Der Homo hygienicus ward geboren, aber lasset uns nicht frohlocken

Ein Gespräch* von Daniel Kaiser mit dem Anthropologen Matthias Burchardt**

Lesedauer 11 Minuten
homo hygienicus Matthias Burchardt
© Archiv M. Burchardt

Neben dem Urgestein der europäischen Philosophie Giorgio Agamben ist Matthias Burchardt aus Köln einer der ganz wenigen Philosophen im heutigen Europa, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eine interessante These entwickelt haben. Burchardt skizziert den sogenannten Homo hygienicus als neue Form menschlicher Existenz. Was würde der Siegeszug dieser neuen Form der menschlichen Existenz für unsere Zukunft bedeuten? Hat sein Vorgänger, der Homo humanus noch eine Chance, den Übergang in eine neue Entwicklungsstufe abzuwenden?

Zunächst muss ich die Begriffe klären. Wo liegt für Sie der Unterschied zwischen dem Homo hygienicus und dem, was man Homo humanus nennt?

Der Homo humanus wurde von der westeuropäischen politischen Tradition der Aufklärung und des Humanismus geprägt. Er definiert sich durch Freiheit, Vernunft, Selbstbestimmung, Demokratie und wirtschaftliches Wohlergehen. Er betrachtet sich als Urheber von Geschichte. Aber er hat auch Werte und Normen, bezieht sich auf Familie, Gemeinschaften, versucht die Wahrheit zu suchen, das Schöne zu realisieren, hat verschiedene Lebenssphären, die er mag. Er ist ein religiöser Mensch, ein kultureller Mensch, er arbeitet, er stellt Dinge her, er spielt. Er lebt aus der Gemeinschaft und trotzdem bleibt er ein Individuum. Im Gegenteil dazu setzt der Homo hygienicus eine einzige Perspektive absolut und gestaltet alle Erscheinungsformen seines Lebens und alle Beziehungen, in denen er lebt, nach dem virologischen Imperativ: Vermeide Kontakt, stecke dich nicht an, kultiviere deine Gesundheit. Das Konzept des Homo hygienicus ist älter, er geht auf den Medizinsoziologen Alphonse Labisch zurück. Der konstruierte ihn vor mehr als 100 Jahren als kulturelle Figur für den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Ich benutze den Begriff, um das soziologische Produkt des letzten Jahres zu beschreiben. Mein Homo hygienicus ist durch erschreckende Bilder und politische Maßnahmen geformt worden. Er ist von Angst bestimmt und setzt eine gewisse Verhaltensdoktrin der Vorsorge, der Hygiene, der Sterilität um. Es ist wie ein Winterschlaf des Menschlichen in uns.

Verstehen Sie den Homo hygienicus in seiner Motivation?

Natürlich kann ich mich in seine Lebensform hineinfühlen. Menschen haben Angst. Das verstehe ich. Ich finde es normal, dass wir vor Bedrohung Angst haben und dass wir uns vorsichtig verhalten. Nur war das Leben auch schon vorher durch Risiken bestimmt. Wir konnten einen Autounfall haben, an Grippe erkranken. Problematisch wird es, wenn das hygienische Denken zur einzigen Lebensperspektive wird, sogar zu einer politischen Ideologie. Die ist dann nämlich eine totalitäre Herrschaftsform. Alles, was riskant ist – in einer Kirche zu singen, Menschen zu umarmen, ein Konzert zu besuchen, in die Schule zu gehen – lohnt sich nicht, weil das jetzt alles Orte der Gefahr sind. Und der christliche Gedanke: „Liebe deinen Nächsten“ wird nun übersetzt mit: Fürchte deinen Nächsten. Das Interessante ist, dass der Homo hygienicus eher aus irrationalen Motiven heraus diese Position einnimmt, indem er verinnerlicht, was er nicht wahrnehmen kann. Das Virus ist kein Gegenstand einer möglichen Erfahrung. Niemand von uns kann das Virus sehen. Bitte nicht missverstehen: Ich behaupte nicht die Inexistenz des Virus, sondern ich behaupte seine Nichtwahrnehmbarkeit. Der Verschwörungstheoretiker sagt: Was ich nicht wahrnehmen kann, das existiert auch nicht. Der Homo hygienicus sagt: Wenn ich das Virus nicht sehe, dann kann ich auch nicht sehen, dass es abwesend ist, also unterstelle ich, dass es überall vorhanden ist. Insofern geht er davon aus, dass das Virus in jeder Person, die ihm gegenübertritt, vorhanden ist.

