von Andreas Hansel
Lesedauer 7 MinutenDie Rede
Freitag, irgendwo in einem bayerischen Gymnasium im Jahre 2021. Deutschlehrer Hartmut Wiesinger betritt das Klassenzimmer der 11b zur letzten Stunde vor dem lang ersehnten Wochenende. „Guten Morgen, Herr Wiesinger“, schallt es ihm entgegen. „Guten Morgen“, erwidert er, stellt seine Aktentasche auf das Pult, stellt sich davor und fragt in die Klasse: „Fehlt jemand?“ „Nein, niemand fehlt“, berichtet ihm eine Schülerin aus der ersten Reihe.
Wiesinger: „Habt ihr die Rede unseres Ministerpräsidenten Markus Söder in der Tagesschau gehört?“ „Ja Herr Wiesinger“, rufen einige Schüler. Ein paar weitere nicken zustimmend, die anderen schütteln verneinend ihre Köpfe.
Wiesinger fragt in die Klasse: „Was waren die wichtigsten Wörter dieser Rede?“ Etwa fünf Hände gehen hoch. „Schollenberger Vanessa bitte“, fordert Wiesinger sie auf. Sie sagt: „Bremsen, brechen, boostern, Herr Wiesinger.“ Wiesinger:„Sehr gut, Vanessa. – Hopfenauer Timo, bilden Sie einen vollständigen Satz mit diesen Wörtern.“
Timo spricht: „Maria bremst vor dem Impfzentrum, lässt sich boostern und muss brechen“. Wiesinger: „Was fällt Ihnen ein, Hopfenauer? Brechen muss niemand von der Impfung. Wer redet denn so einen Schmarrn daher. Setzen!“
Wiesinger: „Moser Liesl, versuche du es einmal.“ Liesl: „Wir müssen uns boostern, damit wir die Ausbreitung des Virus bremsen und die Welle brechen.“ „Gut, Liesl, das war schon ganz gut. Bitte noch einmal mit etwas mehr Emotion und Dramatik“, fordert Wiesinger zu einem neuen Versuch auf. „Wir müssen und alle bald boostern, damit wir die schnelle Ausbreitung des Virus bremsen“, antwortet Liesl unverzüglich. „Na ja, Liesl, ich dachte, das kannst du noch besser. Wer mag es versuchen?“, fragt Wiesinger in die Klasse. Drei Schüler melden sich. Wiesigner:„Leitmayer Paul, bitte.“ „Wir müssen uns dringend unverzüglich boostern, damit wir die rasend schnelle Ausbreitung des tödlichen Killervirus sofort bremsen, bevor es und alle tötet“, formuliert Paul. „Hervorragend Leitmayer. Setzen bitte, glatte Eins“, urteilt Wiesinger.
Wiesinger: „So, schreibt bitte alle diesen Satz auf ein neues Blatt in euer Deutschheft. Ich diktiere ihn euch. Das Blatt zeigt ihr zu Hause euren Eltern und lasst es unterschreiben.“ Wiesinger diktiert, die Schüler schreiben.
Wiesinger: „Wo wir gerade beim Thema sind. Sandler Heiko. Du hast in der Pause auf dem Schulhof keine Maske getragen.“ „Aber das muss ich doch draußen gar nicht“, entgegnet Heiko. „Ja bist du denn geimpft?“, fragt Wiesinger. „Das muss ich Ihnen nicht sagen, Herr Wiesinger“, antwortet Heiko. „Sandler, du sagst mir jetzt unverzüglich, ob du geimpft bist, sonst gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch wegen Ungehorsam“, herrscht Wiesinger den Schüler an. „Ich bin nicht geimpft, Herr Wiesinger“, sagt Heiko sehr leise.
Wiesinger, laut und sichtlich erzürnt: „Warum in Gottes Namen bist du noch nicht geimpft, Sandler? Es gab doch wahrlich ausreichend Gelegenheit sich impfen zu lassen. Erst letzte Woche war der Impfbus direkt hier bei uns am Schulhof. Hier an der Turnhalle hat er gestanden und du lässt dich nicht impfen. Das ist unverantwortlich, so ein asoziales Verhalten. Was erwartest du denn? Dass der Papst persönlich bei dir vorbeischaut und dir die Impfung verabreicht? – Was sollen deine Mitschüler von dir denken?“.
