von Thomas-M. Seibert
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Große Strafprozesse laufen gerade ab, die oft als „Reichsbürgerprozesse“ bezeichnet werden. Aber keiner sieht hin – außer den beteiligten Juristen. Dabei geht es angeblich um unser staatliches Leben und die Grundlagen für alle, die durch staatsgefährdende, umstürzlerische Taten bedroht seien. Die Ankläger dürften Freiheitsstrafen beantragen, die im zweistelligen Bereich liegen – vorausgesetzt, die Verhandlungen kommen überhaupt einmal zu einem Ende. Das ist nicht absehbar. Wer sich damit beschäftigt, der beginnt am Verstand der vielen Verfahrensbeteiligten zu zweifeln, die über Jahre hinaus Justizmittel verschwenden und Grundrechte wegnehmen (unter I). Obwohl im Strafrecht die Kategorie der „Tathandlung“ zentral ist, bleiben in diesen Strafverhandlungen die Handlungen phantastisch; es geht nur um Gedanken. Das ist neu und soll geschichtlich und rechtssystematisch betrachtet werden (unter II). Schließlich geht es um den 1975 zuerst neu gefassten Begriff der „Unterstützung“ einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung, mit dem aus unterstellten Gedanken vor Gericht klagefähige Tathandlungen gemacht werden (unter III). Der Wahn wird Wirklichkeit.
I. Wahn im Prozess
In Deutschland werden gerade an drei Gerichtsorten – in Frankfurt a.M., Stuttgart und München – Staatsschutzprozesse in Großverfahren mit jeweils 9 Angeklagten durchgeführt. In Frankfurt ist dafür aus Sicherheitsgründen ein eigenes Tagungsgebäude errichtet worden. Die Problematik dieser Aufteilung, die für Spezialisten die Wahrheitsfindung vielleicht substanziell beeinträchtigt, lasse ich hier aus der Betrachtung. Die Angeklagten selbst sind im Dezember 2022 in einer frühmorgendlichen Aktion in ihren Wohnungen verhaftet worden und befinden sich seitdem in Untersuchungshaft. Wenn sie zur Verhandlung gefahren werden und wenn sie in die Haftanstalten zurückgebracht werden, pflegt man aus Sicherheitsgründen eine Leibeskontrolle durchzuführen – entkleidet und unter Einbeziehung aller Körperöffnungen. Die Angeklagten gelten als gemeingefährlich.
Die eigentlich juristisch ausgebildete Innenministerin äußerte dazu bei der Festnahme im Dezember 2022: „Die heute aufgedeckte mutmaßliche terroristische Vereinigung ist – nach dem Stand der Ermittlungen – von gewaltsamen Umsturzfantasien und Verschwörungsideologien getrieben“. Die im Dezember 2023 erhobene Anklage der Bundesanwaltschaft lautet auf Hochverrat und Gründung einer terroristischen Vereinigung. Der Prozess sprengt alle Dimensionen. Die Akten haben einen Umfang von etwa 900.000 Seiten; lesen kann das niemand. Manche haben sich aber gefragt, ob die Staatsanwälte beim Generalbundesanwalt bei der Abfassung der Anklageschrift lachten. Denn vorgelegt haben sie ein im Ganzen erheiterndes Dokument. Wahn wurde in Anklage übersetzt.
Man hat einen sogenannten „politischen Arm“ identifiziert, der nach einem Putsch die Regierungsgeschäfte übernehmen sollte. Allerdings dachte man sich die Sache so, dass eine sog. „Allianz“ putschen sollte, man selbst sei ein „Rat“, der nach dem Putsch für die Regierung bereitstünde. Dann gibt es einen „militärischen Arm“ und – ganz apart – auch einen „esoterischen Arm“. Dort vermutet man besonders aktive Gedankengeber. Denn die, die vielleicht tätig werden wollten, haben auf das Signal einer „Allianz“ gewartet. Nach Anklageinhalt war das in den Gedanken der Beschuldigten ein geheimer Bund aus Regierungen, Geheimdiensten und Armeen unterschiedlicher Staaten. Die „Allianz“ hat Anklänge an die Allianz der Siegermächte im Zweiten Weltkrieg oder an die westliche Allianz nach 1945. Ein Verteidiger wird mit den Worten zitiert: „Man ging davon aus, dass diese Erdallianz – dazu gab es auch eine kosmische Allianz – einen solchen Angriff tätigen würde“. Deshalb war ein esoterischer Arm notwendig. Man erwartete Unterstützung von außerhalb. Wenn es den gab, wollte der politische Arm mit „Aufräumarbeiten“ beginnen, die nach den von der Anklage vermuteten Gedanken der Angeklagten auch zu terroristischen Straftaten geführt hätten.
