eine Rezension von Eugen Zentner
Lesedauer 4 MinutenZum Thema Propaganda gibt es nur wenige Werke, die es verdienen, als Klassiker bezeichnet zu werden. Ein solches hat vor knapp sechs Jahrzehnten der französische Soziologe, Historiker und Theologe Jacques Ellul vorgelegt. Im Original kam sein «Propaganda»-Buch 1962 auf den Markt. Drei Jahre später wurde es ins Englische übersetzt. Wer das Standardwerk in der deutschen Fassung lesen wollte, musste sehr lange warten. Doch nun ist es so weit. Im September 2021 erschien «Propaganda» im Frankfurter Westend Verlag, zu einem Zeitpunkt, als im Zuge der Corona-Krise auch in Deutschland ein großer Teil der Bevölkerung gewahr wurde, dass es sich keineswegs um ein Phänomen aus fernen Ländern handelt.
Propaganda ist auch in demokratischen Staaten omnipräsent. Sie mag verborgen bleiben und nicht für alle sichtbar, erfüllt aber ihren Zweck – selbst in Deutschland. Allein das Vorwort reicht aus, um Parallelen zu der gegenwärtigen Situation zu ziehen. Elluls Werk erweist sich als eine Analyse von frappierender Aktualität. Dabei bezieht der Autor in seine Ausführungen noch Medien ein, denen moderne technische Mittel den Rang abgelaufen haben. Da ist viel von Zeitungen und Plakaten die Rede, von Radio und Fernsehen. Dass irgendwann mal das Internet, Bots und ganze Troll-Armeen für propagandistische Zwecke zum Einsatz kommen würden, konnte der französische Intellektuelle damals nicht ahnen. Und dennoch liefert er eine überzeugende Erklärung, wie Propaganda in ihrem Wesen funktioniert. Ellul operiert mit Definitionsbegriffen, arbeitet Erscheinungsformen heraus und nimmt eine umfassende Kategorisierung vor. Es geht um „Vorpropaganda“ und „aktive Propaganda“, um „agitierende und integrierende Propaganda“, um ihre „horizontale“ und „vertikal“ Form.
Merkmale soziologischer Propaganda
Im Mittelpunkt der Analyse steht jedoch das, was Ellul als „soziologische Propaganda“ bezeichnet. Was sie ausmacht, erklärt der 1994 verstorbene Wissenschaftler so: Es handle sich um „alle Erscheinungen, durch die eine (primäre oder sekundäre, globale oder lokale) Gesellschaft versucht, eine maximale Anzahl von Individuen einzubeziehen, das Verhalten ihrer Mitglieder nach einem Modell zu vereinheitlichen, ihren Lebensstil außerhalb ihrer selbst zu verbreiten und sich dadurch anderen Gruppen aufzuzwingen.“ Als Beispiel ließe sich der hochgepriesene und als Export-Schlager geltende «American Way of Life» anführen.
Die Verbreitung eines gewissen Lebensstils ist der Kern der soziologischen Propaganda. Sie ziele auf Stimmungen ab, schleiche sich langsam ein, gewinne zunehmend an Gewicht und gebe letztlich die Orientierung vor. Das ist es, was sie von der politischen Propaganda unterscheidet, die eher auf Techniken der Einflussnahme setze, um das Verhalten und die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber Regierung, Partei oder einer bestimmten Interessensgruppe zu ändern. Solche Propagandamittel, schreibt Ellul, „kommen damit bewusst, berechnend zum Einsatz; die zu erzielenden Ergebnisse sind sowohl klar umrissen als auch recht detailliert gefasst, haben aber im Allgemeinen eine begrenzte Reichweite.“ Diese Form der Propaganda kommt während der Corona-Krise verstärkt zum Einsatz. Wer Elluls Analyse liest, merkt das sofort, vor allem an Stellen, an denen der französische Soziologe ganz konkret wird.