Wiesinger nach kurzer Pause:„Wer mir zustimmt, dass Sandler als Ungeimpfter auf dem Schulhof auch eine Masken tragen sollte, hebt bitte die Hand“, fordert er die Klasse zur Abstimmung auf. „Sehen Sie Sandler, das sind alle bis auf zwei“, verkündet er das Ergebnis der Abstimmung.
„Meininger, Lossbrunner, warum haben Sie sich nicht gemeldet? Meininger, Sie zuerst“, fragt er die beiden, die ihre Hand nicht erhoben. „Im Freien kann man sich doch nicht anstecken“, sagt Meininger. „Das ist doch Unfug. Das Virus ist im Freien genauso gefährlich wie in Innenräumen, merken Sie sich das ein für alle Mal“, klärt Wiesinger auf.
„Lossbrunner, und Sie? Was war Ihr Grund?“, geht Wiesinger ihn an. „Weil er mein Freund ist“, antwortet Lossbrunner. Wiesinger laut und scharf: „Lossbrunner, überlegen Sie sich gut, mit wem Sie sich umgeben! Wir sind im Krieg. Wir sind im Kampf gegen ein tödliches Killervirus. Jemand, der in solchen Zeiten keinen Stahlhelm trägt und die kugelsichere Weste verweigert, ist kein Freund. Das ist ein unsolidarischer Kamerad. Merken Sie sich das.“
Wiesinger:„So Sandler, ist die Botschaft bei Ihnen angekommen?“ Sandler schaut nach unten und schweigt. „Also, nächste Woche sehe ich Sie hier geimpft, sonst weigere ich mich, Sie weiter zu unterrichten. Ist das klar, Sandler?“, fährt er ihn weiter an und erntet weiterhin Schweigen. „Ich habe diesbezüglich die volle Unterstützung von Direktor Reinmüller. Sandler, machen Sie ihren Mund auf und antworten Sie mir“, Sandler antwortet nicht, vergräbt sein Gesicht in seinen Händen und lässt den Rest der Stunde über sich ergehen.
Am kommenden Montag gegen zehn Uhr betritt Wiesinger erneut das Klassenzimmer der 11b. Die Begrüßung fällt deutlich gedämpfter aus als am Freitag zuvor. „Guten Morgen, wer fehlt?“, fragt Wiesinger. „Sandler fehlt“, sagt Sven aus der ersten Reihe. „Da ist ihm meine Ansprache wohl nicht bekommen“, lacht Wiesinger. „Nein, Herr Wiesinger, er hat am Wochenende Selbstmord begangen. In der Scheune haben sie ihn gefunden. Er hat sich am Dachbalken erhängt. Jede Hilfe kam zu spät“, berichtet Sven.
Wiesinger – für einen kurzen Moment sprachlos – spricht sodann zur Klasse: „Mein aufrichtiges Beileid und mein tiefes Mitgefühl für seine Familie, seine Freunde und seine Bekannten. Gott habe ihn selig. Lasst und einen kurzen Moment innehalten und schweigen.“ Nach einer langen Minute fährt er mit dem Unterricht fort: „Wäre ich geimpft gewesen, hätte ich keinen Selbstmord verüben müssen. – Leitmayer, welche Zeitform ist das?“
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Das Tribunal
Beate Drechsler war sichtlich nervös. Sie wartete vor der Aula der Justus-Liebig-Schule darauf, hereingerufen zu werden. Dort tagte der Schulelternbeirat in einer außerordentlichen Sitzung, die kurzfristig einberufen wurde. Es ging um sie – um ihr weiteres Berufsleben – vielleicht sogar um ihre zukünftige Existenz.
