Letztgewissheit

ein satirischer Kommentar von Thomas Eisinger

Lesedauer 4 Minuten
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Was ist wahr? Wirklich wahr? Ich meine, so wahr, dass es keinen vernünftigen Zweifel mehr geben kann? Dies ist keine erkenntnistheoretische oder philosophische Frage, sondern eine ganz praktische. Eine Frage des täglichen Lebens, sozusagen. Wem oder was kann ich glauben, kann ich vertrauen? Möglicherweise ist das diejenige Frage, die derzeit am meisten Menschen auf der Welt beschäftigt. Bewusst oder – häufiger – unbewusst. Und die Antwort darauf erscheint schwieriger denn je. Jedenfalls bis vor kurzem.

Doch weshalb scheint die Antwort darauf so schwierig? Wir leben schließlich in den bestinformierten Zeiten seit Menschengedenken. Täglich werden zig Statistiken in unsere Köpfe hochgeladen, die Interpretationen gleich dazu. Nachrichten, früher stündlich gesendet, werden minütlich aktualisiert, Millionen von Blogs und privaten Seiten suchen ihre User.

Aber wem kann man trauen? Was sind „Fake News“ und was ist wirklich glaubhaft? Prinzipiell gibt es drei Wege, auf denen wir Informationen erhalten: wir erleben etwas selbst (und interpretieren es dann gemäß unseres Weltbildes), wir hören etwas direkt von einer anderen Person (der wir mehr oder weniger Vertrauen entgegenbringen) oder wir bekommen es durch Medien vermittelt. „Alles was wir von der Welt wissen, das wissen wir durch die Medien“, stellte Niklas Luhmann einst fest. Aber das war lange vor dem Internet.

Früher war einfach alles einfacher. Die Kirche sagte dem Volk, was es zu glauben hatte. Meist auf lateinisch, da gab es nichts zu hinterfragen. Dann kamen Zeitungen, Volksempfänger, Fernsehen, und schließlich das Internet. Ein Kampf um Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit ist seither entbrannt. Wer in der Lage ist, das größte Vertrauen zu erzeugen, der gestaltet die Realität der „Vertrauenden“. Die größte und wichtigste Aufgabe der heute Regierenden besteht deshalb darin, ein kohärentes Weltbild in der Bevölkerung zu erzeugen. Das aber ist dank zahlloser Informationsquellen schwieriger denn je. Widerspruch verunsichert die Menschen. Wie heute Menschen davon überzeugen, dass die Regierenden stets das Richtige tun und die Wahrheit sprechen, nichts als die Wahrheit?

Was sich nicht wegdiskutieren lässt

Natürlich braucht es in erster Linie dazu die Medien, die für Zweifelsfreiheit sorgen müssen. Das scheint weitgehend geschafft, doch es genügt nicht. Denn die Realität besitzt die unheimliche Eigenschaft, immer wieder der verbreiteten Wirklichkeit zuwiderzulaufen. Was hin wiederum Zweifel nährt.

Es fehlt der absolute Bezugspunkt, etwas, das sich einfach nicht wegdiskutieren lässt. Doch der schien endlich gefunden: die Wissenschaft!

In den letzten Jahrhunderten bestand das wissenschaftliche Prinzip darin, Hypothesen aufzustellen, um anschließend zu versuchen, sie zu widerlegen oder zu verbessern und sich so der Wahrheit immer weiter anzunähern. Stets in dem Wissen, dass jede Theorie durch neue Erkenntnisse erweitert oder sogar umgestoßen werden konnte. Heute haben wir diese Ungewissheit beseitigt. Es genügt eine Abstimmung unter Wissenschaftlern, um eine Theorie als endgültig bestätigt zu sehen. Dies ist ein großer Vorteil, denn damit können sich die Regierenden auf unbestreitbare Tatsachen berufen. Niemand wird es wagen, dem Konsens der Wissenschaft zu widersprechen.

Niemand? Nun, – eine kleine Schar unbeugsamer Wissenschaftler leistet bis heute einigen allgemein verbreiteten Theorien erbitterten Widerstand. Sind sie im Besitz einer geheimen Zauberformel? Oder wenden sie unerbittlich die jahrhundertealte Vorgehensweise an, die aus Versuch und Irrtum besteht? Ergeben ihre Versuche und Analysen abweichende Ergebnisse, so stellen sie eigene Theorien auf, wagen es gar, dem unbezweifelbaren Konsens zu widersprechen. Und sie verschlimmern die Situation, indem sie ihre Ansichten publizieren.

Wie man sich denken kann, fördert das weder Vertrauen noch erleichtert es die Arbeit von Politikern, die auf Basis des unstrittigen Konsenses weitreichende Entscheidungen begründen wollen. Denn trotz ständiger Versuche lassen sich die umstrittenen Wissenschaftler bislang einfach nicht mundtot machen. Sie sind schuld, dass es keine einfache Wahrheit gibt, dass die Menschen weiter in tiefer Verunsicherung leben müssen. Was also tun?

Stiftung Wahrheitstest

Wir erkennen, die tiefgründigste Wahrheit liegt gar nicht in den Wissenschaften! Das wussten doch schon die alten Philosophen, und genau die können uns nun helfen. Die wirklich „reine Wahrheit“, die Letztbegründung, die über Jahrhunderte die Kirche als direkter Mittler Gottes geliefert hatte, kann uns heute Philosophie und Ethik liefern! Keine Frage ist zu komplex, kein Argument zu abwegig, um nicht von den Experten dieses Gebietes beantwortet zu werden. Sie haben den unschätzbaren Vorteil, dass kein Normalbürger die Darlegung und Beweisführung nachvollziehen kann, denn wer steckt schon seine Nase so tief in Platon, Hegel oder Nietzsche, um das ernsthaft überprüfen zu können? Heureka! Die Lösung ist gefunden. Statt sich endlos widersprechender Wissenschaftler haben wir den Ethikrat, der uns zu allen wesentlichen Fragen von Leben, Tod, Klima und Gesundheit mit einer erhabenen Letztbegründung die „reine Wahrheit“ liefert.

Wer darüber immer noch diskutieren möchte, der ist entweder böswillig oder geistig gar nicht in der Lage, den Argumenten zu folgen. Diese Schwurblerei wird niemand mit der Wahrheit verwechseln. Garantiert. Für alle problematischen Entscheidungen kann ab sofort Segen und Absolution des Ethikrates eingeholt werden. Es wird vermutlich zu einem Siegel kommen, ähnlich wie bei Stiftung Warentest: „Absolut wahr“, geprüft von der Stiftung Wahrheitstest im Auftrag des Ethikrates.

Dies ist ein wahrer Segen für die Regierenden, da sie nun keine eigenen Entscheidungen mehr treffen müssen, sondern nur noch das umsetzen, was so höchstethisch deklamiert wurde. Selbst das Bundesverfassungsgericht kann sich daran orientieren, da alte Schriften wie das Grundgesetz für die neue Normalität nicht mehr verwendbar sind. Und wir Normalbürger können endlich wieder mit gutem Gewissen vertrauen. Wer sollte auch so einfältig sein, sich da noch eigene Gedanken zu machen?

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