Hier wäre eine wichtige Unterscheidung hinfällig – zwischen Risiko und Gefahr. Gefahr ist sichtbar. Wenn ich in ein Flugzeug steige, das brennt, dann sehe ich: Ui, hier ist eine Gefahr, ich steige aus. Risiko ist eine statistische Wahrscheinlichkeit von so und so viel Prozent, dass mein Flugzeug abstürzt. Wenn ich aber das Virus nicht sehen kann, verwechsele ich Risiko und Gefahr, und sehe überall nur noch Viren, und verhalte mich zur Sicherheit nach der UItima Ratio: Gott, es gibt diese asymptomatischen Anstecker! Also jeder einzelne Mensch bedroht mein Leben. Und das ist eine Form von Hypochondrie, die sich in eine Massenpsychose verwandelt hat. Eine ganze Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, einzuschätzen, dass es doch eine relativ geringe Ansteckungswahrscheinlichkeit gibt, dass es übertriebene Vorsichtsmaßnahmen gibt, verabschiedet sich einerseits von dem, was ihre Kultur, ihre Herzlichkeit und ihre Wärme ausmacht. Das beginnt beim Händedruck und der Umarmung zur Begrüßung. Andererseits ruinieren wir auf der Basis von diesen Vorstellungen die ganze Wirtschaft.

Ich versuche mir vorzustellen, was sich jetzt manche Leser denken: Das ist Schwarzmalerei, diese Situation ist doch einmalig. Wenn wir alle geimpft sind, kehren die alten Zeiten zurück.

Erstens: Ich würde gerne diskutieren, ob auch wenn wir eine Ausnahmesituation haben, ob wir dann unser ganzes Leben außer Kraft setzen müssen, um den Preis des Überlebens. Ist das nackte Überleben der einzige Wert? Welchen Sinn hat das nackte Überleben im Hygieneregime, wenn andere Aspekte, wie z. B. die Qualität einer guten Gemeinschaft, die demokratischen Prozesse, letztendlich auch der Rechtsstaat, außer Kraft gesetzt werden?
Zweitens: Es wird keine Rückkehr zu alter Normalität geben, weil die Traumatisierungen der Gesellschaft, die Verluste im Bereich der Kultur, vor allem aber auch die ökonomischen Verwerfungen und die gesellschaftlichen Spaltungen münden in eine sehr zerstörten Welt. Ich mache mir große Sorgen, ob das jemals wieder heilen kann. Ich habe das Gefühl, dass insbesondere die westlichen Kulturen in den Trümmern ihrer eigenen Lebensform aufwachen werden, wenn Corona vorbei ist. Wobei der Begriff vom Neuen Normal von den PR-Agenturen der Eliten längst vorgeprägt worden ist. Diesen Begriff haben sich voriges Jahr nicht die Pressesprecher unserer Regierungen ausgedacht, sondern er war vorbereitet. Es gab verschiedene Planspiele zur Veränderung von Gesellschaft, sei es betreffend die Landwirtschaft, sei es betreffend einer Viruspandemie usw. 2015 gab es ein Planspiel, das für das Jahr 2020 eine große Lebensmittelkrise, die Unterbrechung der Lebensmittellieferketten vorhersah. An diesem Spiel nahmen etliche Gruppen, vor allem in den USA, teil: The Center for American Progress, World Wildlife Fund, Cargill usw. Auch hier ging es darum, die Menschen aus bestehenden und traditionellen Lebensformen in eine andere Lebensform mit global koordinierter Politik zu überführen. In dem Sinne: Die einzelnen Akteure sind in einer solchen Krise überfordert, wir brauchen nationenübergreifende Steuerungsinstanzen.

