Gastbeitrag von Nora Mittelstädt* (*Name von der Redaktion geändert)
Lesedauer 7 MinutenSeit zweieinhalb Wochen versucht Charlotte zu sterben. Sie hat sich für diesen Weg entschieden, ganz bewusst. Seit zweieinhalb Wochen fastet Charlotte. Um zu sterben und mit dem Tod zu gesunden.
„Ich glaube, der Frieden in mir beginnt mit dem Tod.“
Charlotte will nicht ihr Leben, aber ihr Leiden beenden. Ihr Leiden, das beinahe so alt ist, wie sie selbst. 73 Jahre. Nur wenige Monate war Charlotte alt, als erst ihr Vater, dann ihre Mutter starben. Charlotte kam in ein Kinderheim am Rande ihrer Heimatstadt. Später in ein anderes, zweihundert Kilometer entfernt auf dem Land. Ein Jahr lang lebte sie bei einer Pflegefamilie, dann wieder in verschiedenen Heimen.
Am 30. April 2021 meinte unbekümmert Deutschlands alerter Fernsehphilosoph Richard David Precht in der Sendung “Volle Kanne” im ZDF:„Aus meiner eigenen Erfahrung, ich war ja auch mal Kind, würde ich sagen, Kinder stecken solche Dinge (Anm. d. Red.: wie eine Pandemie) leichter weg. Das glaube ich auf jeden Fall.“.
Wie kann der Mann so etwas behaupten?
Ich muss an Charlotte denken, die nicht mehr kann, die nicht mehr will, die mit dem Tod hofft, endlich ihrer traumatischen Kindheit entfliehen zu können. Einer Kindheit, die ihr gesamtes Leben überschattet und die sie mit Corona wieder eingeholt hat.
„Nichts kann man verdrängen, sogar die Kindheit kann man nicht verdrängen, weil es immer noch eine offene Wunde ist bei allen, die darunter gelitten haben.“
Fünfzig Jahre lang, seit ihrer Volljährigkeit hatte sich Charlotte in ihrem Leben eingerichtet. Irgendwie. Es gab Freuden, es gab Freunde und das allerwichtigste – sie war frei. Frei und selbstbestimmt.
„Freiheit kann man riechen, schmecken und fühlen. Die Freiheit ist das schönste Geschenk für mich. Freiheit kann man lieben, wie man ein Kind liebt, ein Tier oder einen Menschen, einen Freund, so kann man die Freiheit lieben. So liebe ich sie.“
Im Frühjahr 2020 wurde Charlottes Freiheit massiv eingeschränkt.
Charlotte ist schwer krank. Seit Jahren leidet sie an COPD, einer Lungenerkrankung im Endstadium. Ihr Leben hängt am Schlauch einer Sauerstoffflasche, die sie in einem Trolley hinter sich her zieht.
Charlotte gehört, wie es neudeutsch heißt, zur vulnerablen Gruppe, zur Hochrisikogruppe. Sie muss beschützt werden. Aber will sie das?
Zu keinem Zeitpunkt hatte Charlotte Angst davor, an SARS Cov2 zu erkranken. „Wenn es mich trifft“, sagte sie, als (die Panik um) Corona Deutschland erreichte, „dann trifft es mich. Wichtig war ihr einzig und allein, „die letzten Monate frei und mit Menschen, die ich liebe zu verbringen“.
Diesen Wunsch torpedierten die Maßnahmen, die im Namen von Corona ergriffen wurden.
Charlotte ist eines von hunderttausenden Kindern, die in den 1950er und 1960er Jahren traumatische Erfahrungen in deutschen Kinderheimen gemacht haben. Die meisten dieser Kinder, sagt der mit ihr befreundete Sozialpädagoge, haben einen „Heimschaden, haben große Vertrauensprobleme und können Enge schwer ertragen“.
Heimschaden! Werden unsere Kinder, denen man den Terminus „Generation Maske“ übergestülpt hat einen Coronaschaden davon tragen?
Gestern hat mir meine zwölfjährige Patentochter, die gerade ein paar Tage bei uns verbringt, erzählt, wie schlecht es einigen ihrer Freunde geht. Mein eigenes Kind, von dem wir denken, dass wir es bisher recht gut durch diese Zeit gebracht haben, sagt: „Irgendwie war ich vor Corona glücklicher“.
Ist es Zufall, dass sich aus meinem Bekanntenkreis binnen eines Jahres drei Menschen das Leben genommen haben? Bisher kannte ich in 47 Jahren niemanden in meinem näheren Umfeld, der seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat.
„Corona ist nicht die Ursache, Corona war nur der Auslöser“, erklärt mir meine ehemalige Nachbarin Yvonne, deren Sohn sich im März erhängt hat. Schon seit Jugendtagen war ihr Floris depressiv.
