Von Jakobinern regiert

von Gastautor Dr. Jörg Uhlig

Lesedauer 4 Minuten

Der junge Maximilien de Robespierre war ein demokratischer Visionär, der für die Gleichheit aller Bürger und gegen die Privilegien von Adel und Klerus kämpfte. Dem gelernten Juristen war auch die Freiheit der Presse ein Anliegen und – man höre und staune – er lehnte die Todesstrafe rigoros ab! Kurz: Er war das Musterbeispiel für einen modernen, aufgeklärten Zeitgenossen.

Wie kam es zu diesem verhängnisvollen Sinneswandel, wie wurde aus einem Paulus ein Saulus, aus jemandem der sich den Idealen der Aufklärung verschrieben hatte, einer, wenn nicht der Hohepriester des Terrors?

Zum einen war es sein Verständnis von Tugend und welche Rolle sie in der Gesellschaftsordnung spielen sollte, zum anderen wähnte sich Robespierre in einer Notlage, da er fürchtete, dass die Restauration die Errungenschaften der Revolution zunichtemachen könne. Um dies zu verhindern, erschien ihm schließlich jedes Mittel recht.

„Gemäß Jean-Jacques Rousseau erzeugen alle Mitglieder einer Gemeinschaft in freiwilliger Übereinkunft einen Gemeinwillen, die <volonté générale>. Der Gemeinwille orientiert sich am Gemeinwohl und hat dabei immer Recht. Er gilt absolut, auch wenn Einzelne ihn ablehnen. Er ist nicht einfach der Wille der Mehrheit, sondern derjenigen, die tugendhaft und im Besitz der Wahrheit sind. Jeder, der den Gemeinwillen angreift, stellt sich außerhalb der aufgeklärten Gemeinschaft.“ 1

Terrorherrschaft als notwendiges Übel

Welch herrlicher Zirkelschluss: Freie Menschen geben sich per Mehrheitsbeschluss einen Gemeinwillen, dieser wird als tugendhaft erklärt und über die Freiheit des Individuums gestellt, bis hin zur physischen Vernichtung der Abweichler.

Damit war allerdings die Freiheit beseitigt, zumindest die Freiheit des Individuums.

„Für Robespierre bedeutete dies, dass die Gegner der Republik nur die Wahl zwischen einer Änderung ihrer Überzeugungen und dem Tod haben durften. Je grausamer die Regierung gegenüber den Verrätern auftrete, desto wohltätiger sei sie gegenüber den braven Bürgern, ließ Robespierre 1793 verlauten. Die Terrorherrschaft war ihm zufolge ein notwendiges Übel, um das Volk für den von Rousseau empfohlenen Gesellschaftsvertrag bereit zu machen.“ 2

Auf Grundlage dessen unterschrieb Robespierre fortan tausende Todesurteile. Der von ihm und einem Kollegen geführte „Wohlfahrtsausschuss“ erließ zudem ein weiteres Gesetz, nach dem den Angeklagten kein Rechtsbeistand mehr zustand und ein jeder ohne Mehrheitsbeschluss des Konvents vor das Revolutionstribunal gebracht werden konnte. Damit war jede Rechtstaatlichkeit außer Kraft gesetzt.

Der untugendhafte Bürger

Was aber haben die blutigen historischen Ereignisse mit den zivilisierteren Verhältnissen in Deutschland oder Europa im Jahre 2021 zu tun, d.h. im zweiten Jahre des Ausbruchs eines Virus namens SARS-CoV-2?

Nun, es rollen heute nicht mehr Köpfe. Doch leben wir und viele andere ehemals freie Gesellschaften in mehr und mehr illiberalen Verhältnissen. Auf uns prasseln Tag um Tag neue Verordnungen der Regierenden in einem medialen Klima des Psychoterror hernieder.

Heute wie damals wird als Grundlage dieses Handelns eine Notlage herangezogen. Als Errungenschaften der Pandemiebekämpfung dargestellte Statistiken könnten durch „unsoziales und verantwortungsloses“, also untugendhaftes Verhalten der Bürger gefährdet werden.

Die Bürgerrechte des Grundgesetzes wurden durch die vom Parlament festgestellte „pandemische Notlage nationaler Tragweite“ und diverse Infektionsschutzgesetze ausgehebelt. Dies wird auch offen von den Regierenden zugegeben. Die „Notlage“ erfordere es.3

Die Regierungen proklamieren für sich, im Kampf gegen das Virus den Gemeinwillen – wir erinnern uns: „volonté générale“ – zu repräsentieren.4

Auch dieser ist absolut: Es haben sich alle Bürger den Maßnahmen der von der Bundesregierung und Landesregierungen zur Bekämpfung der „Pandemie“ erlassenen Verordnungen zu unterwerfen, bei Strafandrohung, wer sich widersetzen will. Anders als beispielsweise in Schweden findet keine Kommunikation mit den Bürgern auf Augenhöhe statt, sondern das Instrument der Durchsetzung wurde eine repressive und absichtsvoll Panik schürende Kommunikation.

