von Katja Leyhausen
Lesedauer 11 Minuten
Wer sich eine milde und konstruktive Sicht auf alles Menschliche bewahren will, der bestreitet es oft. Jedoch: Das Böse am Menschen gibt es wirklich! Der Beweis? Es gibt die Lust am Bösen. Und wie könnte es diese Lust geben, wenn es nicht gäbe, worauf sie gerichtet ist?
Das Böse ist nicht (nur) das Gegenteil des Guten
Aber was ist das Böse? Normalerweise sehen wir es als die andere, die negative Seite des Guten. Wir sehen das Böse als ethisch-moralische und/oder psychopathologische Kategorie: Böse ist, wenn man sich in seinen Handlungen dem Guten verweigert: den Gesetzen der Moral und den sozialen Normen, oder – nicht der Intention nach, aber im Ergebnis – wenn man am Wahn erkrankt. Solche asozialen, kriminellen oder kranken Handlungen bleiben immer noch auf das Gute beziehbar, sie bleiben in dieser „Wertsphäre“ (Bohrer 1988, 111). Dabei wissen wir aber aus der geschichtlichen Erfahrung nicht nur mit dem Holocaust: Es gibt das Böse auch als das „schlechthin nicht mehr psychologisch und moralisch Integrierbare“ (Bohrer 1988, 126). Es gibt das Böse, das aus diesen Verstehenskategorien herausfällt und nicht sinnvoll erklärt werden kann. Hannah Arendt (2007, 96) nannte das einen „Formalismus des Bösen“, vor dem die Sprache überhaupt versagt: „Das wirklich Böse ist das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht,wenn wir nichts anderes mehr sagen können als: Dies hätte nie geschehen dürfen“ (Arendt 2007, 45).
Das Böse als ästhetische Kategorie
Um sich mit diesem Bösen trotzdem zu beschäftigen, hilft die Kunst und besonders die Literatur, weil hier die Sprachbarriere überwunden wird. Denn ebenso wie dieses Böse sind auch „ästhetische Konstrukte“ in ihrem Wesen „irrational“. Sie lassen sich nicht auf die übliche, „moralisch-diskursive Rede“ rückübersetzen (Bohrer 1988, 110). Kunst und Dichtung bilden eine eigene Wertsphäre: Sie sind autonom und keine Stellungnahmen zu sozialen oder politischen Forderungen, keine Wahrheitsforen für Moral oder Wissenschaft (Bohrer 1988, 119; 1994, 145). Das ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts, als Friedrich Schlegel das Schöne „vom Wahren und Sittlichen“ trennte (im 252. Athenäums-Fragment), die Grundlage der modernen Kunst. Insofern ist die Darstellung des Bösen sogar das wichtigste Paradigma der modernen Kunst, denn an ihm müssen sich die modernen Kunstmaßstäbe messen lassen. Spätestens seit der sogenannten „Schwarzen Romantik“ gibt es in der europäischen Literatur und Kunst eine „Semantik des Entsetzens“, an der jede „traditionelle Sinngebung scheitert“ (Bohrer 1988, 128).
Den Beitrag der Literatur zum Verständnis des Bösen hat Hannah Arendt als Zugeständnis halbresignativ formuliert: Sie verwies auf Beispiele wie Shakespeare, Melville, Dostojewski, die einen minimalen Vorteil gegenüber der Moralphilosophie hätten: „Auch“ ihre Dichtungen „mögen nicht in der Lage sein, uns Genaues über das Wesen des Bösen zu erzählen, aber wenigstens weichen sie ihm nicht aus“ (Arendt 2007, 44). Der Literaturwissenschaftler und Publizist Karl-Heinz Bohrer (1932-2021) hat dieser moralphilosophisch resignierten Sicht ästhetische Analysen gegenübergestellt. Ästhetik ist die Philosophie der Kunst, des Schönen und der sinnlichen Erkenntnis. Wer mit ihr anstatt mit der Philosophie der Moral, Politik oder Geschichte auf das Böse schaut, der kann, so Bohrer, eben doch etwas Wesentliches darüber sagen.
