#allesdichtmachen oder das Glück der anderen

Gastbeitrag von Rebecca Niazi-Shahabi

Rebecca Niazi-Shahabi stammt aus einer deutsch-iranisch-israelischen Familie und lebt in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und Werbetexterin und schreibt populär-philosophische Sachbücher, von denen einige Bestseller wurden.

Lesedauer 5 Minuten

Was hat die Suche nach sich selbst, das große Lebensziel unserer Zeit, nämlich mit sich im Reinen zu sein mit Corona zu tun? Beziehungsweise damit, was aus diesem Virus entstanden ist: Einer unendlichen Schlacht von Meinungen und Einstellungen, so erbittert geführt, dass es sämtliche Beziehungen wenn nicht zu zerstören, doch ernsthaft zu belasten droht. Unsere Beziehungen zu Arbeitskollegen, Freunden, Familie, aber auch zu öffentlichen Personen, so z.B. zu den Schauspielern, die sich in der Aktion „#allesdichtmachen“ mit den Maßnahmen der Bundesregierung auf künstlerische und teilweise sehr lustige Weise auseinandergesetzt haben.

Man könnte anmerken, dass diese Aktion ein Angebot ist, nicht – die künstlerische Form legt das nahe – um zu überzeugen, sondern um Dinge zu hinterfragen. Und um Bilder und poetische Wendungen anzubieten für Gefühle, die manch einer hat, aber noch nicht in Worte fassen kann. Vor allen Dingen sind die kurzen Clips für Menschen gemacht, die im Moment von anderen Medien eher weniger Angebote bekommen, aber es ist die Frage, ob so eine Anmerkung gehört wird.

Was ich untersuchen will, hat wenig mit Corona zu tun. Es geht mir hier um ein Phänomen, welches u.a. der Philosoph Robert Pfaller „Das Glück der anderen“ genannt hat und welches auch in den Reaktionen auf „#allesdichtmachen“ zu beobachten ist und jede sinnvolle Auseinandersetzung unmöglich macht.

Das Glück der anderen ist das, was ich überall sehe und nicht habe. Auf Instagram, auf Facebook, auf der Straße, wenn ein lachendes Paar an mir vorübergeht, die Familien in der Baumarkt-Werbung, die Yoga-Frauen, die ihr Geld damit verdienen, dass sie anderen auf Youtube erzählen, wie entspannt sie sind. Die Berühmten, die ihren Traum leben, weil sie endlich ihre Komfortzone verlassen haben, die, die sich was trauen und ihre Zeit nicht mehr mit sinnlosen Dingen verschwenden. Die, die mit sich im Reinen sind.

Das unerreichbare Lebensziel, ganz mit sich im Reinen zu sein ist so omnipräsent, und viele Menschen behaupten, sie hätten dieses Ziel auch schon erreicht (da helfen auch 1.000 Geschichten über Gurus, die heimlich trinken und Yogalehrerinnen, die sich von ihrem Lebenspartner quälen lassen und bankrotte Traumverwirklicher nichts), dass jeder, der lebt, wie er halt lebt, sich falsch fühlen muss.

Man tut das eine und wünscht sich das andere. Für einen Menschen, der seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen muss, ganz normal. Man hätte gerne eine Traumfigur, liebt aber den Kuchen am Nachmittag, Millionen Menschen kennen das. Eltern lieben ihre Kinder, aber schimpfen mit ihnen. Man trifft eine Entscheidung – und merkt kurz danach, das war die falsche. Vielleicht lügt man sogar und behauptet, das war genau das, was man wollte, weil man sich vor seinem Umfeld schämt, man wäre nicht der erste, dem das passiert. Man weiß, man müsste mal was ändern, hat aber keine Idee wie – und weil man zu lange wartet, erledigt sich dieses eine Thema von allein. Zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre, aber alles ganz normal, denn das Leben besteht aus Sachzwängen und Kompromissen und überhaupt, hinterher weiß man immer alles besser. Manchmal blitzt sie dann doch auf, die Erkenntnis, dass alles ganz einfach sein könnte, wenn da einer kommt zum Beispiel und sagt „Ich mag dich, so wie du bist“. Das ist schön, hält aber leider nicht lang: Im Reinen mit sich ist man eben nur ganz selten und zwischendurch.

Im Reinen sind also immer nur die anderen. So scheint es, zumindest wenn man in einer Buchhandlung die vielen Bücher sieht, die Menschen über ihre angebliche Erleuchtung und ihr unendliches Glück geschrieben haben. Man staunt – und neidet es ihnen. Wie gerne wäre man auch einmal so einverstanden mit sich und seinen Taten wie diese Menschen, die sich für ihr Glück auch noch bezahlen lassen.

Dies hat ganz konkrete und vor allen Dingen fatale Folgen für unsere Gesellschaft: Dadurch, dass viele, viele Menschen vermuten, alle anderen seien eins mit sich selbst, erzeugen die Meinungen anderer so viel Wut und Hass. Die vermutete Übereinstimmung der Sprechenden mit sich selbst lässt nicht erkennen, WIE das gemeint ist, WAS da gesagt wird. An Corona zeigt sich das überdeutlich, die Reaktionen auf „#allesdichtmachen“ sind exemplarisch und waren vorhersehbar. Und mit Sätzen wie „wir müssen wieder lernen, einander zuzuhören“ oder „Wir müssen Vielfalt ertragen“, wird das nicht in den Griff zu bekommen sein. Um einander zu verstehen, muss das Glück der anderen als das durchschaut werden, was es ist. Eine reine Projektion.