Die Aula bot ausreichend Platz für Abstand. Die Sitzplätze waren im Schachbrettmuster angeordnet. Nur jede dritte Reihe war besetzt. Zwischen den Stühlen, auf denen jemand saß, waren mindestens fünf Stühle freizuhalten. Abstandsbedingt entfiel das im Saal sonst übliche Gemurmel. Auf der Bühne war das Kollegium der Sekundarstufe I fast vollzählig versammelt. Direktorin Luise Metzinger begrüßte die Geladenen, eröffnete die Sitzung und übergab sogleich das Wort an Sabine Schröder-Hilges, Vorsitzende des Schulelternbeirats.
„Sehr geehrte Frau Dr. Metzinger, liebes Kollegium, sehr geehrte Mitglieder des Schulelternbeirats“, eröffnete sie ihre Ansprache. „Wir sind heute zusammengekommen, um über das weitere Vorgehen in der Causa Drechsler zu entscheiden. Wie Sie wissen, hat Frau Drechsler mehrfach gegen die an der Schule geltenden Hygiene- und Verhaltensregeln verstoßen und wurde deswegen von Frau Dr. Metzinger vorerst bis auf weiteres beurlaubt.“
Im Saal hob Ludger Berentz seine Hand. „Herr Berentz, haben Sie eine Frage?“, erteilte Schröder-Hilges ihm das Wort. „Ja – ich stelle den Antrag, die Masken absetzen zu dürfen. Wir sind doch sicherlich alle doppelt geimpft und die Abstände sind ausreichend groß“, sagte er. „Ihre Kinder tragen die Maske den ganzen Tag, Herr Berentz, wollen Sie das wirklich beantragen?“, entgegnete Schröder-Hilges. „Ja, das möchte ich. Ich bitte um Abstimmung per Handzeichen“, bestand Berentz auf seinem Antrag.
Bevor Frau Schroeder-Hilges Gelegenheit hatte, zur Abstimmung aufzurufen, streckten bereits nahezu alle Anwesenden die Arme in die Höhe. „Für’s Protokoll: Antrag auf Maskenfreiheit mit 17 von 21 Stimmen angenommen. Sie dürfen die Masken abnehmen“, sagte Frau Schröder-Hilges und fuhr fort: „Wie Sie wissen, ist ein Video aufgetaucht, in dem zu sehen ist, wie Frau Drechsler für einen Schüler einen Schnelltest manipuliert. Ich zeige Ihnen jetzt dieses Video, danach werden wir Frau Drechsler hereinbitten und Sie dürfen ihr Fragen stellen.“
Frau Drechsler saß niedergeschlagen vor der Aula und wartete darauf, dass der Schulelternbeirat über sie richten würde. Bis vor kurzem war sie Lehrerin mit Leib und Seele. Sie war bei Schülern und Eltern gleichermaßen beliebt. Auch in der Krise blieb sie hochmotiviert und engagierte sich über die Maßen. Einer Handvoll Eltern hatte sie es zu verdanken, dass Direktorin Metzinger sie erneut einbestellte und ihr mitteilte: „Wenn Sie möchten, lassen wir den Schulelternbeirat entscheiden, ob Ihre Beurlaubung wieder aufgehoben wird. Bislang habe ich das Schulamt noch nicht informiert. Aber wie Sie wissen, sind mir persönlich in der Sache die Hände gebunden. Eigentlich müsste ich Sie suspendieren.“ Während sie ihre Zustimmung für das Prozedere gab, dachte sie an ihre Schüler: „Was werden die Kinder tun, wenn ich nicht mehr unterrichten darf? Die Kinder brauchen doch gerade in solchen Zeiten Lehrer wie mich, die ihnen mit Verständnis begegnen.“
In der Aula war die Vorführung des kurzen Videos inzwischen beendet. Den Inhalt des Videos kannte ohnehin bereits jeder an der Schule. Zu sehen war, wie Frau Drechsler während des allmorgendlichen Schnelltestrituals zum Tisch des zwölfjährigen Paul Bäcker eilte, der Nasenbluten hatte. Sie half ihm die Blutung zu stillen und sagte dann, dass sie ihm jetzt helfen werde, ganz vorsichtig einen erneuten Abstrich vorzunehmen. Während sie das tat, lenkte sie die Aufmerksamkeit der anderen Schüler auf zwei Eichhörnchen, die angeblich im Baum vor dem Fenster zu sehen seien. Diesen Moment nutzte sie, um das Stäbchen zur Probenentnahme nur ganz vorne am Nasenrand des kleinen Paul zu reiben, um damit dann den Test auszuführen.