Wirkungsästhetik: Schön ist alles, was auf die Sinne wirkt …
Begründet wurde die Ästhetik als Philosophie und Wissenschaft 1750 von Alexander Gottlieb Baumgarten, und zwar nicht als „Inhalts- bzw. Repräsentationsästhetik“ (Bohrer 1988, 119), sondern als Wirkungsästhetik. Ihr zufolge besteht der Wert der Kunst nicht in der quasi-naturalistischen, inhaltsgetreuen Wiedergabe von Realität. Kunst hat ihre eigene Wahrheit und ihren eigenen Wert, und das ist ihre sinnliche Wirkung. Man geht nicht ins Theater, „um Tränen zu sehen, sondern um eine Rede zu hören, die sie hervorruft“ (Didérot 1830/1953, 350 f.). Schon bei Blaise Pascal und Dominique Bouhours (im 17. Jahrhundert) galt das Schöne und Kunstschöne als „je ne sais quoi“ (Bohrer 1988, 122). Man weiß nicht, was es ist. Man kann es begrifflich nicht fassen, aber es wirkt. Poetisch und schön ist alles, was eine Wirkung entfaltet. Später bestimmte Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) das Schöne als „das, was ohne Begriffe, als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird“, und das „Wohlgefallen am Guten“ ist etwas anderes als „das Wohlgefallen am Schönen“ (Bohrer 2011, 34).
Wirkungsästhetische Prinzipien galten schon in der griechischen Rhetorik, mit den Wirkungsfunktionen von Logos, Ethos und Pathos: Die gute Rede sollte den Verstand, die Moral und die Leidenschaften bewegen. Leidenschaftliches Pathos fesselte das Publikum der griechischen Tragödie, wo sinnlos gemordet und gelitten wurde. Es war „das Grauen selbst“, das an ihr „faszinierte“, wie auch am Sadismus der mittelalterlichen Märtyrersymbolik (Bohrer 1988, 113, 117). Wieder aufgegriffen wurde die fesselnde und faszinierende Wirkung von Kunst, Rhetorik, Inszenierung zur Zeit der Aufklärung, als sich von England her (mit John Locke und David Hume) der Sensualismus ausbreitete. Die Sensualisten vertraten die erkenntnistheoretische Auffassung, dass „nichts in unserem Bewusstsein“ ist, „das nicht zuerst eine sinnliche Wahrnehmung gewesen wäre“, so formulierte es der französische Philosoph Denis Didérot (1830/1953, 316). Auch das Schöne gelangt nur über die Sinne in den Verstand, nicht durch vernünftige Proportionen und Regeln, wie es Klassizismus und Rationalismus zuvor angenommen hatten.
… und am schönsten ist das Entsetzliche
Aus dieser sensualistischen Sicht nun wurde die Lust am Grauen theoretisch interessant: Edmund Burke thematisierte in seinem Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) „das Wohlgefallen an beunruhigenden, abstoßenden oder furchteinflößenden Erscheinungen der Natur und Kunst […], an der Düsterkeit der Nacht, am schrecklichen Untergang anderer (Schlachtbeschreibungen), an Phänomenen von extremer Größe, Unendlichkeit oder Ungewissheit“. Burke sah in der „sinnlichen Lust am Infernalischen“ das Erhabene in Natur und Kunst (Bohrer 1988, 117). Später malte der Dichter der berühmten Gedichtsammlung Die Blumen des Bösen (Les Fleurs du Mal, 1861/1980), Charles Baudelaire, die Lust am Grauen noch radikaler aus: Die größten Reize der Verführung finden wir in den widerwärtigen, abstoßenden Dingen. „Gewalt, Gift, Dolch und Brandschatzung“ gefallen und „verzaubern“ uns, sie „besetzen unseren Geist“ und „traktieren unseren Körper“ (Baudelaire 1861/1980, 7). Sein Zeitgenosse Gustave Flaubert sprach von der „Begierde nach dem Entsetzlichen“ (in der Übersetzung von Bohrer 1988, 127). Theoretisch und praktisch schlussfolgerten diese Autoren: Wenn das Schöne dasjenige ist, das die größte sinnliche Anziehungskraft und Wirkung hat, dann muss alles, was beim Leser oder Kunstbetrachter Schrecken und Entsetzen auslöst, geradezu als Inbegriff des Schönen gelten.