Der Münchner Prozess liefert Einblicke in allerlei Gedanken, von denen noch nicht klar ist, ob sie sich überhaupt beweisen lassen. Es scheint aber so zu sein, dass die Beteiligten taten, was politisch Aktive am liebsten tun: Sie teilten Posten unter sich auf. Es sollte einen Reichsverweser oder Reichskanzler geben; eine sollte Gesundheitsministerin werden; man dachte auch an einen Außenminister und an ein neu zu gründendes Ressort für Transkommunikation, das die Reichsleitung spirituell und mit kosmischen Gedanken hätte beraten sollen. Dementsprechend ist in München eine Astrologin im Ruhestand angeklagt, der es angeblich gelungen sein soll, eine Art unterirdische Basis aufzuspüren, „Deep Underground Military Bases“, kurz DUMBS, genannt. Man dachte, dort würden Kinder gefangen gehalten und getötet, um aus ihrem Blut ein lebensförderndes Elixier herzustellen – was man eben alles so denkt und in manchen Romanen auch nachlesen kann. Die Astrologin war allerdings im Hinblick auf die oberweltlichen Angelegenheiten nicht treffsicher. Die Großrazzia am 7. Dezember 2022, bei der sie und 24 weitere mutmaßliche Verschwörer festgenommen wurden, sah sie nicht voraus.
Wer überhaupt einen Überblick hatte, erfährt man vorläufig nicht. Man sieht nur, dass viele Leute unterschiedliche Interessen verfolgten. Um Prinz Reuss, einen Nachfahren einer 1918 in Ost-Thüringen regierenden Adelsfamilie mit einem Kleinstaat im Kaiserreich, versammelte sich ein operettenhafter Hofstaat mit Astrologin und Leibkoch. In seiner Jagdkammer wurden eine mittelalterliche Armbrust ohne Pfeile und ein stumpfer Degen gefunden. Außerdem wurde Gold des Prinzen in der Schweiz sichergestellt. Nach anwaltlicher Beschwerde wurde es wieder freigegeben, denn das Gold war erworbenes Eigentum. Prinz Reuss als vermögender Angeklagter gewährte anderen Ratsmitgliedern offenbar nicht unerhebliche finanzielle Mittel.
Der Anklage zufolge dachten sich die Angeklagten die Sache so, dass jene sagenhafte „Allianz“ mit ganz vielen, in Europa schon stationierten Kämpfern und mit deren Offizieren in einem sagenhaften Kontakt stand und nach erfolgreichem Kampf dem „politischen Arm“ die Macht übergeben würde. Der militärische Arm wollte jene Kinder aus den „DUMBS“ befreien, in denen sie gefangen gehalten, gefoltert und getötet würden. Für die Befreiung wurde offenbar gezahlt. In der Anklageschrift ist von einem fünfstelligen Betrag die Rede. Wer sich damit beschäftigt, muss entweder lachen oder am Verstand der Beteiligten zweifeln. Eigentlich müssten psychiatrische Gutachten eingeholt werden, was schwierig ist, wenn die Patienten sich selbst für wohlauf halten und die Ankläger sich damit zufriedengeben.
II. Juristische Grundlagen: Verbrechen und Gedankenverbrechen
Das Handlungsgeschehen ist verrückt, wenn man den Versuch macht auszumalen, was hätte geschehen sollen. Denn tatsächlich geschehen ist – soweit bisher erkennbar – nichts. Man hat den Reichstag besichtigt, und um den Besuch einiger Angeklagter dort sind Geschichten geschrieben worden, die in den derzeit laufenden Verhandlungen aber bis auf Weiteres keine Rolle spielen. Der Besuch im Reichstag war also nicht der Beginn eines Umsturzes.