Welche konkreten Veränderungen bringt diese neue Normalität mit sich, wie sollen wir uns diese neue Welt vorstellen?

Ein Beispiel sind für mich die verödenden Innenstädte, der ruinierte Einzelhandel, viele Bereiche aus dem Dienstleistungssektor, Gastronomie, Tourismus, auch der mittelständischen Wirtschaft. Die Digitalkonzerne machen sich durch ihre Monopole so stark, dass kleinere Akteure, so wie jetzt eine kleine Pizzeria, durch digitale Lieferplattformen zwar unterstützt werden, zugleich aber Gewinne für die einzelnen Restaurants zusehends schwinden. Die Online-Ökonomie bemächtigt sich auch der Real-Ökonomie. 

Auf der persönlichen Ebene ist das eben die distanzierte Lebensform. Politisch gesehen ist der Homo hygienicus ein isoliertes Wesen, das fragmentiert existiert und sich mit anderen nicht solidarisiert, um mit ihnen das faktische Leben gemeinsam zu gestalten. Politisch gesprochen: Divide et impera, spalte und herrsche. Es gibt ein ganz schreckliches Beispiel für diese Lebensform des Homo hygienicus. Das Leben von David Vetter, eines Jungen, der Anfang der 1970er Jahre mit einem sehr schwachen Immunsystem auf die Welt gekommen ist und sein Leben lang in einer Kunststoffblase verbracht hat, gewissermaßen unter Laborbedingungen. David hat niemals einen Menschen berührt. Seine Mutter hat ihn zum ersten Mal an dem Tag geküsst, als er im Sterben lag.

Bei David Vetter hatte man vielleicht einen guten Grund, ihn in Isolation zu halten.

Ja, man kann sagen: Danke, Wissenschaft, dass du es ermöglicht hast. In seinem Fall gab es einen Grund, die reale Gefährdung. Jetzt haben wir eine potenzielle Gefährdung, behandeln aber trotzdem jeden Menschen, als wäre er David Vetter. Wir haben natürlich nicht diese physische Distanzierung, sondern eine sozial konstruierte Distanzierung. Damit sind alle Grundelemente unserer abendländischen Kultur massiv in Frage gestellt.

Wodurch werden sie ersetzt?

Wir bewegen uns in Richtung Transhumanismus. Das ist die Vorstellung, dass der Mensch, so wie er in der Natur und Geschichte entstanden ist, eigentlich eine defizitäre Form des Lebens ist, die durch die Mittel der Technik, d. h. Eugenik, Kybernetik, Medikamente, einfach überwunden und optimiert werden muss. Krankheiten, der Tod, das Leid sind hier keine schicksalsbedingten Elemente, die zum Leben dazugehören, man muss sie technisch besiegen. Damit nähert sich der Mensch einer Maschine an und hofft, den Homo humanus überwinden zu können. Das ist die Agenda der Silicon Valley-Akteure. Bill Gates und andere denken, das wäre eine Möglichkeit, Krankheiten aus der Welt zu schaffen.

Was wäre dann die Motivation von Leuten wie Gates? Geld haben sie inzwischen so viel, dass es sie langweilen muss. Meinen sie es schlecht mit uns, oder gut auf ihre eigene Weise?

