Freundschaft

eine Kurzgeschichte von Leonia Tralalińska

Lesedauer 3 Minuten
1bis19 - Freundschaft
© Benno Bartocha – Foto Bundesarchiv_183-1985-0615-017

“In der Not erkennt man seine Freunde”, fuhr es mir durch den Kopf, als ich mich in meinem Zimmer an einen Stuhl gefesselt wiederfand. Sie hatte meinen Mund geknebelt und mir die Augen mit einem Tuch verbunden, aber sie wollte auf keinen Fall Blindekuh mit mir spielen. Durch das geöffnete Fenster hörte ich die gedämpften Geräusche eines betrunkenen Nachbarn, der nach einem nächtlichen Gelage nach Hause kam. Jemand hatte eine Flasche zerbrochen. Ein Krankenwagen fuhr vorbei.

Gelangweilt saß ich auf dem Holzstuhl und konjugierte im Geiste den Optativ des Verbs „rächen“. Schließlich kommt es nicht oft vor, dass eine Freundin dich um vier Uhr morgens überfällt, dir Hände und Beine fesselt, dich an einen Stuhl bindet, dir den Mund knebelt und die Augen verbindet. Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, beschloss ich, dass es Rache war. Aber wofür? Was hatte ich ihr getan oder nicht getan, um so unelegant behandelt zu werden?

In der Verzweiflung wurde ich an meine letzte Begegnung mit Catherine erinnert. Sie plante einen Urlaub in Kalifornien und wollte, dass ich mit ihr fliege. Sie war ihrer Scheidung überdrüssig und behauptete, sie leide an einem Gehirnnebel.

Ich hörte noch einmal, wie sie durch die Wohnung stürmte. Sie schob Schubladen und Schränke hin und her, sie ging in die Küche und suchte etwas in der Kommode. Der ganze Vorfall dauerte nicht lange. Nach einer Weile verschwand sie und ließ nur einen einzigen Satz fallen: “Überprüfe deinen Briefkasten.“

Es gelang mir, mich auf dem Stuhl ein wenig zu bewegen. Allerdings stand der Stuhl auf einem langflorigen Teppich und ich musste mich anstrengen, um damit ein paar Zentimeter zu springen. Ich hüpfte eine ganze Weile so herum, bis ich das Wohnzimmer erreichte. Es gab auch einen Teppich im Wohnzimmer. Verdammt! Die Aussicht auf weiteres Hüpfen à la Holzfrosch belastete mich mental so sehr, dass ich beschloss, eine Pause einzulegen. Aus einem Augenblick wurden mehrere Stunden.

Als ich aufwachte, war das Wohnzimmer hell erleuchtet. Die Sonnenstrahlen erreichten meine Augen durch den Schal, in den ich gehüllt war. Ich rappelte mich auf, schob mich hartnäckig weiter durch den Wohnzimmerteppich und schaffte es bis in die Küche. Es gelang mir, das Messer zu greifen, mit dem ich die Bande der Freundschaft zerschnitt. Dann entfernte ich die Binde von meinen Augen, nahm den Knebel aus meinem Mund und zerschnitt das Klebeband, mit dem meine geniale Freundin meine unteren Gliedmaßen fixiert hatte.

In der Wohnung hatte sich nichts verändert. Das Einzige, das mir auffiel, war, dass ich kein Mobiltelefon mehr hatte. Ich rannte die Treppe hinunter. Im Briefkasten fand ich einen Umschlag. Mein gelber Impfpass und mein Telefon befanden sich darin. Ich sah mir den Impfpass an. Auf der vierten Seite, nach Masern, Gelbfieber, Typhus und Hepatitis, befanden sich drei Pfizer-Aufkleber mit Stempeln, Unterschrift und drei Daten.

Ich überprüfte mein Handy. Catherine hatte meinen Covidpass in digitaler Form montiert.

Im Umschlag lag noch eine Nachricht für mich: “In der Not erkennt man seine Freunde. Jetzt wirst du nicht mehr gefeuert. Und ich habe zwei Tickets nach Kalifornien gekauft. Rechtzeitig zu den Herbstferien reisen wir ab. Deine beste Freundin Catherine.”

Nach Kalifornien bin ich trotzdem nicht geflogen. Am nächsten Morgen gegen 5.30 Uhr stand ein Kommando von fünf Polizisten in meiner Wohnung, fesselte mich, und der Kommandant verlas einen Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zur gewohnheitsmäßigen Begehung von Straftaten gegen den Staat. Als erste Straftat war eine Impfpassfälschung vermerkt. “Woran diese Querdenker nicht denken!”, brüllte der ausgemergelte Kommandant. „Nutzlos, aber am besten nachweisbar sind Passfälschungen.“ Nun sehe ich in den Ferien anstelle von Catherine meinen Verteidiger, in einem Gerichtsverfahren wegen Verwirrung des Staates und weiterer Verbrechen.

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