Ein Jahr zuvor war auch Charlotte schon einmal so weit. Sie wollte sterben. Allerdings ohne selbst Hand anzulegen. Sie hoffte auf Hilfe von außen. Dass diese ausblieb, erschütterte sie. Sie konnte nicht verstehen, dass es unter diesen Umständen niemanden gab, der aktive Sterbehilfe leisten wollte.
Charlottes Leben bestand zu diesem Zeitpunkt nur noch aus Panikattacken und Albträumen. Ihr Lebensmut, der sie bis dahin durch alle Unbilden des Lebens getragen hatte, war verschwunden. Das Trauma ihrer Kindheit hatte sie eingeholt.
„Heute Nacht habe ich wieder Albträume gehabt. Ich habe geträumt, dass ich eingesperrt bin. Ich bin aufgewacht und habe „Hilfe, Hilfe“ gerufen. Dann habe ich mich wieder schlafen gelegt, weil ich gemerkt habe, dass ich doch frei bin. Ach, wie habe ich Angst davor, nicht mehr frei zu sein.“
Bis zum Sommer 2019 lebte Charlotte allein und selbstbestimmt in einer kleinen freundlichen Wohnung mit Balkon. Diese befand sich im vierten Stock eines Miethauses ohne Fahrstuhl. Mit der Sommerhitze kam Charlotte an den Punkt, an dem sie die vier Treppen nicht mehr bewältigen konnte.
„Ein Heim“, sagt ihr Freund, der Sozialpädagoge, „war für Charlotte aufgrund ihrer traumatischen Kindheitserfahrungen nie eine Option.“
Mit einem Mal jedoch gab es keine andere Möglichkeit mehr. Charlotte zog um in ein kleines schönes Heim mit Garten. Vier, fünf Monate lang fühlte sie sich dort wohl. Dann kam Corona. Und Deutschland versank im ersten „Lockdown“. Charlottes Heim wurde dicht gemacht, die Bewohner durften nicht raus und Besucher nicht rein. Charlottes Freunde versuchten sie über den Gartenzaun mit Obst (die Ernährungslage im Heim war schlecht und Obst eines von Charlottes wenigen Freuden) und Gesprächen aufzumuntern. Nach wenigen Wochen war es auch damit vorbei. Das Heimpersonal errichtete eine Barriere aus Gartenmöbeln und Absperrbändern. Über diese hinweg war eine Kommunikation – Charlotte ist schwerhörig – nicht mehr möglich. Per Messenger bat sie ihre Freunde darum, doch einen Anwalt zu finden, der aktive Sterbehilfe für sie erstreiten könnte. „Ihr ging es wirklich nur noch ums Sterben“, erinnert sich Charlottes Freund.
Ihre Freunde fanden eine kleine Alters-WG, in die Charlotte bereit war einzuziehen – unter einer Bedingung: Die Betreiber mussten Charlotte versprechen, sie auf keinen Fall einzusperren.
Mit dieser Zusicherung schöpfte Charlotte neuen Lebensmut, Sterbehilfe war fortan kein Thema mehr. Ihr Umzug fiel in das Ende des ersten „Lockdowns“. Charlotte konnte im neuen Zuhause ein- und ausgehen wie sie wollte. Sie war frei.
„Je älter ich werde, umso mehr sehne ich mich nach Freiheit. Obwohl ich die Freiheit habe, (…) ist sie in meinem Leben noch nicht vollständig ausgestattet. Jede Minute, jede Stunde nutze ich die Freiheit.“
Trotz der Hitze des Sommers, ihrer permanenten Luftnot und der Sauerstoffflasche als schweres Dauergepäck, nahm sie regelmäßig weite Wege in Kauf, um sich in einer Beratungsstelle, die ihr zur Heimat geworden war, mit lieben Menschen zu treffen. Auf den Fahrten wurde sie, obwohl ihre Luftschläuche deutlich zu sehen waren, mehrfach beleidigt, weil sie keine Maske trug.
Im neuen Zuhause fühlte Charlotte sich nur mäßig wohl. Die Ernährungslage war schlecht und Charlottes Möglichkeiten selbst für ihr Bedürfnis nach Obst und Gemüse zu sorgen gering. Es fehlte schlicht an Geld.
Im Februar 2021 wurden mehrere Bewohner sowie ein Mitarbeiter in Charlottes Alten-WG positiv auf SARS Cov2 getestet. Sofort wurden sämtliche Bewohner in ihren Zimmern eingesperrt. Charlotte wurde zwei Mal getestet. Beide Male negativ. Dennoch wurde eine vierzehntägige Quarantäne über sie verhängt. Unverständlicher Weise durften sich die positiv getesteten WG-Mitglieder bereits nach zehn Tagen wieder frei bewegen.
