Sachbuch: «Land ohne Mut (2023)»

Eine Rezension von Martina Binnig

Lesedauer 4 Minuten

Michael Esfeld ist seit 2002 ordentlicher Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne. Als Mitglied der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina wagte er es, deren Stellungnahme vom 8. Dezember 2020 zu kritisieren, in der sie eine Verschärfung des Lockdowns forderte. In einem Protestbrief an den Leopoldina-Präsidenten Gerald Haug mahnte er an: „In einer Situation wissenschaftlicher Kontroverse wie der Corona-Pandemie sollte die Leopoldina ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen“.

Brisant an der Situation war besonders, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Tag nach der Veröffentlichung der Leopoldina-Stellungnahme auf „Naturgesetze und Kräfte der Aufklärung“ berief, um den Lockdown durchzusetzen. Für Esfeld ein nicht hinnehmbarer Vorgang. Im der Einleitung zu seinem aktuellen Buch „Land ohne Mut“ erklärt er: „Meine Aufgabe als Wissenschaftsphilosoph ist es, Wissensansprüche zu untersuchen, egal, woher sie stammen und ob ihr Hinterfragen politisch erwünscht ist oder nicht. Denn ich bin der Öffentlichkeit verpflichtet, die die wissenschaftliche Arbeit an den Universitäten durch ihre Steuergelder finanziert.“

Postmoderner Totalitarismus

Auf knapp 200 Seiten nimmt Esfeld seine Leser mit auf eine geistesgeschichtliche Zeitreise vom antiken Griechenland über Descartes, Kant und Hobbes bis ins 20. Jahrhundert, um fundiert und differenziert zu argumentieren, weshalb Skepsis gegenüber Machtkonzentration in Politik und Wissenschaft nicht nur legitim, sondern höchst notwendig ist, damit Rechtsstaat, Demokratie und Freiheitsrechte gewahrt werden. Das gelingt ihm kurzweilig und elegant, und es sind keine besonderen Vorkenntnisse nötig, um sein Buch mit großem Gewinn zu lesen. Außerdem fügt er jedem Kapitel eine leserfreundliche Zusammenfassung an.

Das Vorwort hat die Publizistin und frühere DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld geschrieben.  Sie nennt den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, als wesentlich, um einem gesellschaftspolitischen Konformismus entgegen zu treten. Während der Corona-Krise sei eine Pandemie zum Vorwand genommen worden, um die Grundrechte der Bürger massiv einzuschränken und eine flächendeckende Sozialkontrolle einzuführen. Ohne duldende Mitläufer könne autoritäre oder totalitäre Herrschaft jedoch nicht entstehen und gedeihen. 

Neuer Kollektivismus und politischer Szientismus

Ein zentraler Begriff in Esfelds Buch ist der des „politischen Szientismus“ im Gegensatz zu wissenschaftlicher Evidenz. Es sei eine Perversion der Wissenschaft, ihr die politische Rolle zuzuschreiben, welche einst die Staatsreligion spielte. Esfeld zeigt stattdessen den engen Zusammenhang zwischen moderner Naturwissenschaft, liberaler Demokratie und republikanischem Rechtsstaat auf. Derzeit ziehe ein neuer Kollektivismus auf, der grundsätzliche Merkmale mit früheren Kollektivismen gemeinsam habe: den Anspruch auf ein moralisch-normatives Wissen um das allgemein Gute in einer Elite; ein technokratisches Menschenbild, das die Menschen als Objekte ansieht, deren Lebenswege auf dieses Gute hin gesteuert werden können, sowie die Aufnahme dieses Wissensanspruchs und dieses Menschenbildes in Politik, Wirtschaft und Medien.

Ziel des Buches sei es zum einen, die Mechanismen aufzudecken, die zum Regime der real existierenden Postmoderne führen, und zum anderen, Schritte zu erarbeiten, wie der Weg der Moderne wieder aufgenommen werden kann, der auf Wissenschaft im Dienst der Selbstbestimmung und auf der Herrschaft des Rechts – der „rule of law“ – beruhe. Denn politischer Missbrauch von Wissenschaft finde immer dann statt, wenn Wissenschaft sich nicht darauf beschränkt, Tatsachen zu entdecken, sondern sich anmaßt, Normen vorzugeben. Sie überschreite dann die Trennlinie zwischen dem, aufzudecken, was der Fall ist, und dem, vorzuschreiben, was der Fall sein soll. Wissenschaft werde so zu einer Kraft, die sich gegen den Rechtsstaat und die Bürger stellt.

