von Johanna Eisele
Lesedauer 4 Minuten
Im Jahr 2022 erschien von Andrea Wulf das Buch „Fabelhafte Rebellen – die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ auf deutsch im Bertelsmann Verlag. 2022 erschien ebenfalls die Originalausgabe auf Englisch unter dem Titel „Magnificent Rebels: The first Romantics and the Invention of the Self“ bei John Murray, London. Andrea Wulf ist 1967 als Tochter deutscher Entwicklungshelfer in Indien geboren, und führte als junge Frau, so darf man dem Prolog entnehmen, das, was man früher ein unstetes Leben nannte. In der englischen Sprache fand sie schließlich eine Heimat. Sie gebar mit 22 Jahren eine Tochter, die sie allein erzog. Mit 28 zog sie spontan mit der Sechsjährigen nach England. „Und ich bin in der Zeit mit ihr erwachsen geworden. Dieses kleine Mädchen gab mir Halt, und verwandelte meinen Wunsch nach Freiheit in etwas Größeres: das Bemühen, ein guter Mensch zu sein.“ (Prolog, S. 19). Ihre „klugen, liberalen, liebevollen und akademischen Eltern“ brachten Andrea Wulf bei, ihren Träumen zu folgen. Und wenn etwas schief gegangen wäre, hätte sie jederzeit an deren Tür klopfen können.
Laut Danksagung wurde ein Großteil des Buches in der Pandemie geschrieben. Die Recherche war weitgehend abgeschlossen „bevor alles zum Stillstand kam“. (Als belesene Autorin könnte man sich fragen: Warum kam alles zum Stillstand? Wer verursachte das?) Es war einsam. Andrea Wulf konnte keine Bibliotheken mehr besuchen, keine Cafés und Bars, sondern tauschte sich digital aus. Die sogenannte Pandemie machte Eindruck auf die Autorin. Ich frage mich dennoch, warum sie im Prolog eine Passage aufnahm, die Maßnahmenkritiker offen diskreditierte.
Ich schrieb Andrea Wulf deshalb am 31.12.2024 an ihre Emailadresse, die sie auf ihrer Homepage bekannt gibt:
Sehr geehrte Frau Wulf,
schon im vergangenen Jahr, also zu Weihnachten 2023 schenkte ich mir und meiner Familie Ihr Buch von den „Fabelhaften Rebellen“. Ich begann mit dem Prolog, mochte dann aber das Buch nicht weiterlesen, weil ich an dem kurzen Absatz auf Seite 20 hängenblieb und mich als Leserin zurückgewiesen sah. Warum?
In Ihren kurzen Absatz über die Pandemie haben Sie Ihre Einstellung und Haltung zu Menschen wie mir in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht. Wir „weigerten“ uns, schreiben Sie, wir „beharrten“, unsere „Freiheiten“ waren uns wichtiger – ich ergänze: wichtiger als das Wohl der Allgemeinheit. Ich interpretiere: Das sind Egoisten!
Diese Zuschreibung hat mich verärgert.
Nun, nach einem Jahr nehme ich Ihr Buch noch einmal zur Hand und finde das Buch und den Fleiß darin großartig. Ich lerne sehr viel über den Kreis der Romantiker in Jena und seine Protagonisten, das macht mir Freude. Um so mehr verwundert mich der genannte Paragraph im Prolog. Würden Sie Ihre Einschätzung im Lichte der Informationen, die inzwischen vorliegen, überdenken? Ich habe mir die Freiheit genommen, den Absatz textlich umzuwandeln, vielleicht wird so nachvollziehbar, welche Gefühle in mir beim Lesen entstanden. Ich habe den Text nicht neutralisiert, sondern schreibe jetzt von der anderen Seite. Vielleicht können wir einen Text entwickeln, der gleichermaßen beide Seiten ehrt?
Hier zunächst Ihr Text:
„In der weltweiten Pandemie zum Beispiel haben Millionen von uns zum Wohle der Allgemeinheit freiwillig auf einige ihrer Grundrechte und Freiheiten verzichtet. Monate lang sahen wir unsere Freunde und Familie nicht und befolgten drakonische Regeln, weil wir das moralisch richtig fanden. Andere taten das nicht. Sie weigerten sich, diese Beschränkungen zu befolgen, und beharrten darauf, dass ihre individuellen Freiheiten wichtiger seien.“
Und hier meine Version:
„[…] zum Beispiel in der als „Pandemie“ definierten Periode: Da haben Millionen von uns verängstigt und vermeintlich zum Wohle der Allgemeinheit jede noch so unsinnige, neue gesetzliche Regelung befolgt und im blinden Vertrauen auf den Staat auf Grundrechte und Freiheiten verzichtet. Monate lang ließen wir alte Menschen unbegleitet sterben, befürworteten, dass Kinder und junge Menschen von ihren Bildungseinrichtungen ausgesperrt und Ungeimpfte öffentlich diskriminiert wurden, weil das vorgeschrieben war und wir es moralisch richtig fanden. Andere taten das nicht. Sie wagten zu denken, informierten sich abseits offizieller Quellen, umgingen Zensur und kämpften über drei Jahre dafür, dass individuelle Freiheiten nicht von einem übergriffigen Staat unverhältnismäßig geschleift würden.“
Sind Sie an einem weiteren Austausch interessiert? Das würde mich freuen. Meine kleine „Pandemieerzählung“ können Sie im Internet finden. Dort erfahren Sie auch etwas von mir.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für ein frohes, gesundes und erfolgreiches neues Jahr!
Johanna Eisele
Im August 2025 hakte ich noch einmal nach. Andrea Wulf hat bis heute nicht geantwortet.
Küchenpsychologisch finde ich die Antwort auf meine Frage in den oben, aus ihrem Prolog zitierten Ausführungen. Ich will gut sein. Und gut bin ich, wenn ich folgsam bin. Und nicht auf meiner Freiheit bestehe, sondern mich unterordne. Das habe ich in meinen unsteten Jahren versäumt und meine Tochter zahlte den Preis. Das muss ich wiedergutmachen.
Das erklärt aber noch nicht, warum sie eine entsprechende Passage in den Prolog aufnahm. Wollte sie damit sicherstellen, dass sie mit einem Buch über Rebellen nicht in den Ruch geriet, Querdenker – also die Rebellen unserer Zeit – zu hofieren? Ich interpretiere den Absatz so: Als bekannte und mit vielen Preisen ausgezeichnete Autorin fühle ich mich als Teil der Elite. Meine Fallhöhe ist jetzt, im Jahre 2022, mitten in der Pandemie, hoch. Das sehe ich um mich herum. Da verdeutliche ich besser vorab, dass ich auf der richtigen Seite stehe. Damit verrät sie – vermutlich ohne es zu merken – das Sujet und die Protagonisten ihres Buches. Rebellion, die Mut fordert (und nicht nur einfach Spontanität) und die noch dazu einen Preis hat, ist nichts für Andrea Wulf.
Sehr gut analysiert. Meine Erfahrungen auch im engsten Verwandschaftskreis sagen mir, dass die Mehrheit der Propagandaopfer restlos verloren ist und höchstens aufgrund drastischer persönlicher Erfahrungen noch mal ins Grübeln kommen würde.