von Martina Binnig
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Nun ist sie vorerst vom Tisch, die sogenannte „Chatkontrolle“ der EU. Unter dem Vorwand des Schutzes von Kindern vor sexuellem Missbrauch im Internet hatte die EU-Kommission im Mai 2022 den Entwurf einer umfangreichen Verordnung vorgelegt, durch die Anbieter von Messengerdiensten dazu verpflichtet gewesen wären, sämtliche Kommunikation und Dateien ihrer Kunden hinsichtlich möglicher Verstöße gegen die Verordnung zu durchleuchten – woraufhin der verschlüsselte Messenger Signal bereits angekündigt hatte, im Zweifel Europa zu verlassen. Am 8. Oktober teilte jedoch die deutsche Justizministerin Stefanie Hubig mit, dass Deutschland bei der EU-Chatkontrolle nicht mitziehen wird, sodass es keine Mehrheit für die Verordnung gab und die ursprünglich im EU-Rat für den 14. Oktober geplante Abstimmung darüber nicht stattfand.
Hubig stellte klar, dass anlasslose Chatkontrolle in einem Rechtsstaat tabu sein muss. Private Kommunikation dürfe nie unter Generalverdacht stehen, und der Staat dürfe Messengerdienste auch nicht dazu zwingen, Nachrichten vor ihrer Versendung massenhaft auf verdächtige Inhalte zu scannen. Der ursprüngliche Entwurf sah vor, dass Messenger- und Hostingdienste nicht nur Material, das sexuellen Kindesmissbrauch zeigt, aufspüren sollten, sondern Nachrichten auch auf Annäherungsversuche von Erwachsenen gegenüber Kindern durchsuchen sollten. Es geht also einerseits um CSAM (Child Sexual Abuse Material) und andererseits um das sogenannte Grooming. Neben Textnachrichten wären auch Audiomessages betroffen gewesen.
Achtung der Privatsphäre hinfällig
Sogar die vertrauliche Kommunikation zwischen Ärzten und ihren Patienten oder zwischen Anwälten und ihren Mandaten wäre erfasst worden. Dadurch wären eindeutig Grundrechte, die deutschen Bürgern sowohl durch das Grundgesetz als auch durch die EU-Grundrechte-Charta zustehen, eingeschränkt worden. Laut der Bundesbeauftragten für den Datenschutz wären eklatante Verstöße gegen die Achtung des Privatlebens nach Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta und gegen das Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 Absatz 1 Grundgesetz die Folge gewesen. Auch der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDPS) und der Europäische Datenschutzausschuss (EDSA) hatten den Verordnungsentwurf bereits im Juli 2022 in einer Gemeinsamen Stellungnahme scharf kritisiert und legten ein weiteres kritisches Statement nach, nachdem das Europäische Parlament im November 2023 eine Einigung zum Verordnungsentwurf mit Änderungsvorschlägen erzielt hatte.
Der Verordnungsentwurf wirft daher weit über das Thema „Chatkontrolle“ hinaus die Frage auf, wie es die EU-Kommission generell mit den Grundrechten hält. Ein Blick in die geplante Verordnung verrät, dass ihr die Problematik durchaus bewusst ist, sie aber offenbar dennoch davon ausgeht, sich darüber hinwegsetzen zu können. Das Dokument mit dem vollständigen Titel „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ (COM/2022/209 final) ist auch in deutscher Sprache abrufbar und umfasst im pdf-Format 151 Seiten.
Unter Punkt 3 („Ergebnisse der Ex-Post-Bewertung, der Konsultation der Interessenträger und der Folgenabschätzung“) findet sich als Unterpunkt ein Absatz zu den Grundrechten. Zwar wird hier die Formulierung aus Artikel 52 Absatz 1 der EU-Grundrechte-Charta vorausgeschickt, dass Einschränkungen der EU-Grundrechte-Charta nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden dürfen und auch nur, wenn sie erforderlich seien und den „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ tatsächlich entsprächen.
Gemeinwohl vor Eigennutz?
Doch dann wird flugs argumentiert, dass diesem Artikel insofern nachgekommen würde, als Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern – einer besonders schweren Straftat – dem Gemeinwohl dienen würden. Darüber hinaus würden die Rechte anderer – nämlich die Rechte von Kindern – geschützt werden. Es gehe insbesondere um die Grundrechte auf Menschenwürde und Unversehrtheit der Kinder. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Straftaten gegen Minderjährige habe der Gerichtshof der Europäischen Union zudem festgestellt, dass sich zumindest aus einigen der genannten Grundrechte positive Verpflichtungen der einschlägigen Behörden (einschließlich der Unionsgesetzgeber) im Hinblick auf den Erlass rechtlicher Maßnahmen zum Schutz der betreffenden Rechte ergeben können.
