Poseidon

eine Kurzgeschichte von Leonia Tralalińska

Lesedauer 2 Minuten

1bis19 - Poseidon
Lebensretter

An einem sommerlichen Abend fuhr ich mit nacktem Gesicht nach Hause. Der U-Bahn-Wagen war wie eine Dose Heringe in Öl, die aneinander gepresst und leblos in die Zukunft schauten. Ich war einer der Heringe. Dabei fühlte ich mich eher wie ein Lachs, der schon zwei Monate lang gegen den Strom geschwommen war und sich immer noch am Leben hielt.

„Fahrkartenkontrolle!“ Ein kleiner Polyglott erschien über mir. Vier Flaggen sah ich auf seiner Brust. Angeblich sprach er nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch Türkisch und Arabisch.

„Ziehen Sie die Maske an!“

„Ich habe keine Maske“, antwortete ich Lachs.

„Bitte, ziehen Sie die Maske an!“

„Ich hab´s vergessen. Ich habe keine!“

Die Götter des Olymps schickten mir einen ihrer treuesten Diener, der im perfekten Moment vor meinen Augen erschien.

„Was bist du?“, fragte Poseidon den Polyglotten. „Bist du Arzt? Ist das hier ein Krankenhaus? Welche Masken? Nirgendwo trägt man Masken!“

„Bitte, ziehen Sie die Maske an!“, sagte der Polyglott zu mir.

„Siehst du nicht, dass sie keine hat? Du solltest ihr eine geben!“ Poseidon blickte den Polyglotten böse an.

Der Polyglott gab auf, zog eine frische Maske aus seiner unteren Tasche und händigte sie mir aus. Ich hielt sie in der Hand, während mich Poseidon tröstete: „Lass dich doch nicht provozieren.“

Die Heringe schauten ihn still an, sie sprachen kein Wort. Wenn sie keine Masken getragen hätten, hätten wir bestimmt ihre Fischmünder in O-Form sehen können.

„Wer bist du eigentlich?“, fragte der Polyglott den Olympischen Gott. Poseidon schaute ihn voller Verachtung an und antwortete:

„Niemand. Ich verteidige sie vor dir.“

Bald kam noch der Kollege des Polyglotten, ein großer, dürrer Mann mit den Augen eines Beamten: „Ziehen Sie die Maske über die Nase“, befahl er dem Poseidon.

Meine Reise endete hier. Ich bedankte mich bei ihm und stieg mit der Maske in der Hand aus dem Zug aus.

Als ich am Abend meinen Wein trank, opferte ich ein paar Tropfen den Göttern des Olymp, in Dankbarkeit für ihren Schutz. Und natürlich gab es köstliche Heringe mit Knoblauch dazu.

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