Telegram und der Kampf gegen Gewalt

ein Beitrag von Katja Leyhausen

Das kollektive „Tagebuch“ dient der Dokumentation und Selbstreflexion der zivilgesellschaftlichen Arbeit für Meinungsfreiheit in einer Zeit, wo dieses und andere Grundrechte gefährdet sind: Wer erinnert sich nicht an ein Gespräch oder einen schriftlichen Austausch über die Coronapolitik, bei dem er besonders verzweifelt war über Aggressionen, Mauern, Predigten oder im Gegenteil überrascht darüber, dass plötzlich eine Tür aufging, eine Frage berücksichtigt oder ein Argument angehört wurde. Und an welcher Stelle in der Auseinandersetzung war es möglich, etwas von den Gefühlen, Motiven, Begründungen der anderen Seite nachzuvollziehen und vielleicht gemeinsam weiterzuentwickeln? Welche Situationen und Medien der Kommunikation sind überhaupt geeignet, um in einen Kontakt mit Andersmeinenden zu kommen? Zeichnen sich bei solchen Erlebnissen Entwicklungen im gesellschaftlichen Diskurs ab? Dieser Ort im Magazin ist offen für alle kommunikativen Erfahrungen – Erfahrungen, die einschlägig sind, weil sie etwas über den Stand der Debattenkultur und Meinungsfreiheit in unserem Land aussagen.

Der konzertierte “Kampf gegen das Virus” wird im gegenwärtigen Herrschaftsdiskurs – nahtlos und unerwartet – vom “Kampf gegen Gewalttäter und Rechtsradikale” abgelöst. Die Propaganda wirkt, auch bei Menschen, die sich vor einem Jahr genauso wenig für das Problem des Rechtsradikalismus interessiert haben wie vor zwei Jahren für die intensivmedizinische Beatmung.

Der Staat, so hieß es am Wochenende bei lecker Kaffee und Kuchen, müsse doch in Telegram eingreifen: So ein Nachrichten- und Messengerdienst dürfe doch nicht unkontrolliert auf Sendung sein und Aufrufe zu Hass und Gewalt verbreiten. Während ich das schreibe, merke ich, viel besser als direkt vor Ort, dass die Aussage einen fragenden Unterton hatte und womöglich offener war, als sie auf mein eigenes Reiz-Reaktions-Schema wirkte.

Was tut die Polizei und was kann sie noch tun

Ich war bei dem Gespräch erst nur bystander, wie es in der Gesprächslinguistik heißt: Zwei unterhielten sich, und ich daneben bekam große Ohren. Nicht lange darauf konnte ich mich nicht mehr zurückhalten: “Dass wir das jetzt überhaupt diskutieren, ist ein Erfolg der Propaganda, und wir müssen mal überlegen, was das für den Kampf gegen Gewalt bedeutet”. Das Gespräch lief aber im gleichen Fahrwasser weiter: Zuerst wurde der Unterschied von Nachrichten- und Messengerdienst erläutert. Dann ging es daran auszubuchstabieren, welche Verbrechen dort möglicherweise vorbereitet werden. Hier schaltete ich mich wieder, höchst unglücklich, ein: “Na, die Polizei hat ja jetzt keine Zeit mehr für ihre Arbeit; die muss jetzt auf die Montagsspaziergänger überall im Land aufpassen.”

Das war die rote Linie, und ich hätte sie kennen müssen: Der Kampf gegen Rechts ist uns von der Geschichte aufgegeben.

Mindestens fünf Minuten, die in einem hitzigen Gespräch extrem lang sind, habe ich gebraucht, um das zu verstehen. Und eigentlich habe ich es erst am nächsten Morgen beim Zähneputzen verstanden. Mitten in der Debatte verstand ich überhaupt nicht, warum meine Äußerung so sehr provoziert hatte: “Also, aber das ist ja völlig unmöglich, was du da sagst! Wie kannst du eine so pauschale Aussage treffen? Wie kommst du dazu zu behaupten, die Polizei würde ihre Arbeit nicht mehr machen?” Ich versuche, Zeit zu gewinnen, da ich noch gar nicht verstanden habe, was hier los ist: “Naja, das habe ich so nicht gesagt, das ist eine Interpretation”. “Nein”, schallt es aus einer anderen Ecke im Raum. “Das habe ich genau gehört, dass du das gesagt hast. Das ist keine Interpretation”.

