Schweigen

von Max H. Suschnig

Lesedauer 3 Minuten
© Franz Xaver Messerschmidt

Et summum fiat silentium. Das Schweigen zählt nicht nur im monastischen Leben zu den großen menschlichen Herausforderungen. Doch die Stille ist nicht nur Last, sondern kann zur Quelle von Freiheit und Schönheit werden. So entwickelte sich im Bereich der Klöster die Raumform des Kreuzgangs als Saum des hortus conclusus, des umschlossenen Gartens mit seiner in ihm gehegten Natur. Der Garten figuriert in diesem Rahmen als Sinnbild der uns umgebenden äußeren Welt und dient dem Wandelnden zu Kontemplation und Loslösung vom umtosenden Dasein. Seine wohl bemessenen Proportionen vermögen die Bürde des Schweigens zu versüßen.

Schweigen kann befreien, indes es gibt auch andere Wirk- und Deutungsformen. Interpretationen finden sich in Theologie, Philosophie, Psychologie, Kommunikations- oder Rechtswissenschaft. Letztere kennt zum Beispiel zwar Normen deklaratorischen Schweigens wie Ablehnung oder Zustimmung, substanziell aber entfaltet Schweigen keine Wirkung. Es bleibt rechtliches Nullum. Womit Schweigen im algebraischen Sinne als gebrochenrationale Funktion begriffen wird, da es als Nullum im Nenner eine Definitionslücke schafft. 

Um in den mathematischen Axiomen der Mengenlehre zu verbleiben, wurde in den vergangenen Jahren einer kleineren Teilmenge der Gesellschaft im Zuge einer entfesselten Gesundheitspsychose durch die Mehrheitsmenge Schweigen geboten, während diese Mehrheitsmenge, getrieben von kopflosem, spekulativem und schließlich totalitärem Geschwätz von „Experten“, Meinungsmachern und Politikern, schnatternd wie willfährig im Strom des Zeitgeistes mitrannte. Vordergründig fügte die Vernunft und Maß verloren habende Mehrheit der zum Schweigen gezwungenen Minorität durch eine bis dahin ungekannte Verschleuderung von Mitteln nur wirtschaftlichen Schaden zu. Doch weit gravierender ist, wie sich heute zeigt, dass das Handeln dem gesellschaftlichen Gefüge als Ganzem verheerende Schäden zugefügt haben, ohne dass bis heute irgend jemand bereit wäre, für das Geschehen Verantwortung zu übernehmen.

Ist Schweigen nur Gold

Nun lichten sich in Anbetracht der unerbittlich zutage tretenden Fakten die Reihen der Wortführer von Hysterie und totalitärem Denken. Und die Mindermenge, die der kollektiven Psychose schweigend widerstanden oder sich ihr gar widersetzte, fordert, dass über die Geschehnisse gesprochen werden müsse. Doch ein solches Gespräch findet bis heute nirgendwo statt und die kümmerlichen Ansätze von Auseinandersetzung verlaufen schleppend. Auf Seiten der Apologeten des Pandemischen hat sich Einsilbigkeit breitgemacht. Aus den Zimmern der Herrschenden wird den lästig um Aussprache Antichambrierenden allenfalls zuteil, dass man über Wichtigeres, „Drängenderes “ sprechen möchte. Den einstigen Wortführern der Eskalation ist das Ansinnen spürbar, die Ereignisse vergessen zu machen. Stille möge eintreten. 

Ist diese Stille nicht simple Verdrängung und Tabuisierung, oder könnte man nicht auch Hoffnungsvolles darin sehen, nämlich dass des Meister Eckharts Betrachtungen womöglich die Akteure zur Erkenntnis geführt habe, dass der Mensch „im Schweigen am ehesten seine Lauterkeit zu bewahren vermöge“?

Doch schnell breitet sich vor solchem Optimismus Ernüchterung aus angesichts der gedankenlosen Schwafelei der gleichen Statisten zu den nun heut wohlfeilen Themen Kriegs- und Klimataumel. Man erkennt im Ausschweigen der unmittelbaren Vergangenheit, dass man einer psychoanalytischen Beobachtung ansichtig wird, wonach Schweigen ein physischer Akt sein kann, mit dem man etwas zurückhält, um selbst nicht geschwächt zu werden. Das Schweigen in politischen Zusammenhängen also als ein Akt der Selbstbeherrschung  und bewussten Strategie der Machtausübung. Denn der Schweigende will durch Vermeidung von Begegnung und Auseinandersetzung unantastbar sein.

Ist also deshalb die Vorstellung so abwegig, dass Ursula von der Leyen, Karl Lauterbach, Janosch Dahmen oder wie nun all die schwankenden Geister des Zwanghaften heißen, im Frühstücksfernsehen säßen und freimütig von ihren Fehlern und zugrundeliegenden persönlichen Ängsten sprächen? 

Entstünde für den Zuschauer nicht groteske Momente wie sie Sándor Ferenczi von einem oft wortkargen Patienten berichtet, der sich eines Tages in der Sprechstunde auffallend redselig zeigte. „Hierauf aufmerksam gemacht, konstatiert er selber das Ungewöhnliche seiner Redeweise, beklagt dies aber mit der ihm eigenen Selbstverspottung, da doch »Schweigen Gold« sei. – Auf diesen Einfall hin verweise ich auf die symbolische Identität von Gold und Kot und sage ihm, dass er offenbar mit den Worten, wie mit dem Gold und Kot, zu geizen pflege und heute nur ausnahmsweise in verschwenderischer Stimmung sei. Ich erkläre ihm übrigens, dass sein Einfall auch die psychoanalytische Erklärung des Sprichwortes vom ›goldenen Schweigern ermögliche. Schweigen ist nur darum ›Gold‹, weil das Nichtsprechen an und für sich eine Ersparnis (an Aufwand) bedeutet. Bei dieser Bemerkung bricht der Patient in ein unbändiges Lachen aus und erzählt mir, dass er am selben Tage — ausnahmsweise — einen sehr ergiebigen Stuhl gehabt habe, während er sonst – wenn auch ziemlich regelmäßig – doch immer nur kleine Quantitäten zu entleeren pflegte.  (…)“

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