Das Glück der anderen verzerrt die Realität, an einem wahllos aus der aktuellen Diskussion herausgegriffenen Beispiel lässt sich dies eindeutig belegen. Beschreibt z.B. jemand, dass er die Maßnahmen für übertrieben hält, ob in sachlicher oder überzogener Weise, und er oder sie das angeordnete Verhalten für nicht praktikabel oder gar menschenunwürdig hält – dann reagiert darauf die Öffentlichkeit mit Sätzen: Er oder sie verhöhnt die Betroffenen, ignoriert das Leid derer, die an den Beatmungsgeräten angeschlossen sind, trampelt auf den Gefühlen der Angehörigen herum usw. Diese Reaktionen ergäben aber nur Sinn, wenn man die Gruppe der Kritiker aus der Gruppe derer, die von Corona betroffen sein könnten, ausschließt, beziehungsweise fest davon überzeugt ist, die Kritiker würden sich selbst davon ausschließen! (Anders wären sie ja gar nicht in der Lage, die Maßnahmen zu kritisieren, so die Meinung der Empörten). Sogar der Satz, „ich wünschte, du würdest Corona bekommen und daran ersticken” (man muss nur die Kommentarzeilen unter den Videos der bekannten Kritiker schauen, um solche Verwünschungen zuhauf zu finden), weist darauf hin, dass man diese Menschen irgendwie für gefeiter vor dem Virus hält als andere, denn ansonsten müsste man ja nicht wünschen, sondern könnte dem gefährlichen Virus seinen Lauf lassen. Die Idee, dass jemand sogar schon Corona hatte oder gar jemanden kennt, der daran gestorben ist und TROTZDEM die Meinung vertritt, dass auch die selbst erlebten Krankheitsfälle nicht rechtfertigen, die Grundrechte aller zu beschneiden oder übertriebene und deswegen menschenunwürdige Maßnahmen durchzusetzen, scheint in keiner Weise vorhanden zu sein.

Zitat:

„Es ist mir egal, ob Großmutter stirbt, ich brauche einen Haarschnitt.“ war ein Facebook-Post, der von Kritikern der Maßnahmenkritiker herumgeschickt wurde. Allein das zeigt die falsch vermutete Übereinstimmung der anderen mit sich selbst: Würde man erkennen, dass die Maßnahmenkritiker keine Übereinstimmung brauchen, um mit den Widersprüchen des Lebens fertig zu werden, hätte der Facebook-Post gelautet: „Mir egal, ob ich sterbe, aber wenn ich sterbe, dann bitte in Würde, weil gut frisiert.“

Viele haben es selbst erlebt, ich selbst hörte von einem guten Freund immer wieder (obwohl ich dementierte), dass er glaube, ich wolle wohl Angstreduktion betreiben, indem ich Corona leugne. Nichts davon habe ich getan, weder leugne ich die Existenz des Corona-Virus, noch, dass daran Leute sterben. Ich glaube, fast niemand tut das. Ich denke eben TROTZDEM, dass dies kein Grund ist, meine Freunde nicht zu umarmen. SOGAR, wenn ich Angst habe, sogar, wenn es mich selbst betreffen könnte – und sogar, sollte ich selbst daran sterben. Was ich nicht will.

Das Glück der anderen – also die absolute Übereinstimmung mit sich selbst – ist ein so starkes innerliches Bild, dass jede Meinungsäußerung eines anderen als vollkommen übereinstimmend mit der Person erlebt wird. Nur deswegen ist es zu erklären, dass niemand sich mehr irren darf, deswegen erlebt man andere als von einer „höheren Warte argumentierend“ und jede Meinung als Totalangriff auf die eigene Person. Und deswegen muss gleich die Person, die etwas äußert, vernichtet werden. Niemand schämt sich mehr, wenn er in den Sozialen Medien (also öffentlich) sagt, dass, weil er anderer Meinung ist als Schauspieler XY, fordere, dieser dürfe in keinem Film mehr mitspielen und überhaupt sei dieser bei ihm unten durch. Warum? Muss ein Schauspieler, den ich nicht kenne, außer mit seiner Schauspielkunst mir noch in allem anderen genehm sein? Muss ich mit ihm TOTAL übereinstimmen, um die Filme mit ihm zu genießen? Muss ich jede einzelne Äußerung in „#allesdichtmachen“ unterschreiben können, um diesen Diskussionsbeitrag überhaupt ertragen zu können?

Man neidet einem Ulrich Tukur oder einem Martin Brambach seine vermeintliche Angstlosigkeit, seine vermeintliche Überheblichkeit, seine vermeintliche Zweifelsfreiheit. Es geht eben um mehr, als dass man nicht gut findet, was diese und andere, die bei dieser Aktion mitgemacht haben, denken.

Menschen, die vom „Glück der anderen“ überzeugt sind, empfinden die Videos von „#allesdichtmachen“ nicht als Beitrag zu einer Diskussion über Dinge, die uns alle betreffen und hinterfragt und besprochen gehören – sondern als unerträgliche Demonstration absoluter Selbstsicherheit, die sich sogar über Krankheit und Tod erhaben fühlt. Welch ein Irrtum.

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