Lästerliche Gedanken
Das ist der Punkt, an dem man sich mit der strafrechtlichen Begrifflichkeit beschäftigen muss. Das moderne, grundrechtlich geprägte Recht befasst sich mit Handlungen sowie mit Schäden und Verletzungen, die wirklich eingetreten sind. Geschichtlich gesehen war und ist das nicht selbstverständlich. Die Alten erinnern sich daran, dass die gotteslästerlichen, üblen Gedanken einen, wenn auch nicht den wesentlichen Grund für die kirchlichen Strafen und das kirchliche Recht gebildet haben. Die lästerlichen Gedanken hatten und haben ihren Platz in der alltäglichen Beichte. Die Gläubigen denken an den Teufel, lassen sich von teuflischen Gedanken beherrschen und beichten das.
Tathandlung statt lästerlicher Gedanken
Nun ist am Ende des Mittelalters neben und dann immer mehr vor das kirchliche (oder kanonische) ein weltliches Recht getreten, dessen Inspiration und Textgrundlage man im römischen Recht und in den wieder aufgefundenen Texten des Corpus iuris des Kaisers Justinian fand. Das römische Recht war schnörkellos und wenig gedankenorientiert. Es achtete auf Handlungen, auf das also, was einer tat und was man sehen und spüren konnte, ohne ihn zu fragen. So hat auch das moderne Recht begonnen. Man formulierte einen Tatbestand, zum Beispiel so: Wer eine fremde Sache wegnimmt und sie für sich behält, dem wird die Hand abgehackt. Ein Tatbestand ist eine geordnete Folge von Handlungen: Zu ihr gehört die Tathandlung selbst, die man möglichst genau, aber nicht zu detailliert zu beschreiben hat. Auch die angedrohte Rechtsfolge gehört in die Handlungsfolge des Tatbestands. Doch die Beziehung zwischen Tathandlung und Rechtsfolge war nie so eng wie bei der Wegnahme: Viele Sachen wurden weggenommen, und nichts geschah. Die Wegelagerei und der Straßenraub waren ein gängiges Merkmal des Alten Reichs, gegen das sich der von den Kaisern zu Beginn der Neuzeit ausgerufene Landfrieden richtete.
Vorrang von Tathandlung und Tatplan im Strafgesetzbuch
Im 19. Jahrhundert wurden dann zum ersten Mal für große Gebiete und Reiche schriftliche Gesetze formuliert, die Tatbestände enthielten. So nennt man den Ausgangspunkt bis heute. Es soll um Taten gehen. Bemerkenswerterweise ging Frankreich voran. Das Vorbild des Code Napoléon, der ein Code Civil war, wirkte auf Preußen, dann auf Österreich, nach und nach auch in alle kontinentaleuropäischen Staaten. 1851 wurde ein preußisches Strafgesetzbuch, 1871 dann ein Reichsstrafgesetzbuch erlassen. In ihnen herrschte das Schema von Tatbestand und Rechtsfolge, wenngleich es Ausnahmen gab. Außerdem herrschte der Vorrang der Tathandlung vor Gedanken. Gedanken bei einer Tat spielten insofern eine Rolle, als sie Unrechtsgehalt und Strafe begrenzten. Eine fahrlässige (gedankenlose) Tat wurde weniger hart bestraft als eine vorsätzlich (mit Vorbedacht) ausgeführte. Die bekannteste Ausnahme ist die Strafbarkeit des Versuchs, aber dabei handelt es sich immerhin nur um eine halbe Ausnahme. Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt – das ist § 22 StGB. Es kommt also auf die Vorstellung an, gegen die sich die Strafbarkeit richtet. Es muss einen „Tatplan“ geben, und man muss auch zur Ausführung „ansetzen“. Das zu sehen und zu unterscheiden ist nicht einfach. Es ist Inhalt eines Jurastudiums. Bestraft wird eben nur, wer zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Das zu lernen, ersparen wir uns hier und halten fest: Auch Gedanken sind nur dann verbrecherisch, wenn derjenige, der sie hat, das Messer hervorholt – und zum geplanten Mord ansetzt.
