eine Groteske von Leonia Tralalińska

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Psittacidae felida

Das Leben war eintönig geworden. Ich beschloss, die Sache aufzupeppen, und kaufte mir auf dem Wildmarkt einen Tiger. Ich habe ihn Karl genannt. In den ersten Wochen war Karl ein wenig eingeschüchtert und ruhte meist auf dem Teppich, um sein Revier zu markieren. Die Nachbarn hielten Karl zunächst für ein Produkt der künstlichen Intelligenz in der Form eines perfekten Plüschroboters:

“Was werden sie sich noch alles einfallen lassen! Dieser Zuckerberg und dieser Gates! Das ist genau wie in echt”, sagte die Besitzerin unserer Wohnung. “Jetzt verstehe ich, warum das Licht bei Ihnen immer rot ist. Der Tiger läuft wahrscheinlich mit Solarbatterien, man muss ihn mit Infrarot beleuchten.”

Dazu habe ich mich nicht geäußert. Ich habe nur klar, klar, selbstverständlich, na ja, sehen Sie, einen schönen Tag noch gesagt.

Eines Nachmittags machte ich mit Karl einen Spaziergang. Die alte Dame, meine Nachbarin, saß auf der Bank vor dem Wohnblock. Neben ihr saß ein kleiner Hund. Als er Karlchen sah, sprang er von der Bank und wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Er rollte sich auf den Rücken und nahm eine unterwürfige Position ein. Karl knurrte, die Haare standen ihm zu Berge. Die alte Dame brach in Gelächter aus; verängstigt kuschelte sich der Hund an sie.

“Diese Technik, schau Otto, sie haben es geschafft! Und er trägt sogar eine Brille. Wer hat schon mal einen Tiger mit Brille gesehen!”

Schon damals hatte ich Karl eine Brille gekauft. Denn er zeigte seit langem großes Interesse an wissenschaftlicher Literatur. Ganze Tage verbrachte er damit, die neuesten Entwicklungen in der Mikrobiologie und Statistik zu studieren.

Das Leben mit Karl war angenehm. Jeden Morgen kam er in mein Bett, legte sich mit seinem schweren Körper auf mich und leckte mir das Gesicht. Dann machte er schnell einen Satz aus dem Bett, setzte seine Brille auf und begann zu lesen.

Ich habe ihn an der Universität eingeschrieben, an der Harvard Medical School. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob sie einen Tiger als Studenten akzeptieren würden. Denn weißt du, ein Tiger ist eine mächtige, unberechenbare Katze. Er hat Krallen und Reißzähne. Er könnte jemanden fressen. Glücklicherweise respektierte die Universität Harvard die Regeln der Inklusion und akzeptierte jeden, unabhängig von seiner Form. Karl wurde Student an der renommierten Universität, die er mit Auszeichnung verließ. Während seines Studiums verliebte er sich und wurde Vater. Ich war sehr stolz auf ihn.

Als ich an einem Herbsttag das Haus verließ, harkte die alte Dame im Garten Blätter:

“Ach, Otto hat so fröhlich gebellt, als er Karlchen im Fernsehen sah! Mein armer Kleiner, er hat sich sogar eingepinkelt. War das eine Freude für ihn, seinen alten Kollegen als Gesundheitsminister im Fernsehen wiederzusehen!”

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