Ein Kampf ums Thema

Natürlich bekomme ich plötzlich den Eindruck, gar nicht mehr zu wissen, was ich in Worten gesagt habe. Aber sicher bin ich, gesagt zu haben, dass die Polizei aus Zeitgründen vielleicht objektiv gar nicht mehr in der Lage ist, ihre Arbeit der Verbrechensbekämpfung zu erledigen. Das ist zwar eine Provokation. Doch daraus die Behauptung zu entnehmen, dass die Polizei ihre Arbeit tatsächlich nicht mehr macht, das kann man sicher als Kurzschluss bezeichnen. Mein Gegenüber nennt es “Logik”, und natürlich gestehe ich ihm diese Logik auch zu. Denn immerhin weiß ich sogar noch in diesem Moment: Äußerungen sind vieldeutig. Die Sätze, die ich in den Raum stelle, gehören nicht mir.

Ich erinnere mich an Grundlagen der Gesprächslinguistik: Immer muss ich einberechnen, dass sich andere zu Schlussfolgerungen veranlasst sehen könnten, die ich selbst für abwegig halte, genauer: zu einer nicht zwingenden, aber möglichen “Inferenz”, die jeder so ziehen kann, wie es seinen Relevanz-Gesichtspunkten entspricht. Ich wollte vom propagandistischen Thema ablenken, um zum Zentrum des Problems Telegram überzuleiten: zu den Regierungskritikern, die im Kampf gegen Telegram ja doch wohl eigentlich bekämpft werden sollen. Aber die anderen am Tisch haben sich auf diesen Themenwechsel nicht eingelassen, weil es ihnen mit ihrem Thema furchtbar ernst ist. Sie wollten lieber weiter von der Exekutive und ihrem wichtigen Kampf gegen rechte Gewalt reden.

Wir führten also einen Kampf ums Thema – ich mit ihnen und sie mit mir, und wir haben es offensichtlich alle gar nicht gemerkt.

Macht von Nudging und Hypnose

Diese schöne Theorie hilft natürlich nicht, schon gar nicht, da ich sie am Tag danach nur nachtrage. Es war ein hilfloser Versuch, durch einen thematischen Bruch gegen die hypnotisierende Litanei der immer gleichen Etikettierungen anzugehen: “Regierungskritiker = rechtsextrem = gewaltbereit = Feind der Demokratie = gehört verboten = der Staat muss handeln”. Eine Provokation schien mir dafür gerade recht. Doch das Experiment ging erst einmal tüchtig schief: Mir fehlt die praktische Übung in den sprachlichen Nudging- und Überwältigungstechniken.

Doch ich gab nicht auf: Unverdrossen hielt ich an meinem Thema fest, und schloss noch diejenige Erläuterung an, die meiner eigenen Logik entspricht: Ich wurde bei einem Spaziergang an einem Montag mit ungefähr 80 Leuten von 40 Polizisten für eine Stunde eingekesselt und bin froh, dass dieselben Polizisten in diesem Zeitraum wenigstens nicht damit beschäftigt sein konnten, Jugendliche aus dem Park zu vertreiben. Das habe ich nämlich in den letzten zwei Jahren bei meinen täglichen Spaziergängen im Park oft erleben müssen, in bestimmten Perioden sogar mehrmals wöchentlich. Die Polizei hat Kapazitätsprobleme. Denn die Spaziergänger binden ihre Aufmerksamkeit, an besagtem Montag mit einer 1:2- Betreuung, die viel besser war als in jeder wohlstandsdeutschen Kindertagesstätte. Diesen letzten Halbsatz habe ich natürlich nicht mehr gesagt, und auch nicht meine eigene Schlussfolgerung: Der Staat macht sich mit all diesen Aktionen lächerlich, und unsere ganze schöne Wohlstandsgesellschaft mit. Seid vorsichtig, denn es kann sein, dass es sich mit dem Telegram-Coup ähnlich verhält.

Natürlich konnte ich mit meiner Logik nicht mehr landen; das Urteil zu meiner Äußerung über die Polizei war längst gefallen, und zwar endgültig. “Da könnten ja auch Nazis oder die AfD mitlaufen. Der Kampf gegen den Rechtsradikalismus ist uns von der Geschichte aufgegeben”. Es war hoffnungslos. Sie kamen vom Thema nicht weg, der Realitätsbezug zu dem, was ich wortreich erläuterte, war nicht herzustellen.

