Eine Rezension von Thierry Simonelli
Lesedauer 5 Minuten
Muriel Blaive: Pandemic power: The Covid response and the erosion of democracy – A liberal critique. Central European University Press. 2025.
Mit Pandemic Power legt die Historikerin Muriel Blaive eine scharfsinnige Analyse der politischen Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie und ihrer Auswirkungen auf liberaldemokratische Ordnungen vor. Muriel Blaive ist Historikerin für das kommunistische und postkommunistische Mitteleuropa mit besonderem Fokus auf Autoritarismus, Manipulation und Propaganda. Sie ist derzeit Elise-Richter-Stipendiatin an der Universität Graz, am Institut für Soziologie.
Eine autoritäre Verschiebung
Blaives zentrale These lautet, dass die pandemiebedingten Maßnahmen nicht lediglich technokratische Notwendigkeiten waren, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden autoritären Verschiebung innerhalb westlicher Demokratien. Diese Verschiebung kann man als desto besorgniserregender ansehen, als sie nicht von den klassisch autoritären Kräften, sondern von den sogenannten Liberalen, allen voran den linksliberalen Parteien selbst vorangetrieben wurde.
Blaive erinnert am Anfang ihres Buches daran, wie unter dem Banner des Gesundheitsschutzes tiefgreifende Eingriffe in Grundrechte vorgenommen wurden, und das ohne die übliche parlamentarische Kontrolle oder öffentliche Debatte. Sie erklärt Maßnahmen wie Lockdowns, Ausgangssperren, digitale Zugangssysteme (wie Gesundheitspässe) und Einschränkungen der Meinungsfreiheit als Symptome eines Ausnahmezustands, der mehr einer Verwaltung der Bevölkerung als einer wissenschaftlich oder auch nur empirisch begründeten Infektions- und Krankheitsbekämpfung diente.
Der Ausnahmezustand als Regierungstechnik
Diese Analyse lässt sich in zentraler Weise mit Giorgio Agambens Theorie des Ausnahmezustands verknüpfen. In Ausnahmezustand (Agamben, 2004) entwickelt Agamben die These, dass sich die souveräne Macht des modernen Staates primär in seiner Fähigkeit manifestiert, im Namen eines postulierten Ausnahmezustands die Rechtsordnung zu suspendieren. Der Ausnahmezustand ist dabei nicht ein temporäres Aussetzen des Rechts, sondern seine verrechtlichte Entleerung – eine Form der Legalität ohne Gesetz, eine Zone der Anomie. Als „Zone der Anomie“ bezeichnet Agamben (2004, S. 78) die paradoxe Situation, in der das Recht zwar formal suspendiert ist (wie im Ausnahmezustand), aber dennoch weiter wirksam bleibt, etwa durch administrative oder polizeiliche Maßnahmen.
Aus derselben Perspektive dokumentiert Blaive, wie Regierungen im Namen des Gesundheitsschutzes mit exekutiver Machtfülle agierten: Parlamente wurden entmachtet, Notverordnungen verlängert, Grundrechte eingeschränkt, demokratische Debatten suspendiert. Dieses Szenario ist geradezu paradigmatisch für Agambens Ausnahmezustand, in dem die Grenze zwischen Gesetz und Gewalt, zwischen demokratischer Legitimität und nackter Macht verwischt wird. Agamben schrieb schon 2004:
„Diese Verschiebung von einer ausnahmsweise ergriffenen provisorischen Maßnahme zu einer Technik des Regierens droht die Struktur und den Sinn der traditionellen Unterscheidung der Verfassungsformen radikal zu verändern – und hat es tatsächlich schon merklich getan. Der Ausnahmezustand erweist sich in dieser Hinsicht als eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus.“ (Agamben, 2004, S. 27)
Entleerung der Politik
Zudem verbindet Blaive, ähnlich wie Agamben, das Ausnahmehandeln mit biopolitischen Steuerungsstrategien: Der Körper des Bürgers wird zum zentralen Objekt staatlicher Interventionen. Gesundheitsdaten, Infektionszahlen und Körperkontakte werden kontrolliert, isoliert oder normiert. Der Mensch erscheint hier, in Agambens Terminologie, als „bloßes Leben“, das in staatlich verwalteten Ausnahmezonen behandelt wird. Der Ausnahmezustand wird dabei nicht mehr als äußerer Bruch mit der Normordnung verstanden, sondern als implizite, strukturelle Möglichkeit im Innern der liberalen Demokratie. Entscheidungen werden nicht mehr als politische Konflikte ausgehandelt, sondern erscheinen als technisch notwendige Maßnahmen zum Schutz des Lebens (z. B. Pandemien, Sicherheit, Migration).
Agamben betont, dass die Anerkennung des Ausnahmezustands als notwendige Maßnahme letztlich zu einer Entpolitisierung der Souveränität führe, die nicht mehr als Streit über das Gemeinwohl, sondern als technisches Management konstruierter Krisen erscheint. Blaive zeigt, dass genau diese depolitisierende Haltung unter pandemischen Bedingungen weit verbreitet war, und dabei das Terrain für autoritäre Dynamiken bereitete.