Ich kann nur spekulieren. Es könnte ein Versuch sein, die Welt besser zu machen, indem man die sozialen Probleme, die ökologischen Probleme, die technischen Probleme löst. Und zugleich ist das doch eine Vergewaltigung der Menschheit, weil wir nicht mitdiskutieren dürfen, worin unser gutes Leben bestehen soll. Es sind immer wieder technische, digitale Lösungen für Menschheitsprobleme. Hier trifft eine schöne Beschreibung der Frankfurter Soziologen Nachtwey und Seidl zu. Sie sprechen von einem Solutionismus. Das ist der Gedanke, dass für jedes Lebensproblem eine technische Lösung existieren soll und dass man damit die Menschheit beglücken muss. Das bedeutet zur Zeit aber auch Disruption und Zerstörung bisheriger Lebensformen. Mein Homo hygienicus ist eine Figur, die am Übergang vom analogen Zeitalter zu einem Digitalzeitalter entsteht. Und die humanen Lebensvollzüge werden durch die Hygieneauflagen nicht mehr durchführbar. Deshalb gehen wir nicht mehr in den Gottesdienst, wir treffen uns nicht mehr mit Freunden, wir kaufen nicht mehr ein in Läden, sondern gehen in die Online-Ökonomie, gucken Netflix-Serien und werden in gewissem Masse unstofflich, kontaktlos und sozial isoliert. Damit entsteht ein neuer Bewohner einer neuen Zeit, der nicht mehr im realen Raum sein Glück sucht, sondern in der Digitalität.

Das Problem ist, wenn man Bill Gates oder das Silicon Valley im Zusammenhang mit Corona kritisch erwähnt, läuft man Gefahr, gleich unter den Verschwörungstheoretikern zu landen.

Ja, das möchte ich vermeiden. Andererseits finde ich es auch wichtig, dass wir die Einflussnahme von reichen und mächtigen Akteuren auf demokratische Prozesse kritisch diskutieren. Natürlich gibt es Lobbyismus, Interessen, die dem Allgemeinwohl und den demokratischen Prinzipien entgegenlaufen. Und das möchte ich diskutieren, ohne dass ich ein Verschwörungstheoretiker bin. Die Motivation von diesen mächtigen, privaten Akteuren kenne ich nicht, ich kann aber ihre Taten sehen. Und diese haben etwas von einer zwanghaften Beglückung der Menschheit. Dafür, dass ich mich vergewaltigt fühle, soll ich mich noch bedanken. Eigentlich, finde ich, haben wir zur Diskussion von Zukunftsperspektiven andere Orte, dazu brauchen wir keine reichen Stiftungen und keine transnationalen Gremien, wie das World Economic Forum in Davos. Dazu haben wir das Parlament, dazu haben wir Öffentlichkeit, Intellektuelle, Universitäten. Das wären normalerweise Orte, an denen wir diskutieren, wie wir leben wollen. Aber sie funktionieren schon lange nicht, wie ursprünglich vorgesehen. Wir haben dummerweise eine sehr homogene Meinung in den wesentlichen Fragen in vielen, vielen Parlamenten. Die Universität ist nicht mehr in der Lage, einen kontroversen wissenschaftlichen Diskurs zu relevanten Themen der Gesellschaft durchzuführen. Und auch die Medien sind nicht mehr in der Lage, eine öffentliche Debatte in der ganzen Bandbreite von Meinungen abzubilden und zu führen. Auch die sind eingeschüchtert oder korrumpiert.

Sie erwähnten die Digitalisierung. Dieses Wort hat hier in Tschechien immer noch einen guten Klang. Man versteht darunter mehrheitlich immer noch die Digitalisierung des Staates, also dass man nicht mit jeder Kleinigkeit zum Amt laufen muss.