Das Böse im Schulunterricht: Just along for a ride
Heute haben das literarische Entsetzen und die Lust am Bösen einen festen Platz in unserem Schulwesen – im Kanon der Schullektüren nämlich: Hessische Gymnasialschüler lesen mit 15/16 Jahren im Englischunterricht die Short story Just along for a ride von Dennis Kurumada. Sie lesen im Deutschunterricht mit 16/17 Jahren die Erzählung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann und mit 17/18 Jahren das Theaterstück Woyzeck von Georg Büchner. Als Eltern rauft man sich die Haare. Man fragt sich, warum die Jugendlichen mit so viel Grausamkeit konfrontiert werden und ob die Lehrer für Sprache und Literatur hoffentlich wissen, was sie tun. Es muss nur der Sohn mit dem Woyzeck in der Hand in der abendlichen Wohnzimmertür stehen und klagen: „Die Texte, die wir lesen müssen, werden immer unerträglicher!“
Als Kurumada Just along for a ride schrieb, ging er selbst noch zur High School. In aller Kürze schreibt er darin über eine Gruppe heranwachsender Männer, die eines Abends ziellos mit dem Auto unterwegs sind und etwas gegen die Langeweile tun wollen. Ihre größte Befürchtung heißt: This evening’s gonna be a total loss! Also macht einer der Jungs den Vorschlag, einen Fußgänger mit der geöffneten Autotür anzufahren und platt zu machen. Die Einwände des Ich-Erzählers gelten in der Gruppe nicht. Ein Opfer wird ausgespäht, der Überfall gelingt: ein Aufprall auf der Frontscheibe, ein schmerzverzerrtes Gesicht, weit aufgerissene Augen. Fahrerflucht. Der Ich-Erzähler erkennt mit Entsetzen, dass das Opfer ein Freund von ihm ist. Zum Schluss ist er es, der den Weg der Reue antritt und den Schwerverletzten noch in der Nacht besucht.
Zum schulpädagogischen Nutzen der Erzählung befragt, meinte die Englischlehrerin: Der Text sei geeignet, den Alltag und das Gruppenverhalten Jugendlicher im Unterricht zu diskutieren, vor allem den Umgang mit Gewalt. In der Klausur, zu deren Gegenstand sie die Gewalt-Story gemacht hatte, sollten die Schüler und Schülerinnen in elaboriertem Englisch darlegen, wie es wohl sei, wenn man seine Zeit mit den falschen Leuten verschwende. Die Pädagogik könnte einfacher kaum sein: Ein guter Charakter steht gegen eine Gruppe von bösen. Der Stoff der Schullektüren kann gar nicht entsetzlich genug sein. Denn sie sollen einen therapeutischen Dienst zur charakterlichen Besserung der Schüler leisten.
Die Langeweile ist’s!
Doch möglicherweise hat Kurumada gar keine plakative Schwarz-Weiß-Botschaft verbreiten wollen, sondern den französischen Dichter Charles Baudelaire gelesen. Von Baudelaire kommt nämlich das Motiv, dass das Böse aus der Langeweile herausentsteht. In seinen Blumen des Bösen (1861) wandte er sich mit folgenden Worten An den Leser:
[…] Der Teufel hält die Fäden, die uns leiten! Wir finden Lust an widerlichen Dingen, Die täglich uns der Hölle näherbringen. Furchtlos, durch üblen Dunst und Dunkelheiten. // […] // Und wie von Würmern, die sich wimmelnd drängen, Wird von Dämonen unser Hirn verschlungen, […] // Doch unter Panthern und Schakalen aller Arten, Den Affen, Geiern, Schlangen, die sich winden, Den Ungeheuern, die wir heulend finden, Kreischend und knurrend in des Lasters Garten, // Ist eins am hässlichsten und ganz gemein! Zwar schreit es nicht und scheint sich kaum zu regen, Doch würd es gern die Welt in Trümmer legen Und schlänge gähnend sie in sich hinein; Die Langeweile ist’s! […] (Baudelaire 1861/1980, 7 f.).
„Die Langeweile ist’s!“ Das Böse ist keine Frage des guten oder schlechten menschlichen Charakters oder der aufgeklärten Bildung, sondern es kann jeden treffen. Jeder, der sich der Langeweile hingibt, entwickelt früher oder später unerklärliche Gewaltphantasien und quält damit sich und seine Umgebung.
