ein Kommentar von Eugen Zentner
Lesedauer 5 MinutenDie Corona-Jahre der jüngsten Vergangenheit waren für die heutige Gesellschaft prägend. Nach dem autoritären Maßnahmen-Management und den undemokratischen Reaktionen auf dessen Kritik wurde vielen Menschen bewusst, dass das politische System keineswegs so makellos erscheint, wie es in den Lehrbüchern steht. Dessen Mängel sind allerdings nicht erst mit der Corona-Krise entstanden, sondern bestehen seit Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun wird es Zeit, sie sich genauer anzusehen. Und sie beginnen dort, wo sich der Kern liberaler Demokratien befindet: bei der Volksouveränität.
Dass das Volk in Deutschland als Träger der Staatsgewalt fungiert, ist lediglich Fiktion. Andernfalls hätte es sich schon zu Beginn selber die Verfassung gegeben. Das Grundgesetz jedoch beruht nicht auf den Entscheidungen des Volkes. Dessen Entstehung geht zurück auf die westlichen Besatzungsmächte, die damals nicht nur den Erlass des Grundgesetzes dekretierten, sondern auch seinen Inhalt maßgeblich beeinflussten. Über die europäische Verfassung hat es heute ebenfalls nicht mit zu entscheiden – und über die Erweiterung der EU schon gar nicht.
Berufspolitiker – der eigentliche Souverän
Der eigentliche Souverän ist nicht das Volk, sondern die politische Klasse, genauer: die Berufspolitiker. Sie repräsentieren lediglich einen Teil innerhalb der Parteien und tragen die Hauptverantwortung für Fehlentwicklungen, weil es ihnen weniger um Allgemeinwohl geht als um Macht, Status, Posten und Geld. Ihre Motive lassen sich in zwei Kategorien gliedern. Zum einen besteht ein großes Interesse an der Mehrheit und damit an Macht und Gestaltung. Um sie konkurrieren Regierung und Opposition, teils mit harten Bandagen. Die andere Triebfeder stellt der Wunsch dar, von der Politik möglichst gut und lange leben zu können. Dieses Versorgungsinteresse verfolgen alle Berufspolitiker – fraktionsübergreifend, ob sie nun zur Regierung oder zur Opposition gehören. Am wirkungsvollsten wird es daher nicht durch Konkurrenz befriedigt, sondern durch Kooperation und dem, was man in der Justizsprache Kollusion nennt: das unerlaubte Zusammenwirken.
Das Ergebnis ist eine politische Kartellierung. Weil die Berufspolitiker über ihren Status selber entscheiden, kommt es zur eigenen Überversorgung, zur Aufblähung der Posten und zur Abschottung gegen Konkurrenz, zur Vergrößerung der Parlamente und zu vielfältigen selbst gezimmerten Regeln, mit denen Berufspolitiker ihre Abwahl erschweren. Da die an der eigenen Versorgung Interessierten an den Schalthebeln der staatlichen Macht sitzen, können sie ihre Wünsche direkt in Gesetze und Haushaltstitel einfließen lassen.
Sichere Listenplätze und die Fünf-Prozent-Klausel
Weitere Systemmängel ergeben sich dort, wo es um die Wahl dieser Volksrepräsentanten geht. Sie erfolgt nicht durch die Bürger, sondern durch die jeweiligen Parteien. Diese entscheiden nämlich, welchen Kandidaten der Erfolg von vornherein garantiert ist. Sie werden entweder in sicheren Wahlkreisen aufgestellt und auf vordere Listenplätze gesetzt, sodass ihnen auf jeden Fall Mandate zukommen, selbst wenn die jeweilige Partei bei der Wahl schlecht abschneidet. Mit Demokratie hat das wenig zu tun. Denn die Bürger können mit ihrem Stimmzettel nichts mehr entscheiden und Politiker nicht abwählen, wenn sie mit deren Leistung unzufrieden sind. Wer auf starren und von den Wählern nicht zu verändernden Listen auf vorderen Plätzen steht, ist bereits gewählt, noch bevor es zum Urnengang kommt.
Auf dem eigenen Versorgungsinteresse beruht in einem gewissen Maß auch die Fünf-Prozent-Klausel, da sie als probate Barriere gegen Konkurrenz fungieren kann. Obwohl die Väter des Grundgesetzes sich im Parlamentarischen Rat noch gegen sie ausgesprochen hatten, wurde sie dennoch eingeführt, erweitert und schließlich sogar auf die Europawahlen erstreckt, wo sie keinen Sinn macht, weil eine stabile Regierungsmehrheit wie auf Bundesebene nicht gebildet werden muss. Denn das EU-Parlament entscheidet weder über die Bildung des Ministerrats noch der Kommission. Die Fünf-Prozent-Klausel stellt daher ein Bollwerk der herrschenden Parteien dar, die sich damit gegen die Konkurrenz absichern. Diese muss in der Regel klein anfangen und langsam wachsen. Das geschieht der Erfahrung nach derart, dass neue Parteien zu Beginn erst einmal nur in einem Bundesland Fuß fassen. Doch die Fünf-Prozent-Klausel bezieht sich auf die ganze Republik, weshalb Parteien ihre Anstrengungen beim Aufbau, dem Werben um Mitglieder oder Besetzen von politischen Themen zu intensivieren genötigt sind, wenn diese auf mehrere Länder verteilt werden müssen.