Digitalisierung ist ein großer Trend, der durch Corona beschleunigt wurde. Das Jahr 2020 hat Digitalisierung in Bereiche gebracht, die bis dahin als nicht digitalisierbar galten: Bildung oder Gastronomie. Ja, Digitalisierung ist im Alltag mit vielen kleinen Erleichterungen verbunden, die Verwaltung wird schneller usw. Vielleicht verändert sich aber dadurch unser Leben in einer Weise, wie wir sie überhaupt nicht absehen können. Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts, sagt man immer wieder und zwar mit Recht. Alles, was wir tun, wird interessant für die Speicherkapazitäten. Aber durch Big Data werden die entsprechenden Konzerne auch Wissen generieren können über das, was Menschen ausmacht. Dieses Wissen wird nicht nur genutzt, um Geschäfte zu machen, sondern es ermöglicht auch die Steuerung von Menschen, im Hinblick auf ihre Meinung und ihr Verhalten. Heute sieht es so aus, als hätten wir die Wahl zwischen Staatslenkung, oder das, was Shoshana Zuboff Überwachungskapitalismus nennt. Diese Transformation findet gerade statt. Und es entsteht die Frage, was macht das mit uns Menschen, wenn wir vor allem digital kommunizieren, digital konsumieren, digital produzieren. Wie verändert das unser Leben. Möchten wir das überhaupt so? Sollten wir uns nicht fragen, ob wir in der Digitalwelt dann auch glücklich sind?

Wenn Sie Politiker wären, was würden Sie dagegen tun? Unser ehemaliger Ministerpräsident Mirek Topolánek schlug einmal vor, man sollte in die Verfassung ein Recht auf ein Leben off-line hineinschreiben.

Großartig, großartig. Meine Tochter hatte lange kein Mobiltelefon, bis sie 18 Jahre alt war. Dann hat sie gesagt: Ich existiere unter meinen Mitschülern nicht mehr. Ich bewege mich nur noch wie ein Gespenst zwischen ihnen. Alle Kommunikation läuft digital ab, selbst da, wo sich ihre Kommilitonen real treffen. Dazuzugehören in einer Gesellschaft ist an technische Voraussetzungen gebunden. Aber ein Bankkonto führen – alte Leute möchten zum Beispiel kein Online-Banking machen – sich verabreden, Termine wahrnehmen, sogar politische Rechte wahrzunehmen, dass alles darf ja nicht an technische Infrastruktur geknüpft werden.

Zeigt das Beispiel Ihrer Tochter nicht, dass wir uns gegen Digitalisierung am Ende nicht wehren können?

Es zeigt mir, dass wir uns mehr wehren müssen. Ich bin nicht bereit, eine politische Entwicklung wie eine naturgesetzliche Notwendigkeit zu betrachten. Immer gibt es Alternativen.

Aber ist es nicht so, dass die Zwanzig- und Dreißigjährigen auf unsere analoge Welt keine Lust mehr haben?

Ja, aber ich sehe unter ihnen zugleich auch ein Gegenteil: Heimweh nach der Wirklichkeit. Ich habe eine Digitalkamera, meine Kinder haben inzwischen wieder Polaroidkameras, wo ein einziges Bild als Original entsteht, das man dann mit einem Freund teilen kann. Ich glaube, die Sehnsucht nach der Wirklichkeit ist im Menschen so tief angelegt, dass diese Digitalisierung niemals komplett werden kann.

Die Skepsis in meiner Frage nach der jüngeren Generation liegt auch in der Erfahrung des letzten Jahres, dass jüngere Menschen sich im Durchschnitt ängstlicher benehmen, was Corona angeht.

Liegt das vielleicht nicht daran, dass im Leben eine Lebenserfahrung im Realraum als Korrektiv für die Bilder und Nachrichten im Digitalraum existiert? Man hat gelernt, seinem eigenen Urteil im Hinblick auf die Wirklichkeit zu vertrauen, seine Wahrnehmung von möglichen Gefahren so richtig einzuschätzen. In dem Moment, wo ich nur von der virtuellen Realität abhängig bin, bin ich steuerbar durch Propaganda und habe kein Korrektiv für meine Wahrnehmung.

Auch wenn das alles stimmt, was wir uns hier erzählen, ist das vielleicht kontraproduktiv, wenn man über Propaganda, sogar Totalitarismus in Gesellschaften spricht, die immer noch alle wichtigen Stützen des klassischen Liberalismus inklusive der Grundrechte haben? Läuft man dann nicht die Gefahr, dass man bei Leuten, auf deren Verständnis man hofft, wie ein Hysteriker erscheint?