Ludger Berentz’ Sohn hatte den Vorgang heimlich mit seinem Mobiltelefon gefilmt und das Video abends stolz seinem Vater vorgeführt, der daraufhin unverzüglich die Direktorin Frau Dr. Metzinger über den Sachverhalt informierte. Da Frau Drechslers Personalakte bereits zwei Aktenvermerke aufwies, weil sie Schülern mehrfach vorschriftswidrig das kurzzeitige Absetzen der Maske gestattet hatte, wurde sie von der Direktorin vorübergehend beurlaubt.
Die Tür der Aula öffnete sich und Frau Drechsler wurde hereingebeten. Sie nahm auf einem Stuhl unterhalb der Bühne Platz und schaute in die einundzwanzig Gesichter der anwesenden Mitglieder des Schulelternbeirats. Ludger Berentz eröffnete die Fragerunde: „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Stellen Sie sich vor, Paul wäre positiv gewesen und hätte die gesamte Klasse infiziert. Nicht auszudenken, wenn es die Kinder dann in ihre Familien getragen hätten.“
Frau Drechsler antwortete mit unsicherer Stimme, dass die Kinder doch jeden Tag getestet werden und das Paul, wie alle anderen Kinder auch, am Vortag negativ gewesen sei. Deswegen habe sie das Risiko vermutlich nicht gesehen, führte sie weiter aus. Ob sie es wieder tun würde, ob sie selbst Kinder habe, ob sie an Corona Verstorbene kenne, wurde ebenso abgefragt wie ihr Informationsstand zur epidemischen Lage, zu den aktuellen Zahlen und Vorschriften im Bund und im Landkreis. Auch wurden ihr weitere Fragen zu den Vorgängen in der Vergangenheit gestellt, die sie alle, zunehmend ruhiger werdend, sachlich beantwortete.
Nach etwa einer Stunde war es soweit. Die Vorsitzende des Schulelternbeirats rief zur Abstimmung auf. „Wer dafür stimmt, dass die Beurlaubung von Frau Drechsler aufrechterhalten und eine Suspendierung beantragt werden soll, möge bitte die Hand heben“, sprach sie deutlich hörbar in ihr Mikrofon. Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis neun Hände den Weg in Richtung Saaldecke gefunden hatten, die Hand von Ludger Berentz darunter. „Wer ist dagegen?“, fragte sie sodann und zählte nach kurzer Wartezeit zwölf Stimmen. „Frau Direktorin Metzinger, der Schulelternbeirat hat mit 12 zu 9 Stimmen für die Aufhebung der Beurlaubung von Frau Drechsler votiert. Die Entscheidung liegt letztendlich bei Ihnen“, verkündete sie das Abstimmungsergebnis. Frau Metzinger bedankte sich für das Votum und versprach, die Beurlaubung zeitnah aufzuheben und alles zu tun, um eine Suspendierung zu verhindern.
„Vielen Dank Frau Schroeder-Hilges“, verabschiedete sich Beate Drechsler bei der Vorsitzenden des Schulelternbeirates beim Verlassen des Saals. „Glauben Sie mir, es war ein hartes Stück Arbeit, bis wir eine Mehrheit der Mitglieder überzeugt hatten, in unserem Sinne abzustimmen. Aber es ist enorm wichtig, dass wir Lehrer wie Sie an unserer Schule halten, die Menschlichkeit und Empathie an den Tag legen. Also passen Sie beim nächsten Mal, wenn Sie jemandem helfen, bitte besser auf, dass es nicht wieder gefilmt wird“, antwortetet sie und verließ erleichtert das Schulgebäude.