von Martina Binnig
Lesedauer 5 MinutenDer dubiose SMS-Austausch zwischen Ursula von der Leyen und Pfizer-Chef Albert Bourla zwecks Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen für die EU ist immer noch nicht aufgeklärt. Nicht nur, dass der EU-Rechnungshof in einem Sonderbericht 19/2022 Beschwerde eingelegt hatte, weil er zu den Verhandlungen über den mit Abstand umfangreichsten Impfstoffvertrag der EU keine Informationen erhalten hatte, auch die Europäische Bürgerbeauftragte hatte – vergeblich – Zugang zu den Textnachrichten von der Leyens und Bourlas eingefordert.
Die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO) leitete sogar ein Ermittlungsverfahren ein. Immerhin ging es um 1,8 Milliarden Impfdosen, die die EU bis zum Jahr 2023 bei BioNTech/Pfizer bestellt hatte.
Einigung mit BioNTech und Pfizer
Doch nun gibt es mehrere Updates zur unendlichen Geschichte von Ursula und Pfizer. In einer Pressemitteilung vom 26. Mai dieses Jahres verkündete die EU-Kommission lapidar, dass sie gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten und in deren Namen eine Einigung mit den Impfstoffentwicklern BioNTech und Pfizer erzielt habe. Damit werde „der von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Bewertung des sich ändernden Bedarfs an COVID-19-Impfstoffen besser Rechnung getragen“. Bei der Änderung des bestehenden Vertrags über Impfstoff-Lieferungen werde die „bessere epidemiologische Lage berücksichtigt“.
Gleichzeitig werde weiterhin der Zugang zur neuesten verfügbaren Version des Impfstoffs für den Fall gesichert, dass künftig besorgniserregende Virusvarianten auftreten. Die für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständige EU-Kommissarin Stella Kyriakides erklärte: „Ich begrüße nachdrücklich die mit und im Namen unserer Mitgliedstaaten mit BioNTech-Pfizer erzielte Einigung, die Versorgung mit COVID-19-Impfstoffen an den sich wandelnden Bedarf anzupassen. Wir haben die Pandemie überwiegend durch unsere Impfstoffe und Impfungen unter Kontrolle gebracht.“ COVID-19 sei zwar kein globaler Gesundheitsnotstand mehr, bleibe aber eine Bedrohung.
„Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass wir auf die kommenden Jahre vorbereitet sind.“ An dem längst widerlegten Narrativ, dass die Corona-Krise vor allem durch Impfungen beendet worden sei, hält die EU-Kommission also weiterhin beharrlich fest.
Anpassungen des Vertrags zwischen der EU und Pfizer
Folgende Anpassungen des Vertrags zwischen der EU und Pfizer wurden vorgenommen: Die Mitgliedstaaten erwerben im Rahmen des Vertrags weniger Impfdosen. Ein Teil der ursprünglich vereinbarten Dosen wird gegen eine Gebühr in optionale Dosen umgewandelt. Der Zeitraum, über den sich die Mitgliedstaaten den Impfstoff liefern lassen können, wurde auf vier Jahre ab jetzt verlängert. Bis Vertragsende sind weiterhin zusätzliche Dosen erhältlich (maximal so viele wie ursprünglich vereinbart), damit der Bedarf gedeckt werden kann, falls die Fallzahlen steigen und sich die epidemiologische Lage verschlechtert. Es besteht weiterhin Zugang zu an neue Varianten angepassten Impfstoffen, sobald diese von den Regulierungsbehörden zugelassen wurden.In einer ausführlicheren Version der Pressemitteilung wird dann noch auf die Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) verwiesen, die „die Sicherheit der öffentlichen Gesundheit in der EU vor und während Krisen besser koordinieren“ soll.
„EU-Impfstoffstrategie übertraf alle Erwartungen“
Außerdem findet sich das erstaunliche Selbstlob: „Bei der Umsetzung der EU-Impfstoffstrategie wurden alle Erwartungen übertroffen: Die EU-Mitgliedstaaten erhielten im erforderlichen Umfang Zugang zu sicheren und wirksamen Impfstoffen, die unter Einsatz vieler verschiedener Technologien entwickelt wurden. Dadurch konnten allen Unionsbürgerinnen und -bürgern (Auffrischungs-)Impfungen angeboten, Menschenleben gerettet und die Folgen der Pandemie für das soziale und wirtschaftliche Leben abgefedert werden.“
Doch das war´s. Kein Wort davon, welch horrende Kosten der verfehlte Impfstoff-Deal verursacht hat. Auch die deutschsprachige Presse hüllt sich überwiegend in Schweigen. Eine Ausnahme bildet die Berliner Zeitung, die am 18. Mai berichtete, dass Millionen Dosen von Covid-19-Impstoffen zu viel eingekauft worden seien und nun vernichtet werden müssen. In einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks vom 29. Januar dieses Jahres ist von 36 Millionen Corona-Impfdosen die Rede, die in den Zentrallagern der Bundesregierung liegen, jedoch schon seit Anfang 2022 abgelaufen sind. Zudem müssen noch Bestellungen von weiteren 220 Millionen Impfdosen storniert werden, wofür die EU 2,2 Milliarden Euro als eine Art Storno-Gebühr bezahlen will. Dafür gebe es eine Neubestellung über 280 Millionen Einheiten von modifizierten Impfstoffen, die auf zukünftige Covid-Varianten angepasst seien.