Unrecht tun um des Unrechts willen
Bevor Baudelaire seine Blumen des Bösen schrieb, hatte er Edgar Allan Poe gelesen. Der Autor der berühmten englischen Schauergeschichten war der Ansicht, dass Menschen „unrecht […] handeln allein um des Unrechts willen“. „Die Seele“ habe „das unerforschliche Verlangen […], sich selbst zu quälen, der eigenen Natur Gewalt anzutun“. Wörtlich (übersetzt) heißt es in The black cat (1843):„Wem wäre es nicht hundertmal begegnet, dass er sich bei einer niedrigen oder törichten Handlung überraschte, die er nur deshalb beging, weil er wusste, dass sie verboten war? Haben wir nicht beständig die Neigung,die Gesetze zu verletzen, bloß weil wir sie als solche anerkennen müssen?“ (zitiert nach Bohrer 1988, 120 f.).
Menschen tun also das Böse nicht, obwohl, sondern weil es böse ist. Diese ästhetisch-poetologische Sicht steht diametral gegen die Moralphilosophie von Sokrates bis Kant, die meinte, „dass es für den Menschen unmöglich ist, vorsätzlich schlechte Dinge zu tun, das Böse um des Bösen willen zu wollen“. Sie steht auch gegen die christliche Lehre, in deren Lasterkatalogen der Sadismus, d.h. „bewusstes Unrechttun“, nicht vorkommt (Arendt 2007, 42 f.). Doch für die moderne Kunst und Ästhetik ist das Böse nicht die andere Seite des Guten, Gesunden, Moralischen, Sozialen und Rechtmäßigen. Es ist nichts als ein Produkt der Phantasie, die sich keine Grenzen vorschreiben lässt. Solange Menschen die Muße haben, sich kreativ auszudrücken und ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen, werden sie, im Überschuss der Einbildungskraft, das Böse aktiv – d.h. bewusst und vorsätzlich – hervorbringen.
Das böse Kunstwerk und die böse Tat
Genau darin sah Edgar Allan Poe (in The Imp of the perverse, 1845) eine prinzipielle Verbindung zwischen der Dichtung und dem Bösen: dass sie nämlich beide die Phantasie unendlich anregen. „Die poetische Rede und der Geist der Perversheit“ bringen beständig neue Assoziationen, Vorstellungsbilder und Wahrnehmungen hervor, die „genuin unendlich fortsetzbar“ sind. Beide leben von der „grenzenlosen Imagination“. Denn nicht Nachahmung, sondern Einbildungskraft ist das künstlerische Prinzip: Die künstlerischen Werke des Bösen haben nicht die „mimetische Funktion, das Böse in der Welt dar[zustellen]“ und die „böse Wirklichkeit, die nicht zu leugnen ist, auf einer anderen Ebene“ zu wiederholen. „Dichter erfinden“ – und der gelangweilte Mensch ebenso (Bohrer 1988, 115-122).
Die wichtigste Wirkung der Poesie besteht also nicht in irgendeiner Faszination der Sinne oder Leidenschaften. Sie besteht in ihrer imaginativen Wirkung. Emotionale Faszination und sprachlich-begriffliches Unverständnis sind der wesentliche Motor der kreativen menschlichen Produktions- und Schöpfungskraft. Auch unter dieser – nicht mehr nur wirkungs-, sondern nunmehr produktionsästhetischen – Perspektive ist das Böse der Inbegriff der Kunst: Das Böse ist das Schöne nicht nur, weil es das Faszinierendste ist, sondern weil es die menschliche Einbildungskraft so sehr beschäftigt wie nichts anderes. Es lässt den Künstler immer neue Werke, Schöpfungen und Handlungen hervorbringen. Das schönste Kunstwerk, die beste Hervorbringung des Menschen ist „das böse Kunstwerk“ (1988, 116) – nicht obwohl, sondern weil es jeden „Sinn“ und jede Erklärung „verweigert“ (1988, 123) und gerade dadurch die menschliche Einbildungs-, Schöpfungs- und Handlungskraft immer weiter antreibt.