III. Der Fall eines Wahns:
Gründung einer kriminellen Vereinigung als „Unternehmensdelikt“
Vor 50 Jahren ist nun etwas hinzugekommen, und das liest sich so: Bestraft wird, wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211) oder Totschlag (§ 212) zu begehen. Immerhin: Man muss schon eine „Vereinigung“ gründen, also irgendwie auch etwas tun. Wie immer gibt es allerdings eine verwässerte Fortsetzung. Man muss nicht unbedingt eine Vereinigung gründen, es soll auch ausreichen, dass sich jemand an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt. „Mitglied“ wird man nicht, indem man ein Parteibuch erwirbt oder einen Aufnahmeantrag stellt, es genügt, dass man sich „am Vereinsleben“ mehr als einmal beteiligt. Beim zweiten Mal wird es gefährlich. Das juristische Schema von Tatbestand und Rechtsfolge wird damit aufgelöst. Denn die Tat, von der man nicht einmal genau sagen kann, worin sie besteht, muss auch keinen Erfolg haben. Juristen sprechen von einem „Unternehmensdelikt“, das im Falle krimineller Vereinigung allerdings tatbestandlich nicht deutlich wird. Unterschieden wird dann zwischen echten und unechten Unternehmensdelikten. Was das heißt, sieht man nur am Fall.
Die praktische Ausgangslage für Leute, die zweimal irgendwohin gehen, ist dramatisch. Das ist der Punkt, an dem man auf die strafrechtliche Begrifflichkeit und ihre Bedeutung für Unternehmensdelikte zurückkommen muss. Der nach wie vor geltende Tatbestand in §§ 129 und
129 a ist so formuliert, dass er mit den Verben des (eine Vereinigung) Gründens und (dieselbe) Unterstützens oder Sich-Beteiligens so aussieht, als ob es um Handlungen ginge. Das scheint aber nur so. Denn die Gründung interpretiert derjenige, der von außen auf Handlungen sieht, in diese hinein. Man kann sie nicht sehen. Das Unterstützen oder Beteiligen ist eigentlich – wie Strafrechtler sagen – nichts anderes als eine Beihilfe, die im modernen Strafrecht des 19. Jahrhunderts normalerweise nicht als Tathandlung eingestuft worden ist. Wenn das seit den 1970er Jahren in Deutschland doch geschieht, dann ist das eine Folge des RAF-Terrorismus. Die Alten erinnern sich: Seit 1972 überzogen in Gruppen organisierte Täter allein oder in mehreren verdeckten Formationen Einrichtungen und Personen, raubten und mordeten. Oft war auch nach intensiven Ermittlungen nicht herauszufinden, wer wen umgebracht hat. Deshalb ersann man einen Tatbestand, der Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren zu verhängen erlaubte und wenig oder fast gar keinen Ermittlungsaufwand verursachte. Die Beteiligung an jenen Vereinigungen, die anfangs „Baader-Meinhof-Gruppe“, dann „-Bande“ oder auch nur mit dem Kürzel RAF benannt worden sind, war leicht zu führen. Auf die Binnenverhältnisse musste im Zweifel verzichtet werden, aber alle Beobachter hatten das Gefühl: Hier ging es um mörderische Gefahren.
Die jetzt in Frankfurt, München, Stuttgart laufenden Strafverfahren haben einen anderen Hintergrund und lösen andere Gefühle aus. Sie verbreiten nämlich das Gefühl, dass aus politischen Gründen abseitige Gedanken zu Gefahren hochstilisiert werden und man gerne die Abweichler bestrafen möchte. Das geschieht bereits durch die Mittel im Verfahren selbst, den Vollzug der Untersuchungshaft, die unabsehbare Länge des Verfahrens und den privaten Ruin, wie ihn so lange Verfahrens- und Haftzeiten auslösen. Schließlich beobachtet man es in den Hauptverhandlungen selbst.
