Gastbeitrag von Eugen Zentner
Die Beitragsreihe “Wie geht’s weiter” beleuchtet offen die Frage, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen kann. Hat die Corona-Zeit Probleme zu Tage gebracht, die wir beleuchten sollten? Sind wir mit dem Status Quo unseres Zusammenlebens zufrieden? Wir lassen in den kommenden Monaten Menschen aus Politik, Wirtschaft, aus den Medien, dem Bildungsbereich und der Kultur zu Wort kommen.
Lesedauer 5 MinutenWir leben in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Liberalität erodieren in Windeseile. Der als überwunden geglaubte totalitäre Geist schickt seine Vorboten, was sich allein daran erkennen lässt, dass die Corona-Ideologie, wonach dem Virus nur mit harten Maßnahmen zu begegnen ist, alle gesellschaftlichen Institutionen durchdringt. Wer daran Kritik übt, wird diffamiert, zensiert und vom Diskurs ausgeschlossen. In einigen Fällen geht der Druck sogar so weit, dass die wirtschaftliche Existenz in Gefahr gerät. Es ist eine Zeit der Unsicherheit, der politischen Angst.
Eine ähnliche Umbruchsituation gab es schon einmal in Deutschland. Zwischen den beiden Kriegen erlebten die Zeitgenossen einen krisenreichen Übergang vom Kaiserreich zur Demokratie, die dann in eine Diktatur überging. Wie heute prallten verschiedene Ideologien aufeinander, es tobte ein Kampf, der bisweilen auf den Straßen ausgetragen wurde. Diesen Zeitgeist hat Thomas Mann 1924 in seinem Bildungsroman «Der Zauberberg» kunstvoll eingefangen, indem er den Wettstreit der Ideologien in ausführlichen Dialogen darstellte. Jede Figur verkörpert eine Geistesströmung. Während der Jesuit Leo Naphta als radikaler Intellektueller erkennbar wird, der mal faschistisch, mal kommunistisch geprägte Thesen formuliert, erweist sich der italienische Literat Ludovico Settembrini als Humanist mit demokratischen Idealen. Mynheer Peeperkorn repräsentiert hingegen den Hedonisten, der sich dem Vitalitätskult hingibt. Und Joachim Ziemßen stellt den staatstreuen Pflichtbürger dar, wie ihn sich der heutige „Philosoph“ Richard David Precht wünscht.
Der Geist des totalitären Kollektivismus
Thomas Manns Werk demonstriert, wie fruchtbar sich gesellschaftliche Umbruchphasen auf Kunst und Kultur auswirken können. Die Periode zwischen den beiden Weltkriegen war eine veritable Blütezeit, geprägt durch eine Vielfalt moderner Strömungen und Stile. Ob avantgardistische oder traditionalistische Strömungen, ob proletarisch-revolutionäre oder linksliberale, ob konservative oder völkische – der Innovationsdrang machte sich in den Werken deutlich bemerkbar, sowohl inhaltlich als auch formal. In ihnen spiegelte sich die politische Auseinandersetzung jener Epoche, über der bereits der Geist des totalitären Kollektivismus schwebte.
Doch keiner hatte für diese Entwicklung ein schärferes Auge als Franz Kafka. Sein Roman «Der Prozess» beschreibt die innere Logik eines Machtapparates, der ständige Angst und Unsicherheit produziert. In ihm tut sich die Undurchschaubarkeit der staatlichen Verwaltung kund, wie sie sich auch in Corona-Zeiten aufdrängt.
Wahre Kunst muss auf das Zeitgeschehen eingehen, kritisch und diskursiv. Sie muss sich einmischen und auf die Missstände verweisen. Sie muss der Gesellschaft den Spiegel vorhalten und nach neuen Ausdrucksformen suchen, um sie zu erreichen. Das sollten sich die heutigen Künstler noch einmal vergegenwärtigen. Viele von ihnen dürften mit der aktuellen politisch-gesellschaftlichen Situation nicht zufrieden sein. Gespräche unter Kollegen offenbaren, dass die unverhältnismäßige Corona-Politik durchaus auf große Ablehnung stößt. Nur wird es nicht so laut ausgesprochen, nicht in Werke gegossen. Wie seinerzeit Kafka könnten sie heute die Undurchschaubarkeit dieser „neuen Normalität“ zum Ausdruck bringen. Das wäre nicht nur wünschenswert, sondern erforderlich. Eine freiheitlich-demokratisch verfasste Gesellschaft braucht mutige Künstler, gerade in Krisensituationen.