Brennende Luft und ein ruhiger Platz am Tisch

Erneut kamen Laute der Empörung wie “nee, also das, also nee, wirklich”. Für eine Sekunde hatte ich das Gefühl, jetzt schmeißen sie mich raus. Und gleichzeitig die Sicherheit, dass sie es nicht tun würden, weil es trotz allem eine feste Verbindung zwischen uns gibt. Stattdessen sprang eine Tischnachbarin auf, die sich bisher gar nicht geäußert hatte. “Ich wollte doch meiner Mutter dringend noch etwas vorbeibringen” – und weg war sie. Wir fühlten die Luft brennen. Also stand auch ich auf, um abzukühlen und die Situation aus einer anderen Perspektive zu begutachten. Ich ging in die Richtung jener Ecke, wo “genau gehört wurde”, was ich sage. Das andere Gespräch lief sowieso für sich weiter. Sie brauchten keinen bystander und diskutierten auch ohne mich kontrovers genug.

Ein ruhiger Platz am Tisch war noch frei. Dort haben wir uns hingesetzt und lange gesprochen, mit dem Blick in offene Augen und mit der Bereitschaft, uns etwas zu sagen. Die Erfahrung habe ich schon öfter gemacht: Wenn man sich einigermaßen vertraut ist, kann man auf eine Metaebene gehen und statt über Telegram, Corona und Politik über die Frage nach dem persönlichen Umgang miteinander sprechen. Warum ist es für uns alle so schwer, strittige Themen auszuhalten, sie einerseits nicht in schönster Harmonie und Konfliktunfähigkeit totzuschweigen und andererseits nicht mit knallenden Türen auseinanderzurennen? Ich denke bei mir: In beiden Verhaltensweisen entlarvt sich die Herrschaft der extremen Mitte. Doch mein Gegenüber hat davon sicher noch nichts gehört, und ich will nicht schon wieder provozieren. So glaubte ich gegen Ende des Gesprächs sogar zu hören: Lockdowns wären eigentlich wirklich schlecht, die Impfpflicht fände er auch nicht gut, aber es sei schwer, über das alles zu reden. Denn man tut etwas, was man eigentlich selbst nicht richtig findet.

Eine bittere Erkenntnis

Nun, beim Zähneputzen am Morgen darauf kam mir die bittere Erkenntnis: Die Kampfansage gegen Telegram und gegen Montagsspaziergänger, die als “Kampf gegen rechte Gewalt” ausgegeben wird, hat jetzt die gleiche Zustimmung wie zuletzt noch “der Kampf gegen das Virus”, der sich realiter doch bloß als Kampf gegen Jugendliche im Park und Kinder in der Schule auswirkte. Dieser Kampf ist jetzt das alles bestimmende Thema. Hinter diesen Verlautbarungen der Regierung und ihrer Medienmegafone stehen die Leute felsenfest. Die Propaganda wirkt; und sie wird immer noch einen Drachen finden, der in Grünanlagen, an den Kaffetischen und im Internet aufgespürt und gnadenlos bekämpft werden muss.

Die Herrschenden werden damit weiterhin erfolgreich von ihrer eigenen Zerstörungswut ablenken. Sie werden die brennenden Gefahren ihrer verfehlten Gesundheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitk weiter verharmlosen. Die tatsächliche Radikalisierung bei ihren Followern werden sie mindestens in Kauf nehmen, und das alles nur, um ihre eigenen Pfründe in Sicherheit zu bringen. Weil Montagsspaziergänger und Regierungskritiker mit dem monotonen Etikettenschwindel “unsolidarisch, asozial, gewaltbereit, rechtsradikal” hochoffiziell für vogelfrei erklärt werden, hat in den einschlägigen Vierteln Berlins so manche Gruppe der Antifa längst damit begonnen, sie zu verprügeln.

Durch verantwortungslose Politiker, Journalisten und Amtspersonen werden Extremismus und Gewalt von links, von rechts und auch von der extremen Mitte weiter zunehmen. Deshalb dürfen und dürfen wir nicht aufhören, uns im Gespräch offen in die Augen zu sehen und diese Themen mit lautem Knall auf den Tisch zu bringen, damit wir sie friedlich wieder abräumen können – wo auch immer uns das gerade noch möglich erscheint.

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