Man sieht das an beliebigen Einzelheiten, soweit überhaupt in den langen Sitzungstagen zu den Gefühlen und Wahnvorstellungen der Angeklagten verhandelt wird. Gerne werden – öffentlich oder im Selbstleseverfahren – Nachrichten eingeführt, aus denen man beispielsweise erfährt, Melanie denke, dass in der Woche, in der Vollmond sei, „die Regierung bereits abgeräumt ist“. Dann habe Thomas mitgeteilt, dass Peter nicht dabei sei, und der Haussegen habe ordentlich schiefgegangen, denn es sei unprofessionell, sich so zu verhalten. Aber sie seien „Zaungäste und können es nicht ändern“. Alle seien am Boden, weil heute der Bundestag nicht gestürmt wird (alles entnommen und zu verfolgen im Telegram-Kanal „Prozessbeobachtungen“, auf dem sitzungstäglich in gut lesbarer Form die wesentlichen Inhalte verzeichnet sind). An einem anderen Prozessort, in Frankfurt a.M., erklärt die Angeklagte Malsack-Winkemann zum Vorwurf, man habe den Bundestag stürmen und Abgeordnete festnehmen wollen, es ginge wohl „nicht in die Köpfe hinein“, dass dies alles doch die Allianz habe machen sollen, nicht die Angeklagten. Man habe vorhergesehen, dass eine Allianz „den Systemwechsel“ auslösen sollte. Sie habe auch keineswegs mit Rüdiger von Pescatore vom sog. militärischen Arm etwas geplant oder auch nur planen wollen. Man habe sich überhaupt nicht miteinander verstanden. Die Angeklagte war selbst lange Richterin und vor 2021 Bundestagsabgeordnete der AfD; sie soll dem sog. inneren Rat der kriminellen Vereinigung angehört haben. Aber der Rat wartete nur auf die Signale von oben, und die blieben aus.
Wie viele Einzelheiten man in diesem Zusammenhang auch immer ansieht: Alle Beteiligten befinden sich in Wahnwelten. Auch die Richter, die diese Welten für die Wahrheit halten, über die sie ermitteln sollen, tauchen in den Wahn ein. Ein Detail halten sie für wirklich richtig, das andere aber nicht. Ankläger wie Gericht gehen nach dem Gang der Verhandlungen einfach davon aus, dass man eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB unterstützt, wenn man denkt, dass in der Vollmond-Woche „die Regierung bereits abgeräumt ist“. Denn im Tatbestand ist eben schon das „Unternehmen“ zur Handlung gemacht worden. In der allgemeinen juristischen Literatur findet man vorläufig keine verlässlichen Angaben dazu, inwiefern auch bei einem Unternehmen zwischen Ausführung und Gedanken an Ausführung zu unterscheiden wäre. Über die Beweiswürdigung in Wahnangelegenheiten wird nicht verhandelt. Sie ist juristisch unbekannt.
Das war schon einmal anders. Wer sich in die Geschichte von Recht und Wahn vertieft, erfährt, dass die Französische Revolution von 1789 ziemlich verlässlich vorhergesagt wurde, obwohl die Zeitgenossen sich doch überrascht zeigten. Die Astrologen am Hof Ludwig XV. erklärten dem König im Jahr 1757, dass die Herrschaft seines Nachfolgers von „nicht aufzuhaltenden Katastrophen“ unterbrochen würde. 1771 wurde man etwas genauer: „Donnerschläge“ würden den Kopf Ludwig des XVI. abbrechen, und 1774 hat ein Wahrsager eine Verurteilung und Hinrichtung des Königs vorhergesagt. Der französische Historiker Georges Minois stellt diese Nachrichten zusammen und berichtet auch vom späteren Fortschritt in der polizeilichen Arbeit. Die Zukunftsdeutungen konnten nicht unterbunden werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Restauration nach Napoleon, breitete sich die „Kartomanie“ aus. Kartenlegerinnen und Gaukler sagten die Zukunft der Regierung voraus, und viele waren bereit, dafür gutes Geld zu zahlen. Dennoch – so notiert Minois – habe es die Polizei aufgegeben, einzuschreiten, „da sie die Vorhersagen für harmlose Ereignisse hält“. Als man für das Jahr 1830 Kämpfe vorhersagte, die zum Sieg der Revolution führen sollten, erklärte ein Geheimagent, diese Sätze würden sich „durch Torheit“ einer Verfolgung entziehen und könnten sowieso nicht für Frankreich gelten (Georges Minois, Geschichte der Zukunft, dt. 2002, 594). Das war richtig und falsch zugleich. König Karl X. wurde in der Julirevolution von 1830 gestürzt. Durch Verfolgung der Wahrsager war das aber nicht zu verhindern. Diese praktische Urteilskraft der vorvergangenen Zwanzigerjahre tut jetzt wieder not.