Die Gefahr sehe ich auch. Aber erst einmal würde ich fragen: Wo gibt es die noch, die wirklich liberale Gesellschaft? Für Deutschland würde ich das nicht mehr behaupten, dass wir eine liberale Gesellschaft sind. Schon lange vor Corona nicht. Was das politische System angeht, haben wir eine Meinungsfreiheit, die existiert formal fort. Was aber das gesellschaftliche Klima angeht, haben wir eine starke Sanktion von Meinungsabweichung. Man konnte früher auf einer Party sagen: Ich esse Fleisch, ich rauche, ich fahre Diesel, ich wähle eine bestimmte Partei. Heute ist es halt schwierig, wenn wir über Migration, Klima, neuerdings auch Corona sprechen. Es kann bedeuten: Wenn ich meine Meinung frei äußere, gehen Beziehungen kaputt. Dann habe ich nicht mehr das Gefühl, in einer offenen Gesellschaft zu leben. Es gibt eine starke Kontrolle durch gesellschaftlichen Druck und Konformität. Leute haben Angst vor Ausschluss.

Fühlen Sie sich mit Ihren Ansichten zu Corona einsam in der intellektuellen Szene, in der akademischen Welt?

Ja und nein. Zum einen erfahre ich Anerkennung von Menschen, die sagen: Es ist gut, dass das noch jemand sagt, ich sehe das genauso. Auf der anderen Seite muss ich schon sagen, dass ich mit meinen Thesen vielerorts entweder ignoriert oder auch öffentlich diffamiert werde.

Ist es vorstellbar, dass die Corona-Strategie, also die Aussetzung von Grundrechten, auch im Kampf gegen Emissionen benutzt werden kann?

Solche Phantasien gibt es. Das ist der Klimapopulismus. Man kann fragen, was haben die Corona-Fragen mit Gesundheit zu tun. Geht es hier nicht vielmehr um Herrschaft? Genauso kann man fragen: Hat der Klima-Diskurs überhaupt etwas mit dem Umweltschutz zu tun? Oder: Hat der Gender-Diskurs etwas mit Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu tun? Es findet hier eine ideologische Monopolisierung von wichtigen Fragen statt. Ich finde Umweltschutz wichtig, Gesundheit oder Vermeidung von Diskriminierung sowieso. Aber missbrauchen diese Ideologien vielleicht die wichtigen Themen, um Herrschaft zu etablieren? Ich fürchte, dass wir mit dem Rechtsstaat nicht zurückkehren werden zum Status Quo vor Corona. Und ich weiß immer noch nicht, ob diese Mittel erforderlich waren, um Corona zu bekämpfen. Besonders erfolgreich sind sie ja nicht. Vielleicht war Corona auch nur ein schöner Anlass, bestimmte Herrschaftsformen zu etablieren, von denen man vorher schon geträumt hat.

Sehen Sie irgendwo Hoffnung?

Ja. Ich glaube, dass die Conditio Humana, das, was die Menschen ausmacht, stärker ist als jede politische, ideologische Intervention. Das Bedürfnis nach einer humanen, aufgeklärten, liberalen Lebensform wird gerade in der Entbehrung besonders sichtbar. Wir verstehen oft erst, wenn wir etwas verlieren, wie kostbar es ist. So lange wir nicht gemerkt haben, dass wir die Grundrechte hatten, waren sie uns egal. Jetzt, wo sie eingeschränkt sind, werden wir wieder dafür kämpfen. Insofern bin ich voller Hoffnung. Aber es wird dauern.

*Das Gespräch erschien als Originalbeitrag im April 2021 im tschechischen Wochenmagazin Echo (Ausgabe 16/2021) sowie auf Echo24.cz.

** Matthias Burchardt, geb. 1966 in Köln, Studium der Philosophie, Germanistik und Pädagogik. Dozent an der Universität Köln mit dem Hauptforschungsgebiet Anthropologie. Er befasst sich kritisch mit den Phänomenen der aktuellen Gesellschaftstransformation.

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