Zurück in die Zukunft

Der Aufbau des Buchs ist von der Film-Trilogie „Zurück in die Zukunft“ inspiriert: Über Wegmarken der Vergangenheit, die die Weichen für die Moderne gestellt haben, geht es wieder zurück in die Zukunft.

Eine dieser Wegmarken aus der jüngeren Vergangenheit setzt Esfeld im Jahr 1971 an: Am 15. August hob US-Präsident Nixon die Bindung des US-Dollars an Gold auf und schuf damit die wirtschaftliche Grundlage der real existierenden Postmoderne, nämlich „die Konstruktion einer Realität in Form der Kaufkraft des Geldes für reale Güter und Dienstleistungen aus nichts, per Fiat, mittels ungedeckter Geldschöpfung“.

Die politischen Maßnahmen während der Corona-Krise versteht Esfeld entsprechend als „postfaktische Reaktion auf eine Virenwelle“: Bis 2019 sei auf Virenwellen allein mit medizinischen Maßnahmen reagiert worden, 2020 seien jedoch plötzlich politische Zwangsmaßnahmen ergriffen worden, die auf keinerlei Fakten beruhten, sondern von falschen Annahmen ausgingen.

Der Slogan des politischen Szientismus laute zudem noch: „Follow the science“. Esfeld untersucht die einzelnen Parameter der Maßnahmen und stellt fest: „Es hat nicht 2020 eine Übersterblichkeit gegeben, die dann in den Folgejahren aufgrund der politischen Maßnahmen einschließlich der Impfung des größten Teiles der Bevölkerung zurückgegangen ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall.“

Postfaktische Pandemie

Minutiös belegt Esfeld, dass die Corona-Pandemie insgesamt eine postfaktische Pandemie war. Die Behauptung, dass die Nicht-Geimpften die Pandemie antreiben, war zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt. Es wurde schlichtweg entgegen der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz ein politisches Programm durchgeführt. Auch die WHO ordnete sich dem politischen  Szientismus unter. Es führe jedoch in den Totalitarismus, wenn Wissenschaft in ein politisches Programm zur Steuerung des Lebens der Menschen umgeformt und zur „sozialen Ingenieurskunst“ werde.

Der „neue Mensch“ ist dann ein vollkommen gleichgeschalteter Mensch, dem seine Selbstbestimmung genommen worden ist. Die real existierende Postmoderne sei daher nichts anderes als der „alte Wein des real existierenden Sozialismus in neuen Schläuchen“. Wenn der Staat aber lenkend in die Wirtschaft eingreift, firmiert sich ein Staatskapitalismus, dessen bisheriger Höhepunkt in der Impfstoff-Kampagne zu beobachten war: Es bestand Abnahmegarantie für die Produkte unter Einsatz der staatlichen Zwangsgewalt bis dahin, dass diese Produkte den Bürgern regelrecht aufgezwungen wurden, wobei die Hersteller für ihre Produkte nicht haften mussten.

Parallelen zum Corona-Regime sieht Esfeld auch in dem Hype etwa um Klima und Wokeness. Der Öffentlichkeit zu suggerieren, man könne mit Modellen deren zukünftige Entwicklung voraussagen, sei nicht Wissenschaft, sondern laufe auf Täuschung der Öffentlichkeit hinaus mit dem Ziel, Wissenschaft als Waffe gegen die Grundrechte des Menschen einzusetzen. Als Ausweg zählt Esfeld auf: Urteilskraft stärken, Skepsis gegenüber Machtkonzentration, Aufbau von vom Staat unabhängigen sozialen Gemeinschaften, Zivilcourage zeigen „mit dem Mut zu freiem öffentlichen Gebrauch seines Verstandes“.

Übrigens vermutet Esfeld keine Verschwörung hinter den aktuellen Entwicklungen, sondern er macht insgesamt einen Trend hin zu einem neuen postmodernen Totalitarismus aus. Stellt sich allerdings die Frage: Wie bildet sich ein Trend heraus? Wer wirkt daran möglicherweise doch gezielt mit, um bestimmte Interessen durchzusetzen?

“Land ohne Mut” von Michael Esfeld, 200 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Achgut Edition 2023, 24,-€

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