Verzweifelt schrieb Charlotte an ihren Freund: „Ich bin doch negativ. Das ist Freiheitsberaubung. Du musst mir helfen!“ Am zweiten Tag der Quarantäne begann Charlotte einen Hungerstreik. Bei ihren Freunden schrillten die Alarmglocken. Charlotte wog nur 42 Kilogramm.
Charlottes Freund fragte einen Anwalt um Rat. Dieser sagte, man könne nichts machen, momentan reagiere die gesamte Welt irrational. Kollegen einer Beratungsstelle, die er um Unterstützung bat, zuckten die Achseln und sagten: „Was willst du machen?“ „Das sind Menschenrechtsverletzungen“, argumentierte Charlottes Freund. Doch das wollte niemand hören.
Es blieb nichts als Charlotte zu erklären, dass (wieder einmal) Aushalten, die beste Option sei. Um dieses Aushalten zu erleichtern, organisierten ihre Freunde Online-Ablenkung. „Zusammen“, erinnert er sich, „haben wir das halbe Internet rauf- und runtergespielt, außerdem gechattet und darüber hinaus fast täglich telefoniert“.
Mit Ach- und Krach überstand Charlotte die Quarantäne. Am Ende wog die schmächtige kleine Frau nur noch 38 Kilogramm. Um nie wieder in solch eine Situation des Freiheitsentzugs zu kommen, entschied Charlotte, sich impfen zu lassen.
Nach der Impfung schrieb sie an ihren Freund:
„Ich habe es so satt, nun habe ich meine Rechte wieder. Das Ausgestoßen-Sein habe ich seelisch nicht mehr verkraftet. Nun kann ich mich ausweisen, wenn ich irgendwo hin möchte und in unserem Haus bin ich mir sicher, dass keiner sagt, ich sei schuld, wenn ein Mitbewohner erkrankt.“
„Die Impfung betrachte ich als Erpressung. Um nicht mehr eingeschlossen zu sein. Man hat mir gesagt, wenn ich mich impfen lasse, habe ich mehr Rechte. Deshalb habe ich es getan, aber nur ungern. Ich habe an mein Trauma gedacht, weil ich daran zugrunde gehe. Nun fühle ich mich als Verräterin vor mir selbst. Ich habe mich wirklich selbst verraten. Das ist ein neuer Bewusstseinsschock. Ich habe mir etwas angetan, was ich mir nie verzeihen werde.“
„Jetzt wollen sie zu Ostern wieder schließen. Was ist mit denen, die das Gift zu sich genommen haben, wegen ihrer Freiheit? Die ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben… Erzähle im ganzen Team von mir und auch anderen, damit viele es wissen. Mir wäre es sogar recht, die ganze Welt erfährt, dass man erpresst wird, dass einem die Pistole auf die Brust gesetzt wird.“
Trotz ihrer schlechten Konstitution und eigener Prognose überstand Charlotte die zweite Impfung. Vorsorglich war sie in ein Krankenhaus eingewiesen worden. Das Personal päppelte die zerbrechliche Frau Stück für Stück wieder auf. Eine Ärztin und eine Psychologin nahmen sich Zeit für ausführliche Gespräche und stellten in Aussicht, dass sie wieder in einer eigenen Wohnung wohnen könne. Trotz anhaltender Nebenwirkungen lebte Charlotte wieder auf.
Zurück in ihrer WG, die ihr Freund inzwischen als „furchtbares Heim“ beschreibt, hatte Charlotte zwar ihre (eingeschränkte, weil abhängige) Freiheit wieder, doch ihre Freude am Leben war dahin. Immer wieder beschrieb sie, „mit meinem Körper stimmt etwas nicht“.
Wochenlang freute sie sich darauf, die Philharmoniker im Fernsehen zu sehen. Als es endlich so weit war und sie den Fernseher anschaltetw, sah sie lauter maskierte Musiker. Sie hat den Fernseher sofort wieder ausgemacht. „Das halte ich nicht aus“, erklärte sie. Überall steht Corona und nichts daneben. Das ängstigte sie.
„Bei meinen Kollegen“, sagt ihr Freund, „steht das bloße Überleben scheinbar über allem“.
Für Charlotte steht die Freiheit über allem. Aufgrund ihres körperlichen Zustands wird diese immer eingeschränkt bleiben.
Im Juni beschloss Charlotte ihr Leiden nun endgültig zu beenden. Erneut bemühte sie sich um eine Sterbebegleitung. Erneut vergeblich. Also entschied sie, sich selbst zu helfen.
Zeit ihres Lebens galt Charlottes höchstes Streben dem nach Selbstbestimmung. Folgerichtig hat sie sich nun entschlossen ihren Weg selbstbestimmt zu Ende zu gehen.
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