von Max H. Suschnig
Lesedauer 4 MinutenAls Kind beneidete ich meinen Vater, der am Briefkasten nie leer ausging. Stets langten verschiedene Kuverts für ihn ein, die er, an den Schreibtisch sich setzend, mit der gleißenden Klinge seines Brieföffners gewissenhaft längs auftrennte. Ich war überzeugt, dass er in Erwartung dieser Schreiben war und dass alles daran interessant seien müsse.
Nun bin ich in einem Alter, in dem man sich nicht mehr so sehr nach Post sehnt: denn eigentlich interessieren sich für mich vorzüglich Rechnungsleger, Finanzamt oder Werbung. Pünktlich zum Jahresende gesellen sich noch Glückwünsche von Geschäftspartnern, Bitt- und Bettelbriefe karitativer Organisationen und – eine paar Weihnachtsbriefe aus Familien- und Freundeskreis hinzu.
Der private Gemeindebrief
Aber auch diese Weihnachtsbriefe sind nicht wirklich persönliche Zeilen, sondern Rundbriefe an einen mir unbekannten Kreis von scheinbar Vertrauten. Ich sage„scheinbar“, da dem Inhalt solcher Briefe, wie ich über die Jahre feststellte, gewisse Grenzen der Konvention gesetzt sind Denn obschon allen Weihnachtsrundbriefen doch zuvorderst der Antrieb zugrunde liegt, andere am eigenen Leben und der eigenen Ein- und Ansichten teilhaftig werden zu lassen, ist unschwer zu erkennen, dass alle Darstellung des Privaten einem wenn nicht mild gefärbten so doch verhaltenen Ton der Repräsentation unterliegt. Freimütige Mitteilungen, dass Schwager Eugen wieder wegen Sachbeschädigung sitzt oder Ännchen den Enkel leider abgetrieben hat, würde zwar das Interesse am Medium heben, verbietet sich dann aber doch zum festlichen Anlass.
Ein solch traditionelles Schreiben stellt seit vielen Jahren der Weihnachtsrundbrief eines Anverwandten dar: ein gestandener Allgemeinmediziner, der sich – wie er nicht ohne Stolz vermerkt – eine „Weihnachtsbriefgemeinde“ aufgebaut hat.
Um es von vornherein zu sagen, der Mann präsentiert sich untadelig: Sportsmann, Familienvater und Gemeinderat der herrschenden Fraktion. Früher hätte man gesagt: ein verdienter Honoratior, dem nichts Extravagantes oder gar Abgründiges anhaftet, ein pragmatischer, fleißiger und geschätzter Hausarzt aus der Mitte der Gesellschaft.
Quell der Erbauung
Warum er gerade mich auserkoren hat, seine immer umfangreicheren und üppig bebilderten Weihnachtsbriefe zu beziehen, weiß ich nicht. Einen Anlass habe ich ihm, soweit erinnerlich, dafür nie gegeben, und so nährt er alljährlich nur meinen lasterhaften Voyeurismus und verleitet mich zum ineffizienten Umgang mit meiner auch feiertäglich knapp bemessenen Zeit. Eine Disziplinlosigkeit, die er in seiner naturgemäß zeitlich stets angespannten Landarztpraxis nicht einreißen lassen mag, wie der Aufforderung, „Fassen Sie sich kurz! Politische oder gesellschaftliche Probleme gehören nicht in die Sprechstunde.“, an seiner Besprechungszimmertür zu entnehmen ist. Ja, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Für solche Probleme ist Platz in Weihnachtsrundbriefen, sollte man eventuell hinzufügen.
Diesen Platz nutzt er in der Tat weidlich und im Verlauf der Jahre desto mehr, da auch bei ihm die wohl unvermeidliche Einsicht leise Einzug hielt, dass sich weder das eheliche Glück noch die heranwachsenden Kinder als zuverlässige Quelle einer alljährlich erbaulichen Darbietung eignen. Da verhilft der politische und gesellschaftliche Teil mit seinen reizvollen Differenzen zu größerer Authentizität und Lebensnähe und verhindert zudem, dass der eigene Weihnachtsbrief im allzu unglaubwürdig sorgenfreien Idyll absäuft.