Unendliche Imagination – unendliche Grausamkeit: Der schlechte Glaser
Die Geschichte des plötzlichen Umschwungs von Langeweile in aktive Grausamkeit bebildert Baudelaire in seiner Parabel vom Schlechten Glaser (Le mauvais vitrier, Petits poèmes en prose, 1869). Es geht darin um einen Mann von „kontemplativer Natur“, der schlecht gelaunt aus dem Fenster schaut: „Eines Morgens stand ich trübsinnig und traurig auf, müde vom Müßiggang, und es schien mir, als wäre ich getrieben, etwas Großes zu vollbringen, eine brillante Tat zu vollbringen, und ich öffnete das Fenster, ach!“
Ein fliegender Glashändler erscheint unten auf der Straße. Den Gelangweilten „packte plötzlich ein […] despotischer Hass“ auf den Glaser, „dessen durchdringender, misstönender Schrei durch die schwere und schmutzige Pariser Atmosphäre […] aufstieg“. Er ruft ihn zu sich herauf, wohl wissend, dass er gar nichts kaufen will, sich der Glaser aber mit seiner sperrigen und zerbrechlichen Ware die viel zu enge Treppe bis in den sechsten Stock hochquälen muss. Als der Glaser oben ankommt, beschimpft er ihn und schubst ihn direkt wieder zur Tür hinaus. Der Glaser stolpert, hält sich aber noch. Doch als der Ich-Erzähler ihn von seinem Fenster aus unten zur Haustür wieder hinaustreten sieht, lässt er ihm hinterhältig einen Blumentopf wie eine „Kriegsmaschine senkrecht auf die Hinterkante seiner Haken fallen“. Der Glaser fällt mit dem Rücken auf seinen „Kristallpalast“, der in tausend Stücke zerspringt. „Das Leben ist schön! Das Leben ist schön!“, ruft der grausame Ich-Erzähler dem Glaser noch hinterher. Bei sich selbst denkt er dabei: Diese „Sekunde der Unendlichkeit des Vergnügens“ gefunden zu haben, das rechtfertige die drohende „Ewigkeit der Verdammnis“ allemal.
Ein Grenzgang zwischen Sinn und Sinnverweigerung
Das alles geschähe, so heißt es im Text, wie durch einen „geheimnisvollen und unbekannten Impuls“, also auf völlig unverständliche Weise. Trotzdem stellt Baudelaire mit der Parabel eine Verbindung zur menschlichen Wirklichkeit her, das heißt: ein Sinnangebot. An der Textoberfläche kommt es als Vorwand daher: Als der Glashändler oben im sechsten Stock vor ihm steht, gerät der Ich-Erzähler in Rage darüber, dass er in dieser armen Pariser Gegend keine Gläser anbietet, die alles schönfärben. Wörtlich lautet die Beschimpfung: „Wie? Sie haben keine getönte Brille? Rosa, rote, blaue Gläser, Zauberfenster, Fenster zum Paradies? Wie unverschämt Sie sind! Sie wagen es, in armen Vierteln herumzulaufen, und Sie haben nicht einmal Fenster, die das Leben auf schöne Weise zeigen!“. Auf einer allegorischen Sinnebene bildet sich in dieser Tirade der Dichter zudem noch selbst ab. Denn französisch le verre – das Glas wird genauso ausgesprochen wie le vers – der Vers/die Dichtung: Nicht nur der Glaser, auch der schlechte Dichter ist nicht in der Lage, die Welt schönzufärben. Er muss sie mit dem menschlich Bösen konfrontieren. Beide – der Protagonist und Ich-Erzähler wie auch sein Schöpfer – haben gewissermaßen Grund genug, das unfähige Opfer bzw. sich selbst zu demütigen, zu quälen, zu vernichten.Das Böse wird selbstreferentiell: Der Mensch als Schöpfer seiner eigenen Verhältnisse tut Böses, weil ihm buchstäblich nichts Besseres zu tun einfällt und damit ihm überhaupt etwas einfällt.
Die Parabel vom Schlechten Glaser ist ein Grenzgang zwischen einem diskutablen Sinnangebot einerseits unddem sinnlos Bösen, das aus dem Nichts heraus und mit dem größten Vergnügen an der Zerstörung geschaffen wird. Solche Grenzgänge zwischen Sinn und Sinnverweigerung sind, wenn man dem Literaturwissenschaftler Bohrer glauben darf, der Beitrag der modernen Literatur zum Verständnis des Bösen.
Entartete Kunst?
Doch wie verhält es sich mit der pädagogisch reinigenden Kraft des Bösen in der Literatur? Trägt die Beschäftigung mit dem bösen Kunstwerk zur gesellschaftlichen Aufklärung bei?