Ein besonders anschauliches Beispiel liefert er mit einer beliebten und gängigen Technik, die auf manipulativen Zahlenspielen beruht. Diese Passagen erwecken den Eindruck, als hätte Ellul sie erst letztes Jahr geschrieben: „Beispielsweise wird eine Zahl genannt, ohne sie auf etwas zu beziehen, ohne sie mit etwas zu verbinden, ohne einen Prozentsatz oder ein Verhältnis anzugeben. Erklärt wird, dass die Produktion um 30 Prozent gestiegen sei, ohne dabei das Jahr anzugeben, worauf sich diese Zahl bezieht, oder dass das Lebensniveau um 15 Prozent gestiegen sei, ohne Angabe darüber, wie es denn überhaupt berechnet wird, oder dass die höchste Zahl an Mitgliedern irgendeiner Bewegung erreicht worden sei, ohne die Zahlen des Vorjahres anzugeben und so weiter. Die Zusammenhanglosigkeit sowie das Durcheinander von derlei Angaben ist absolut gewollt.“
Propaganda und Demokratie prinzipiell unvereinbar
In Krisenzeiten reiche soziologische Propaganda nicht aus, schreibt der Soziologe weiter. Sie sei nicht in der Lage, unter außergewöhnlichen Umständen die Massen zum Handeln zu bewegen. Deswegen müsse ihr bisweilen eine Propaganda klassischen Typs zu Seite gestellt werden, eine, die auf Aktion abzielt. Inhaltlich mag sich die Propaganda totalitärer und demokratischer Staaten unterscheiden. In ihrer Wirkung gebe es jedoch Überschneidungen: Die Propaganda zerstöre den Menschen und seine Freiheit, lautet Elluls Resümee. Nicht weniger düster klingen seine Aussagen zum Schicksal demokratischer Staaten, die sich der beschriebenen Einflusstechniken bedienen. In ihnen wird das ausgesprochen, was kritische Bürger derzeit mit Erschrecken selber wahrnehmen: Propaganda und Demokratie seien prinzipiell unvereinbar. Demokratie werde durch Propaganda nach und nach zersetzt und auf Dauer zerstört.
Solche Passagen wirken nie, als hätte der französische Soziologe sie in emotionaler Aufgewühltheit geschrieben. Der Ton bleibt stets nüchtern und sachlich. Zwischen den Zeilen scheint ein Theoretiker durch, der aus Vogelperspektive seinen Gegenstand zu ordnen sucht. Sehr strukturiert arbeitet er sich von den Merkmalen der Propaganda zu deren Existenzbedingungen durch, beschäftigt sich im Weiteren mit ihrer Notwendigkeit und skizziert die Auswirkungen auf die Psyche, bevor im Anhang unter anderem eine Auseinandersetzung mit den Techniken des chinesischen Ex-Staatspräsidenten Mao Zedong erfolgt. Trotz des teilweise hohen Abstraktionsgrades wird die Lektüre nie langweilig, was auch daran liegt, dass Ellul ganz nebenbei Antworten auf Fragen liefert, die viele Menschen in dem gegenwärtigen Informationskrieg umtreiben.
Warum sind Intellektuelle besonders anfällig für Propaganda?
Eine solche bezieht sich zum Beispiel auf die Rolle der Intellektuellen. Warum lassen sie sich von der offensichtlichen Corona-Propaganda einlullen? Warum sehen sie nicht die Widersprüchlichkeit offizieller Narrative, warum nicht den perfiden Charakter der Berichterstattung? „Je weitgehender die Kenntnis politischer und ökonomischer Tatsachen, umso anfälliger, schwieriger und verwundbarer das Urteil“, schreibt Ellul. „Der Intellektuelle lässt sich viel leichter durch eine bestimmte Art von Propaganda packen, insbesondere durch jene, die mit Ambivalenzen operiert.“ Wer die politischen Ereignisse täglich verfolge und immerfort die neuesten Informationen aufsauge, sei der Einflussnahme am stärksten unterworfen. Ein fleißiger Leser der Leitmedien könne Propaganda kaum bemerken, „da er sich einredet, er würde seinen freien Willen bewahren und all diese Informationen beherrschen können, während er doch durch sie unerbittlich darauf getrimmt wird, für jedwede Propaganda, die die ganzen Fakten, in deren Besitz er sich wähnt, in eine Ordnung bringt und erläutert.“
Als genauso erhellend erweisen sich Elluls Erläuterungen, warum sich Propaganda immer der Angst bedient. Sie habe etwas Irrationales, schreibt er. Wenn man sie zu beruhigen und den Verstand wieder auf die Tatsachen zu lenken versuche, sei ein Scheitern vorprogrammiert: „Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass in einem Klima der Angst genaue Angaben zur Gefahr, die deutlich machen, dass sie viel geringer ausfällt als befürchtet, die Angst nur noch verstärken: Denn diese nutzt die Information sofort, um zu beweisen, dass in Angst zu leben vollkommen richtig war.“ Solche Aussagen sind nicht so weit entfernt von den heutigen Rechtfertigungsversuchen, was Elluls Arbeit zu einem Schatz an Erklärungen macht, die dazu beitragen, den Manipulationsmechanismus der Corona-Zeit besser zu verstehen. Ein scharfsinniges, ein geniales Werk.