Es bedarf folglich keiner größeren Phantasie, zu erahnen, dass ein Medikus in seinem Schreiben 2021 sich des grellen Gegensatzes von einsichtsvoller familiärer Eintracht zum gesellschaftlich wenn nicht zwielichtig, so doch unverständigen Aufbegehren gegen die Corona-Maßnahmen mit entschiedener ärztlicher Autorität annahm, beklagend, dass „speziell beim Thema Impfen keine Falschbehauptung zu schäbig (sei), um Menschen weiter zu verunsichern.“ So müsse er sich „in der Sprechstunde (…) täglich mit den absurdesten Behauptungen auseinandersetzen und mühsam versuchen <Argumente> zu entkräften, die von vornherein völlig haltlos sind.“ Dabei entdecke er „immer wieder dasselbe Muster: Eine falsche Grundannahme oder Behauptung, auf der dann ein Gebäude aus logischen Fehlschlüssen aufgebaut wird.“
Beeindruckende Ausbeute
Als Mann der Wissenschaft von solch irrigen Prämissen „von vorneherein“ selbstredend frei, aber von seiner aufopferungsvollen Arbeit der „Steuerung der Patienten und (…) Impfkampagne“ mitunter erschöpft, bedurfte es dann und wann des entspannenden Ausgleichs, weshalb er sich inmitten rastloser Pandemie, selbstverständlich in Begleitung mit der fürsorglich geimpften Gemahlin, auch einmal den kurzweiligen Musicalbesuch in der Ferne gönnte. Wer will es ihm verdenken? Und dies umso weniger, wenn er hernach dem trauten Kreis der Weihnachtsbriefbezieher die intime Einsicht gewährt, dass solch Bildungsreise nicht nur kurzweilig Vergnügen des Wohlklangs zu schenken weiß, sondern anhaltende Erweiterung des Horizonts, weil doch enorm „Beeindruckend war, wie man in Hamburg Kultur und Gastronomie konsequent unter 2G Bedingungen betreibt“.
Dass immer mehr Bürger des Landes trotz aller pharmakologischen wie hygienistischen Experimente von Politik und Wissenschaft solche neue Lebensbedingungen gar nicht „beeindruckend“ fanden, kann dem Verfasser des Rundbriefs nicht entgangen sein, was ihn, auf das Wesentliche seines ärztlichen Handelns im vergangenen Jahr fokussierend, zerknirscht einräumen lässt: „Wir hatten eigentlich gehofft, dass die Impfung die Ansteckung von vorneherein verhindern könnte. Das hat nicht funktioniert.“ Der geneigte Leser möge sich an dieser angenehm prosaischen Stelle nicht an der überraschend gewählten Form des „Wir“ stoßen, es handelt sich dabei sicher nicht um einen „Pluralis Majestatis“, dies widerspräche der gezügelten und reflektierten Selbstwahrnehmung des Briefschreibers. Es handelt sich wohl eher um einen Ausdruck bescheidenen Rückzugs auf die Mehrheit, sei es in der wissenschaftlichen oder der politischen Gemeinschaft.
Und wie so viele Mehrheitsbeschaffer in diesen deutschen Landen, will auch er sich nicht mit verdrießlicher Analyse und Aufarbeitung aufhalten, sondern ermuntert, nicht ohne unfreiwillige Komik gerade den wissenschaftskritischen Philosophen Karl Popper zitierend, dass es „zum Optimismus keine vernünftige Alternative“ gäbe. Denn die neuen Herausforderungen warteten schon: „Von der Butter bis zur Heizwärme wird alles teurer. Jede neue Woche verschärft die Nöte vieler Menschen, die Regierenden kommen mit dem Verarzten nicht mehr hinterher, und das Steuergeld ist endlich.“
Man sehe mir nach, dass ich, von solchen Einsichten restlos verarztet, den Weihnachtsbrief 2022 sinken ließ und zu meiner Erbauung nach dem für mich von einer gütigeren Verwandten unter den Weihnachtsbaum gelegten Nietzsche-Band „Jenseits von Gut und Böse“ griff, denn „Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehen“.