Verwaltung des Lebens
Zugleich lässt sich Blaives Kritik durch die Linse von Michel Foucaults Begriff der „Gouvernementalität“ (Foucault, 2004) deuten. Foucault versteht unter Gouvernementalität die Gesamtheit der Praktiken, durch die moderne Macht nicht mehr primär durch Gewalt, sondern durch Verhaltenslenkung, Bevölkerungsmanagement und Selbstführung der Subjekte ausgeübt wird. Die pandemische Politik erscheint als eine neue Form der Bevölkerungskontrolle, in der die Gesundheit zur obersten Staatsraison wird und Bürger primär als epidemiologische Körper adressiert werden. Das Leben selbst – Körper, Fortpflanzung, Gesundheit – wird zum Gegenstand von Regulierung und Kontrolle. Diese Verschiebung von der Souveränität zur Verwaltung des Lebens (mit Foucault: zu biopouvoir/Biomacht) untergräbt die partizipative Dimension demokratischer Willensbildung und stellt eine Reorganisierung des Politischen im Modus der Sicherheitsrationalität dar.
Entmündigung der Öffentlichkeit
Die Analyse Blaives lässt sich auch im Lichte von Wendy Browns (2015) Analysen der Transformation des politischen Liberalismus lesen. Blaives wichtige Deutung ist nicht, dass die Pandemie autoritäre Systeme hervorgebracht habe, sondern dass sie bestehende Tendenzen zur Entparlamentarisierung, zur Technokratisierung und zur Entpolitisierung beschleunigt und legitimiert habe – mit Langzeitfolgen für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft.
Diese Entwicklung führt zu dem, was Brown als Entpolitisierung der Demokratie beschreibt: Entscheidungen über Freiheit, Gleichheit oder Teilhabe werden nicht mehr im öffentlichen Raum verhandelt, sondern in Sondergremien, Expertengruppen und Verwaltungsprozeduren getroffen. Die politische Öffentlichkeit wird damit nicht nur entmündigt, sondern verliert auch das Bewusstsein dafür, dass andere Alternativen möglich gewesen wären. In pandemischen Kontexten wie dem von Blaive beschriebenen wird diese Logik mit moralischer Rhetorik durchgesetzt („solidarisch sein“, „der Wissenschaft folgen“). Dennoch beruht sie letztlich auf einer neoliberalen Rationalität, die das Politische durch Effizienz und Kontrolle ersetzt.
Rückzug des Staates von sozialen Aufgaben
Weder Brown noch Blaive vertreten einen staatsskeptischen Libertarismus. Vielmehr kritisieren beide die Transformation eines liberalen Staates, der einst individuelle Rechte gegen Macht schützen sollte, in einen „präventionsstaatlichen Leviathan“, der unter dem Banner der Sicherheit eine neue Form der Gouvernementalität entfaltet. Dabei entsteht eine paradoxe Situation: Der Staat zieht sich aus sozialen Aufgaben zurück, um sich umso intensiver auf die Regulierung von Körpern, Bewegungen und Daten zu konzentrieren.
Kritik an der Linken
Ein besonders origineller Beitrag Blaives liegt in ihrer Kritik an der politischen Linken. Während der Pandemie trat diese ganz besonders durch ihre weitgehende Akzeptanz staatlicher Autorität hervor. Die moderate Linke, so Blaive, habe sich in eine moralisch überhöhte Verteidigerin technokratischer Maßnahmen verwandelt – und dabei zentrale politische Funktionen wie Machtkritik, Schutz marginalisierter Gruppen und die Reflexion demokratischer Verfahren aufgegeben. In Blaives Deutung hat die Linke durch diese Haltung das Terrain des Widerstands aufgegeben.
Mechanismen der Demokratie überdenken
Pandemic Power deutet die Pandemiebekämpfung nicht als medizinisches, sondern als zutiefst politisches Projekt der staatlichen Reorganisation. Blaive lädt dazu ein, die Mechanismen liberaler Demokratien kritisch zu überdenken, insbesondere dort, wo sie unter dem Vorwand des Schutzes die Bedingungen für Selbstregierung und Freiheit aushöhlen. Ihre Kritik ist eine Aufforderung zur Rückgewinnung demokratischer Urteilskraft in Zeiten der Krise und zur politischen Rehabilitierung einer Linken, die sich ihrer ureigensten Funktion als Gegengewicht zur Macht wieder bewusst werden muss.
Neben den sozioökonomischen Analysen von Green und Fazi (2023), den juristischen Kritiken von Hennette Vauchez (2022) und der politisch-soziologischen Untersuchung von Laurent Mucchielli (2022a und b) zählt Muriel Blaives Studie inzwischen zu den Werken, an denen keine seriöse Auseinandersetzung mit der Pandemie vorbeikommt.
Literatur:
- Agamben, Giorgio. 1997. Homo sacer. Le pouvoir souverain et la vie nue. Paris: Seuil.
- Agamben, Giorgio. 2020. Ausnahmezustand: Homo sacer II.I. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Blaive, Muriel. 2025. Pandemic power: The Covid response and the erosion of democracy – A liberal critique. Central European University Press.
- Brown, Wendy. 2015. Undoing the Demos : Neoliberalism’s Stealth Revolution. New York: Zone Books.
- Foucault, Michel. 2004. Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France (1978-1979). Paris: Gallimard.
- Green, Toby, et Thomas Fazi. 2023. The Covid Consensus: The Global Assault on Democracy and the Poor: A Critique from the Left. London: Hurst & Company.
- Hennette Vauchez, Stéphanie. 2022. La Démocratie en état d’urgence : Quand l’exception devient permanente. Paris: Éditions du Seuil.
- Mucchielli, Laurent. 2022a. La Doxa du Covid : Tome 1: Peur, santé, corruption et démocratie. Bastia: Éoliennes.
- Mucchielli, Laurent. 2022b. La Doxa du Covid – Tome 2 : Enquête sur la gestion politico-sanitaire de la crise du Covid. Bastia: Éoliennes
Treffende Analyse 👍👍