Auf der anderen Seite stünden die Grundrechte der Nutzer der betreffenden Dienste. Dazu gehörten insbesondere die Grundrechte auf Achtung der Privatsphäre (einschließlich der Vertraulichkeit der Kommunikation als Teil des umfassenderen Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens), auf Schutz personenbezogener Daten sowie auf Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. Auch wenn diese Rechte von großer Bedeutung seien, könne keines von ihnen uneingeschränkte Geltung beanspruchen und müssten sie im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Als dritte Partei sieht die EU-Kommission die Anbieter der Dienste, deren unternehmerische Freiheit (etwa die freie Wahl des Geschäftspartners und die Vertragsfreiheit) zwar eine Rolle spiele, aber ebenfalls nicht schrankenlos gelte. Vielmehr seien eine Vielzahl von Eingriffen möglich, die „im allgemeinen Interesse“ die Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken können.
Die Kommission gibt zwar zu, dass „die potenzielle oder tatsächliche Entfernung von Material der Nutzer, vor allem eine irrtümliche Entfernung (unter der falschen Annahme, dass es sich um Material über sexuellen Kindesmissbrauch handelt), möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Grundrechte der Nutzer, insbesondere auf die Meinungs- und Informationsfreiheit, haben“ kann. Gleichzeit könne jedoch Online-Material über sexuellen Kindesmissbrauch, das nicht entdeckt und nicht entfernt werde, gravierende negative Auswirkungen auf die genannten Grundrechte der Kinder haben und den Schaden für die Kinder und die Gesellschaft insgesamt noch weiter verbreiten. Da die Verarbeitung der personenbezogenen Daten der Nutzer zum Zwecke der Aufdeckung, Meldung und Entfernung von Material über sexuellen Kindesmissbrauch im Internet aber eben erhebliche Auswirkungen auf die Rechte der Nutzer habe, könne die Entscheidung darüber grundsätzlich nicht den Anbietern überlassen werden, sondern stehe eher dem Gesetzgeber zu.
Dabei habe besonders die Aufdeckung von „Grooming“ (also die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht) positive Auswirkungen auf die Grundrechte potenzieller Opfer. Allerdings handele es sich bei dieser Aufdeckung generell um den stärksten Eingriff für die Nutzer, da er ein automatisches Durchsuchen der Texte in der interpersonellen Kommunikation erfordert. Hier gelte es zu bedenken, dass ein solches Durchsuchen oft die einzige Möglichkeit zur Aufdeckung dieses Materials sei und der Inhalt der Kommunikation von der verwendeten Technologie nicht „verstanden“, sondern eher auf bekannte, im Vorfeld ermittelte Muster, die auf mögliches Grooming hindeuten, hin durchsucht werde. Außerdem beinhalte der Vorschlag starke Aufsichtsmechanismen.
Machtzuwachs der EU-Kommission
Daher wollte die EU-Kommission ein neues EU-Zentrum einrichten, das eine Datenbank mit Verdachtsfällen führen und den Anbietern auch „geeignete Technologien“ zur Verfügung stellen soll. Schließlich sieht der Verordnungsentwurf noch eine verpflichtende Alterskontrolle durch App- und Software-Stores und teilweise sogar den Ausschluss bestimmter Altersgruppen von Software-Anwendungen vor. Dies würde jedoch zu Zensur führen und die anonyme Nutzung des Internets unmöglich machen, was insbesondere für Oppositionelle oder Whistleblower fatale Folgen hätte. Dieses neue Zentrum sollte seinen Sitz ausdrücklich in Nachbarschaft der EU-Polizeibehörde Europol in Den Haag haben und als Einrichtung der Union mit eigener Rechtspersönlichkeit in allen Mitgliedstaaten die weitestreichende Rechts- und Geschäftsfähigkeit genießen, die die jeweilige Rechtsordnung juristischen Personen zuerkennt. Es sollte bewegliches und unbewegliches Vermögen erwerben und veräußern sowie vor Gericht parteifähig sein können. Vertreten werde sollte es durch einen Exekutivdirektor.
Fazit:Wäre die Verordnung umgesetzt worden, hätte sie einen weiteren immensen Machtzuwachs der EU-Kommission, das Ende der Privatsphäre im Internet und durch das neue EU-Zentrum als oberste Aufsichtsbehörde eine noch größere Zentralisierung bedeutet. Es bleibt zu befürchten, dass die EU-Kommission eine Alternative ausarbeiten wird, die nur geringfügig weniger einschneidende Folgen haben wird. Vor allem aber lässt sich das Muster, Grundrechte zum angeblichen Nutzen des Allgemeinwohls einzuschränken, auf alle möglichen weiteren Bereiche übertragen – wie die Coronakrise eindrücklich gezeigt hat.
Auch der Kampf gegen den „Klimawandel“ oder ganz reale Kriegsvorbereitungen dienen schließlich vermeintlich dem Allgemeinwohl. Und es wird sich auch immer eine gesellschaftliche Minderheit finden lassen, die als besonders zu schützende Opfergruppe instrumentalisiert werden kann. Der einzelne Bürger als Individuum zählt dagegen nichts mehr. Die Parole „Gemeinnutz vor Eigennutz!“ ist allerdings nicht neu. Noch lässt sich über Suchmaschinen im Internet herausfinden, wer sie propagiert hat.
Dieser Text erschien zuerst auf achgut: https://www.achgut.com/artikel/eu_chatkontrolle_vom_tisch_aber_wie_lange