Freiheit des Mandats – eine Schimäre
Überwindet eine Partei erst einmal die Fünf-Prozent-Hürde, sollen deren Abgeordnete im Bundestag Entscheidungen „nach ihrem Gewissen“ treffen. Dieses Gebot geht mit der „Freiheit des Mandats“ einher, zumindest in der Theorie. In der Praxis wird diese Unabhängigkeit regelmäßig unterlaufen. Das liegt nicht nur an den Unternehmen, Verbänden und sonstigen Lobbyisten, die die Abgeordneten für ihre Belange einspannen, sondern auch daran, dass die Mandatsträger der sogenannten Partei- und Fraktionsdisziplin unterliegen. Wer sie missachtet und stattdessen tatsächlich dem eigenen Gewissen folgt, gerät schnell ins parteipolitische Abseits. Die Aufstiegschancen innerhalb der Partei, des Parlaments und der Koalition sinken daraufhin rapide. Den Abweichlern droht sogar, bei der nächsten Wahl nicht wieder aufgestellt zu werden. Der Partei- und Fraktionszwang machen deshalb jede individuelle Verantwortlichkeit zunichte.
Diese Unverantwortlichkeit von Abgeordneten zeigt sich auch bei der sogenannten Indemnität. Sie garantiert ihnen eine Freistellung von strafrechtlicher und disziplinarischer Verfolgung. Abgeordnete können somit sagen, was sie wollen, ohne dass ihnen eine Strafe droht. Bürgern und Medien hingegen schon, wenn sie ihre Aussagen nicht belegen können. Nicht wenige Abgeordnete nutzen gerade in Krisenzeiten die Indemnität als Freibrief, missliebige Kritiker aus der Zivilgesellschaft in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren, während Letztere in der direkten Auseinandersetzung keine Chancengleichheit genießen.
Keine wirkliche Gewaltenteilung
Neben den genannten Systemmängeln gibt es aber mittlerweile solche, die weitaus besorgniserregender sind, weil sie das Prinzip der Gewaltenteilung betreffen. In Deutschland steht sie bei näherer Betrachtung lediglich auf dem Papier. Eine nicht nur formale Trennung von Regierung und Parlament sucht man in der Praxis aber vergebens. Denn die Parlamentsmehrheit befindet sich politisch auf der Seite der Exekutive, weil sie die Regierung wählt und anschließend trägt. Das macht die Kontrolle durch das Parlament zu einer Farce, erst recht, wenn Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretäre gleichzeitig Sitz und Stimme im Parlament haben. Von einer echten Gewaltenteilung kann daher schwerlich die Rede sein, wenn Parteien zunehmend auch die Verwaltung durchdringen. Dieses Phänomen ist auch unter dem Begriff Ämterpatronage bekannt, der parteipolitischen Auslese von Bewerbern bei der Besetzung von Ämtern und Positionen.
Die mangelnde Kontrolle der Legislative gegenüber der Exekutive offenbart sich zudem darin, dass Regierungschefs, Minister und Parlamentarische Staatssekretäre gleichzeitig dem Parlament angehören, während beispielsweise Beamte ihr Amt ruhen lassen müssen, wenn sie in den Bundes- oder einen Landtag einziehen. Die Ungerechtigkeit wird noch dadurch gesteigert, dass Bundesminister und Parlamentarische Staatssekretäre zusätzlich zu ihrem Amtsgehalt noch die halben steuerpflichtigen Diäten erhalten.
Ist die Justiz unabhängig?
Genauso wie die Legislative steht auch die Justiz mit einem Bein in der Exekutive. Denn in Deutschland sind die Staatsanwälte weisungsgebunden und unterstehen letztlich dem Justizministerium. Damit sind sie alles andere als unabhängig. Dabei hat die Staatsanwaltschaft bei Strafverfahren eine Schlüsselstellung, weil Gerichte nicht von sich aus tätig werden können. Sie bestimmt daher, ob Ermittlungen aufgenommen werden, in welcher Weise sie erfolgen und ob überhaupt Anklage erhoben wird. Doch all das kann der Justizminister aus politischen Beweggründen torpedieren oder lenken. Zu dieser politischen Einflussnahmen kommt es vor allem dann, wenn es um Verfahren gegen Regierungs- oder Parteimitglieder geht.
Die Liste der Mängel im politischen System der Bundesrepublik Deutschland ist lang. In sie gehört unter anderem die Größe des Bundestags, der mehr Abgeordnetensitze aufweist als jedes andere europäische Parlament. Zwar wurde im März eine Wahlrechtsreform zur Verkleinerung beschlossen, doch die politische Klasse leistet weiterhin hartnäckig Widerstand. Auf EU-Ebene tobt dieser gar schon seit 2002. Nicht zuletzt aber ist die zunehmende Verflechtung von Politik und Medien anzuprangern. Die Tendenz der Parteien, die Gewalten personell zu durchdringen, erfasst dabei zunächst den Öffentlichen Rundfunk. Die GEZ-Gebühren wirken dabei wie eine direkte Steuer, die die Bürger quasi für einseitige Propaganda entrichten müssen.
Für die politische Ausrichtung journalistischer Information sind im wachsenden Maße neuerdings sogenannte „Philanthropen“, Thinktanks und das Großkapital verantwortlich. Sie üben in immer größerem Maße Einfluss auf die Politik aus, wodurch sich die Demokratie allmählich in eine Oligarchie zu wandeln beginnt. Diese und weitere Systemmängel und Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung werden in einer Artikel-Serie im Magazin von 1bis19 besprochen, um die Öffentlichkeit für die Fehlentwicklungen zu sensibilisieren. Denn politische Reformen sind heute notwendiger denn je.