Angst vor zunehmender Repression
Dass sich das Engagement zumindest in kultureller Hinsicht lohnt, lehrt die beschriebene Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. In den Geschichtsbüchern wird sie als «Klassische Moderne» bezeichnet, als Periode, die in mehrfacher Hinsicht Impulse für die Zukunft gesetzt hat. Das ging aber nur, weil Kulturschaffende aktiv wurden, ja den Mut aufbrachten, sich mit den Missständen auseinanderzusetzen. In der gegenwärtigen Krise sieht es jedoch ganz anders aus. Es herrscht Passivität. Viele gerade namhafte Künstler tauchen ab, um ja nicht anzuecken. Die Angst lähmt ihre Produktivität. Zu groß ist die Furcht, medial vernichtet zu werden. Zu schwer wiegt die Sorge, dass Verlage, Kuratoren oder Theater laufende Verträge kündigen könnten. Nur der Anschein einer Kritik an der Corona-Politik kann die eigene Existenz gefährden.
In einer solchen Situation befanden sich aber auch die DDD-Schriftsteller, die sich trotzdem oder gerade deswegen auflehnten. Ihnen drohten Berufs- und Publikationsverbote, Organisationsauschlüsse und sogar Haftstrafen. Dennoch äußerten sie in und außerhalb ihrer Werke Kritik an den politischen Entscheidungsträgern, weil sie im System einen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit bemerkten. Durch zunehmende Repression, Bevormundung und ständige Überwachung entfernte sich die DDR von ihren sozialistischen Idealen. Wie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen machte sich ein gesellschaftlicher Umbruch bemerkbar, was viele Künstler dazu bewegte, sich mit den Veränderungen und Missständen auseinanderzusetzen. Und wieder entstanden großartige Werke, Weltliteratur, die noch heute auf dem Lehrplan steht.
Schriftsteller wie Erich Loest oder Stefan Heym schrieben gegen die desaströsen Verhältnisse an. Letzterer gehörte auch zu jener Gruppe von Autoren, die eine Petition unterschrieben und sich dadurch mit dem Liedermacher Wolf Biermann solidarisierten, nachdem dieser wegen seiner Kritik 1976 ausgebürgert worden war. Das erinnert gewissermaßen an die Aktion #allesdichtmachen – nur unter umgekehrten Vorzeichen. Während die damaligen Künstler einem einzigen Kollegen im Kollektiv Rückendeckung gaben, muss man sich heute zunächst, zusammenschließen, um Kritik überhaupt erst zu äußern. Die Solidarität der Kollegen fällt hingegen spärlich aus.
Lichtblicke in der Krise
Allerdings gibt es auch einen Lichtblick. Einige, eher weniger bekannte Künstler setzen sich auch in ihren Werken mit der gegenwärtigen Situation auseinander. Ein Beispiel ist der Lyriker Christoph Köhler. In mehreren seiner Gedichte hat er sich etwa mit der Kontaktsperre beschäftigt und sie unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Mal steht der Aspekt der Spiritualität im Mittelpunkt, mal die der Einsamkeit und Vereinzelung. Ein weiteres großes Thema ist die Absurdität der Corona-Maßnahmen, die Köhler nicht nur inhaltlich thematisiert, sondern auch formal darzustellen versucht.
In der bildenden Kunst verarbeitet vor allem Angelika Gigauri die gesellschaftliche Corona-Entwicklung. Seit März 2020 fertigt sie kleine Zeichnungen an, die jedes Mal einen Kopf mit einem Virus als Krone darstellen. Während das Motiv variiert, wird das Haupt mit verschiedenen Gedanken gefüllt. Erst kürzlich ist ein Bildband erschienen, der die ersten 49 Arbeiten bündelt. „Die Darstellungen“, schreibt die Künstlerin in ihrem Vorwort, „bieten jedem Beobachter die Möglichkeit, über die Corona-Situation nachzudenken, sie zu hinterfragen, sich darüber auszutauschen und selbst neue Ideen zu entwickeln – für eine neue und aufbauende Zukunft.“
Diese beiden Beispiele machen durchaus Hoffnung. Sie führen vor, dass Kunst nicht schweigen darf, erst recht nicht in einer Krisensituation. Jetzt ist die Zeit da, Kulturgeschichte zu schreiben und das eigene künstlerische Schaffen mit einem politisch-gesellschaftlichen Engagement zu verquicken. Aus Passivität muss Aktivität werden. Es könnte sich lohnen, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für Kunst und Kultur.
Gastbeiträge geben die Meinung des Autors/der Autorin wieder.
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