Hütchenspiel der EU
Der fraktionslose EU-Parlamentarier Martin Sonneborn spricht denn auch von einem „Hütchenspiel“: Die EU-Kommission ersetze „die Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 Milliarden Euro durch eine Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 Milliarden Euro“. Er nennt den Vertrag, den von der Leyen im Mai 2021 mit Bourla eingefädelt hatte, den „größten Deal der Pharmageschichte“ und den „größten Kaufvertrag, den die Kommission je mit einem singulären Marktakteur geschlossen hat“. Damit habe die Kommission dem Unternehmen Pfizer, das den Markt bereits zuvor dominiert habe, „das Quasi-Monopol für den EU-Impfstoffmarkt“ verschafft, was ein offener Verstoß gegen das EU-Wettbewerbsrecht sei. Laut einem Reuters-Artikel vom 11. Mai dieses Jahres trieben die COVID-Produkte den Umsatz von Pfizer auf ein Rekordniveau, das im Jahr 2022 die 100-Milliarden-Dollar-Marke und im Jahr 2021 die 80-Milliarden-Dollar-Marke überstieg.
Klage gegen Ursula von der Leyen vor dem Strafgericht Lüttich
Bewegung in die Causa von der Leyen könnte nun die Klage des belgischen Lobbyisten Frédéric Baldan bei einem Strafgericht in Lüttich bringen: Wie das belgische Nachrichtenmagazin Le Vif am 13. April dieses Jahres vermeldete, wird von der Leyen unter anderem die Vernichtung öffentlicher Dokumente vorgeworfen. Außerdem habe sie sich „ohne jegliches Mandat“ an die Stelle der EU-Mitgliedstaaten – einschließlich der belgischen Regierung – gesetzt, indem sie „direkt und geheim“ Verträge über den Kauf von Impfstoffen ausgehandelt habe. Mit dieser Klage nimmt der Fall zum ersten Mal in einem der 27 EU-Mitgliedstaaten eine strafrechtliche Dimension an. Hier ist es nicht mehr die Kommission, die wegen mangelnder Transparenz ins Visier genommen wird, sondern es ist die Präsidentin persönlich, die für Handlungen verantwortlich ist, die nach dem belgischen Strafgesetzbuch strafbar sind. Baldan trat dabei als Zivilkläger auf, weil er den von ihm erlittenen Schaden auf 50.000 Euro schätzt. Er ist nämlich der Ansicht, dass das Verhalten der Präsidentin „den öffentlichen Finanzen Belgiens“ und „dem öffentlichen Vertrauen“ geschadet habe.
Ursula taucht ab
In der Strafanzeige heißt es weiter: „Der Präsidentin der Kommission, Frau Ursula von der Leyen, werden in diesem Abkommen keine besonderen Befugnisse übertragen, da sie weder dem Lenkungsausschuss noch den Verhandlungsteams angehört. Die Kommissionspräsidentin konnte daher nicht behaupten, mit der Verhandlungsführung betraut zu sein.“
Und Ursula? Die kümmert sich um Wichtigeres. Nämlich um den Klimawandel. Und da ist sie sehr erfolgreich, wie sich beispielsweise ihrer Rede auf dem Energie- und Klimaforum der wichtigsten Wirtschaftsnationen („Major Economies Forum on Energy and Climate“) Ende April entnehmen lässt. In Beisein von Joe Biden und dem Sonderbeauftragten des Präsidenten für Klimafragen John Kerry jubelte sie: „Wir in politischer Verantwortung haben es in der Hand, die Erderwärmung bei unter 1,5 Grad Celsius zu halten. Und wir haben die Instrumente dafür! Wir haben die Kapazitäten bei Innovationen, Wissenschaft, Technologie und Industrie, um dieses Ziel zu erreichen. Im vergangenen Jahr haben wir Europäerinnen und Europäer mehr Strom aus Sonne und Wind als aus Gas oder anderen Quellen erzeugt. Das Stromnetz weltweit ist heute sauberer denn je. Wir sind auf dem Weg zu Netto-Null. Aber wir müssen bei unseren Fortschritten noch mehr Tempo machen.“
Noch Fragen?
Mit Netto-Null meinte sie nicht etwa das erwartete EU-Wirtschaftswachstum, sondern die Klimaneutralität, die bis 2050 erreicht werden soll. Was zählt angesichts derart hehrer Ziele schon die kleine Panne mit der Impfstoffbeschaffung?
Übrigens: Am Ende der Pressemitteilung der EU-Kommission gibt es einen Hinweis darauf, dass Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern vom Team des Besucherzentrums ERLEBNIS EUROPA per E-Mail oder telefonisch unter (030) 2280 2900 beantwortet werden. Vielleicht möchten ja ein paar Bürgerinnen und Bürger die ein oder andere Frage zu den EU-Verträgen mit BioNTech/Pfizer stellen?