Schema zu pressen.

Der Kompass und Corona

Ein weiteres großes Beispiel ist die aktuelle Corona-Politik. All diese drakonischen Maßnahmen werden mit linkem Vokabular begründet: Solidarität, Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen und so weiter. Beginnt man den rhetorischen Lack abzukratzen, bleibt nicht mehr als ein autoritärer Staat, der bestimmt, mit wem wir uns wann und wo treffen dürfen. Wie wir unsere Freizeit gestalten sollen. Wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen können. Was wir uns in welcher Regelmäßigkeit injizieren lassen müssen. Man mag dazu im Einzelnen stehen, wie man will: am Ende ist aber nicht links, wer sich für diesen übergriffigen Staat einsetzt. Es handelt sich schlicht und ergreifend um eine autoritäre Haltung. Wer sich dagegen einsetzt, ist auch nicht rechts, sondern verteidigt darin die Freiheit des Individuums.

Die autoritäre Sprache

Als letzten großen Komplex möchte ich die viel gescholtene Gendersprache anreißen. Ihre Befürworter geben sich weltoffen und links. Man wolle schließlich alle ansprechen, es gehe um Gerechtigkeit, Sichtbarmachung von Minderheiten, überhaupt eine inklusive Sprache. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Durchsetzung dieser „Sprache der neuen Elite“ darauf abzielt, top-down seitens Behörden Sprachregelungen in Firmen oder an Bildungseinrichtungen in autoritärer Weise zu etablieren. Auch hier liegt unter dem Lack wieder ein autoritäres, kollektivistisches Bestreben zur Kontrolle des Einzelnen. Aber auch hier gilt: Wer dies befürwortet, sollte dann aber auch offen den Wunsch nach autoritären Kompetenzen des Staates einräumen, da er eine Regierung bevollmächtigt anstelle des sprechenden Individuums zu entscheiden, wie es sich mit seinen Mitmenschen unterhält.

Klares Denken, mehr Erkenntnis

Ich plädiere deshalb dafür, sein eigenes politisches Koordinatensystem auf den Prüfstand zu stellen. Es muss nicht das des Politischen Kompasses sein, denn es gibt viele weitere Alternativen dazu. Wichtig ist lediglich, von diesen inhaltlich entkernten, moralisch aufgeladenen Kategorien links und rechts wegzukommen. Es gilt, einen echten inhaltlichen Diskurs zu führen, anstatt sein Anliegen mit wohlklingenden Worten und Phrasen zu vernebeln. Lassen Sie uns die Sitzordnung der Konstituante, die Kategorien des 18. Jahrhunderts (weitgehend) hinter uns lassen, damit wir nicht nur kalendarisch, sondern auch im Denken im 21. Jahrhundert ankommen und den neuen Herausforderungen angemessen begegnen!

1 In Nachfolge zu den Generalständen des absolutistischen Frankreich rief die Französische Revolution eine sogenannte Konstituante, d.h. die vorbereitende Verfassungsgebende Nationalversammlung (Assemblée nationale constituante) ein, die auf Grundlage weitreichender gesellschaftlicher Reformen am 3. September 1791 Frankreich in eine konstitutionelle Monarchie umwandelte.

2 s. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Frankfurt/Main 1986. S. 754f.

3 https://www.welt.de/politik/deutschland/article235835276/Querdenker-Demos-Gruene-verteidigt-Einsatz-von-Pfefferspray-und-Schlagstock.html (23.12.2021)

4 The Political Compass – A brief intro: https://www.politicalcompass.org/

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