Offenbar kann selbst der kritischste Literaturwissenschaftler nicht anders, als am therapeutisch-pädagogischen Anspruch festzuhalten. Bohrer kritisiert insbesondere den Umgang der deutschen Geistes- und Philosophiegeschichte mit dem Bösen in der Kunst und zieht daraus eine ganz eigene, hochpolitische Konsequenz:
Die deutschen Intellektuellen haben, so Karl-Heinz Bohrer, anders als die Intellektuellen der französischen Literatur-, Kunst- und Geistesgeschichte (Foucault bspw.), die literarische Moderne verschlafen (Bohrer 1988, 133). Deutschsprachige Werke des Bösen sind nur von ein paar Einzelfiguren wie Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Franz Kafka verfasst worden. Das sinnlos Böse darin ist von den deutschen Intellektuellen immer weginterpretiert worden. Als künstlerische und allgemein menschliche Kategorie der lustvoll-kreativen Imagination haben sie das Böse so lange ins Moralische „umgebogen“ und „verdrängt“, bis es von den deutschen Nationalsozialisten als entartete Kunst erst stigmatisiert und dann vernichtet worden ist (Bohrer 1988, 114).
Als mit dem Holocaust in Deutschland das reale Böse auftrat, verdoppelte sich in der deutschen Literatur der „Zwang zur Theodizee“, das heißt, zur Annahme, dass die Schöpfung – die Schöpfung Gottes wie auch die literarische Schöpfung des Künstlers – gut ist, dass also die Literatur im Grunde immer nur „das Gute ist“ (Bohrer 1988, 142-144). Es dominierte die Idee, dass sich in der Literatur des Bösen „das Versprechen auf eine bessere, andere soziale Zukunft implizit verborgen hält“ (Bohrer 1994, 116). Das böse Kunstwerk wurde, wie andere böse Schöpfungen des Menschen und seiner Einbildungen, geleugnet. So musste auch jedes geschichtliche Ereignis des Bösen zur idealisierten Aussicht auf das kommende bzw. herbeizuführende Gute werden. Im Namen des Guten kann dann jedes Grauen wiederum lustvoll vollzogen werden – als unendliche Imagination des Bösen.
Bohrers Folgerung aus dieser Diagnose einer – aus seiner Sicht typisch deutschen – Idealisierung von Literatur, Geschichte und menschlichem Tun ist kompromisslos. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen wandte er sich konsequent gegen die „Tabuisierung der gesellschaftlichen und intellektuellen Aggression“ (Bohrer 1988, 101). Denn wer das Böse, Entsetzliche und Hässliche als ästhetische Kategorie nicht würdigt und bloß verdrängt, der kennt auch keine Schönheit mehr. Der verfällt paradoxerweise genau der Hässlichkeit, Boshaftigkeit und Zerstörung, die er mit den Mitteln von Moral und Gesetz, Wissenschaft und Psychiatrie eigentlich zielgenau verhindern will.
Lesen wir also mehr in den poetischen Blumen des Bösen! Lesen wir auch in der bösen Poesie der Kriegs-. Terror- und Pandemiekatastrophen. Fragen wir nicht nur nach den – nicht moralisch, aber utilitaristisch immer irgendwie nachvollziehbaren – Interessen ihrer Schöpfer in den privaten Konzernen und globalen Think Tanks, in den nationalen Regierungsapparaten und ihren Medien. Fragen wir auch nach ihrem Überdruss und ihrer Langeweile, ihren phantastischen Obsessionen und ihrer unendlichen Lust an der Zerstörung.
Arendt, Hannah (2007): Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik (1965; engl. publ. 2003). München (Piper).
Baudelaire, Charles (1861/1980): Les Fleurs du Mal/ Die Blumen des Bösen. Französisch/Deutsch. Stuttgart (Reclam).
Bohrer, Karl-Heinz (1988): Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik. München/Wien (Hanser).
Bohrer, Karl-Heinz (1994): Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Bohrer, Karl-Heinz (2011): Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken. München (Hanser; Edition Akzente).
Bohrer, Karl-Heinz (2019): Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt. Berlin (Suhrkamp).
Didérot, Denis (1830/1953): Paradox über den Schauspieler. In: Ders.: Erzählungen und Gespräche. Dt. von Katharina Scheinfuß. Mit einer Einführung von Victor Klemperer. Leipzig (Dieterich; = Sammlung Dieterich; Bd. 138)
Ein guter Artikel. Kein böser. Für Erich Kästner war das Gute das Böse, was man lässt. Für Kant war das Gute das Verhalten, was man zum Gesetz für alle machen kann. Wie schützen wir uns vor bösen Verhalten? Also, vor unserem? Da ist doch die praktische Vernunft des Königsbergers ein guter Anfang.