Das Versagen der Gewaltenteilung

Die Justiz, allen voran das Bundesverfassungsgericht, fasst Beschwerden gegen diesen Verfassungsbruch nicht mit der Kneifzange an und steckt seit nun eineinhalb Jahren den Kopf in den Sand. Es wurde höchstrichterlich noch nicht einmal überprüft, ob die Maßnahmen und deren Auswirkungen im akzeptablen Verhältnis stehen, ob auf Bildung, Kultur, Sport, Wirtschaft, oder einfach auf die Aushebelung der im Grundgesetz garantierten Bürgerrechte. Abweichende Richter und Gutachter, deren Gutachten diese Richter zu Rate gezogen haben, bekommen Besuch von Polizei und Staatsanwaltschaft, und werden selbst mit Psychoterror mit dem offensichtlich konstruierten Vorwurf der „Rechtsbeugung“ überzogen. Denn sie waren, – genau: nicht tugendhaft!

Somit unterwerfen sich sowohl Gerichtsbarkeit als auch Parlament unter den von der Regierung proklamierten „volonté générale“. Oder was die Regierung dafür hält oder zu halten vorgibt. Die im Grundgesetz verankerte Gewaltenteilung ist de facto ausgehebelt.

Mit der Möglichkeit einer Impfung wird der Druck auf Bürger, die sich aus welchen Motiven auch immer nicht impfen lassen möchten, kontinuierlich aufgebaut. Diese Bürger – Robespierre hätte sie als „untugendhaft“ bezeichnet weil sich außerhalb die Gemeinschaft stellend – werden ausgegrenzt, und sollen durch Drohung von Freiheitseinschränkungen wie dem Ausschluss von Kulturveranstaltungen, Restaurantbesuche, Sportstätten, Beschränkung von Einkaufsmöglichkeiten, durch Reiseverbote etc. zwangsweise willfährig gemacht werden. Denn sie seien unsolidarisch. Sie dürfen sich zwar bisher noch „frei“-testen, aber – so ist es geplant – bald nicht mehr auf Kosten der Gemeinschaft, deren „volonté générale“ sie angeblich missachten. Ihre Steuern, Sozialabgaben und GEZ-Gebühren dagegen, die sie selbst für die Solidargemeinschaft erwirtschaften, werden aber bis auf Weiteres von der Obrigkeit noch angenommen.

Fortschreitende Willkür und Psychoterror

Doch welche Rolle spielt denn ein „volonté générale“, also der abstrakte angebliche Wille einer Mehrheitsgesellschaft, in einem Rechtsstaat, sofern er nicht in konkrete Gesetze gegossen wird? Und welche Rolle spielt „Tugendhaftigkeit“ des Einzelnen im Hinblick auf das Zuerkennen von Recht und Gesetz?

Keine. Grundlage allen Handelns dürfen ausschließlich Gesetze sein. Und diese müssen, sofern sie einschränkend wirken, verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit muss von unabhängigen Gerichten kontinuierlich anhand konkreter Kriterien wie Krankheitsausbreitungen (und zwar nicht von Infektionen, sondern von Krankheiten!) und Be- und Überlastung des Gesundheitssystems transparent überprüft werden. Wenn man jedoch wie die Herrschenden vorgeben, im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit ist, erübrigt sich eine solche Prüfung. Was dringend Not tut, ist eine freie, öffentliche und kontroverse Debatte über Für und Wider der Maßnahmen. Und diese müssten fortlaufend auf Wirksamkeit überprüft werden. Dabei müssten sich auch strikte Gegner der Maßnahmen in der öffentlichen Debatte ohne Beschränkung erklären können. Wie sollte sich denn sonst auch ein„volonté générale“ bilden, auf den man sich beruft?

Stattdessen werden systematisch Demonstrationen, die dies einfordern, unter fadenscheinigen Begründungen von Regierung und Justiz willkürlich verboten.5

Oder um die historische Lektion zu bemühen: Je grausamer die Regierung gegenüber den Abweichlern auftritt, desto wohltätiger ist sie gegenüber den braven Bürgern!

In Wirklichkeit gibt es keinen „volonté générale“. In Wirklichkeit gibt es nur ein Regime des Psychoterrors. Robespierre hätte seine Freude!

1 Robespierre, s. Wikipedia-Eintrag

2 ebenda

3 Merkel richtet Videobotschaft an die Bürger: „Zumutung für die Demokratie“ – Politik – FOCUS Online

4 Helge Braun im BILD-Interview: „Geimpfte werden mehr Freiheiten haben“ – Politik Inland – Bild.de

5 Wegen Infektionsschutz: Polizei verbietet zwölf Demos am Wochenende in Berlin | rbb24

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