Entfesselt! – Eine Diskursgeschichte des Impfens (2v3)

ein Beitrag von Katja Leyhausen

Lesedauer 9 Minuten

1bis19 - Entfesselt! - Eine Diskursgeschichte des Impfens (2v3)
Anleitung für das Landvolk auf seine Gesundheit (1766) von Samuel Auguste Tissot

Teil 2v3: Die aufgeklärte französische Öffentlichkeit und der Impfdiskurs im 18. Jahrhundert

Inokulation und vaccination

Die geschichtliche Analyse der biopolitisch-technologischen Entfesselung beginnt – weil jede Geschichte irgendwo beginnen muss – mit dem klassischen medizinhistorischen Gegenstand des Impfens (85). Hier kann man sich einmal in die Zeit gefährlicher Seuchen hineindenken: in die Zeit der Pockenepidemien, wo die meisten Menschen entweder starben oder schwere körperliche Schäden zurückbehielten – das Augenlicht, das Gehör oder den Verstand verloren oder alles zugleich (32). Dabei hießen die ersten Impfungen auf Französisch (und Englisch) seit 1720 allerdings nicht vaccinations, sondern inoculations: Man nahm den Eiter eines Pockenerkrankten und infizierte damit einen Gesunden, den man dafür extra verletzte, z.T., je nach Befähigung des Arztes, schwer. Schwere Erkrankungen – nicht nur aufgrund einer Pockeninfektion, sondern auch wegen der Verletzungen – waren die Folge. Auch Epidemien wurden durch diese Impfungen ausgelöst, weil sie Ansteckungen nicht verhinderten, besonders in den Städten, wie vermutlich 1799 in Paris (88; 332). Inokulationen galten deshalb lange Zeit als Privileg der geräumigen Adelspaläste und Bürgervillen. Erst später (1796 bis 1798) wurde entdeckt, dass eine Kuhpocken-Infektion das Risiko, (nach der Inokulation oder während eines Ausbruchs) an den eigentlichen Pocken zu erkranken, senken konnte. So entstand die vaccination (nach lat. vaca und analog zu französisch vache = Kuh): Man impfte zuerst mit dem schwächeren Kuhpocken-Erreger (der vaccination), dann mit dem Pockensekret.

Das Dispositiv des Risikos

Das wichtigste Dispositiv am Beginn der modernen Impf- und Technikgeschichte war die mathematische Risikoberechnung (43). Schon damals meinte die Öffentlichkeit: Nicht die Methode der Inokulation (oder später die vaccination) bedeutete eine Revolution, sondern das Risikodenken. Das Wort Risiko kommt aus dem Arabischen (Fressoz zufolge mit der Bedeutung: was Gott dem Menschen zuteilt) und wurde zuerst von den Pisaner und Genueser Kaufleuten verwendet, um ihr Geschäft (des bloßen Weiterverkaufs von Waren) zu kalkulieren, zu versichern sowie moralisch und theologisch zu rechtfertigen (31-33). Als 1721 in der Hafenstadt Boston in Neuengland eine Pockenepidemie ausbrach, wurde die Inokulation mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung propagiert. Strenge Quarantäne, Isolation und Überwachung drohten solchen Hafenstädten damals, sobald ein Schiff einen Krankheitsausbruch mitgebracht hatte (36-38). Hier erschienen die Inokulationen als großes Versprechen, und man begann zu rechnen. Sogar die Priester schoben in ihren Predigten Zahlen hin und her. Tote und Erkrankte wurden gezählt, die Sterblichkeit wurde abgeschätzt und gegen die der Inokulation aufgerechnet (1:9 vs. 1:48, hieß es damals). Solche Berechnungen verbreiteten sich von hier aus bis nach London, wo die Krankheit allerdings endemisch war und man deshalb nicht so gut zählen und predigen konnte (35; 38 f.).

Die rationale Erkenntnis der göttlichen Ordnung

Auch die Legitimation der mathematischen Risikoberechnung wurde von Theologen übernommen. Es galt das Muster des noch aus dem Mittelalter überkommenen Ordo-Denkens, dem zufolge Gott die Natur nach seiner Vernunft gestaltet und überall Zeichen zur Erkenntnis dieser vernünftigen Ordnung hinterlegt hat (43). Diese göttliche Ordnung (ordo naturalis) zu erkennen oblag denen, die die Zeichen zu lesen imstande waren – eine Wissenschaft, die über das ganze Mittelalter hinweg ohne theologische Kenntnisse unmöglich war und deren Nachwirkungen sich (bspw. mit der barocken Emblematik) weit bis in die Neuzeit erstreckte.

Im neuen Zeitalter des Rationalismus nun meinten die Geistlichen, es seien die Gesetze der Logik, Mathematik und Wahrscheinlichkeit, die dem Menschen die göttliche Ordnung der Natur offenbarten. Nur in der Zeit vor dem Sündenfall sei die Wahrheit Gottes “ins Herz der Menschen eingeschrieben” gewesen. Deshalb müsse man von der inneren Spontaneität des religiösen Gefühls absehen und sich der äußeren göttlichen, rational erkennbaren Macht unterwerfen. Es hieß: Nur “wer vernünftig lebt, lebt gottgefällig” (36).

Samuel Tissot, ein ehrgeiziger junger Arzt aus dem reformierten Lausanne, argumentierte 1754 in einer Inokulations-Rechtfertigungsschrift (L’Inoculation justifiée) ebenfalls theologisch: Gott habe dem Menschen das Leben nicht als Gabe geschenkt. Er habe es ihm wie ein finanzielles Depot anvertraut, damit er es als Buchhalter (comptable) so gut wie möglich verwalten und bewahren möge. Aus religiöser Pflicht also und im Sinne der göttlichen Vorsehung müsse sich der Mensch der Wahrscheinlichkeitsrechnung unterwerfen. Sie zeige ihm den göttlichen Willen – und am Ende wird, ganz wörtlich, abgerechnet (37; 40).

Die theologisch-religiöse Verstrickung ging noch weiter: Damals begann man,die Laster von Völlerei, Müßiggang, Ausschweifung usw. zum Thema der Medizin zu machen. Diese religiösen Untugenden und moralischen Schwächen wurden zu körperlichen Fehlern umgedeutet. Als Tissot 1760 sein medizinisches Traktat über die Masturbation veröffentlichte (L’Onanisme), stellte er fest: Es ist viel einfacher, die Menschen von ihren Lastern wegzubekommen, wenn man ihnen Angst macht vor einem wahrscheinlichen Leiden, das ihnen kurz bevorsteht (nicht erst in der Hölle), als durch eine theologische, prinzipiengeleitete Argumentation. Die instrumentelle Vernunft der Optimierung des menschlichen Lebens wurde zur göttlichen Weisheit erklärt. Damit wendeten sich die Rationalisten und rationalistisch orientierten Theologen gegen alle traditionellen christlichen Werte; sie spalteten die religiöse Gemeinschaft (41-43).

Eine gesellschaftliche und politische Revolution

Eine durchschlagende gesellschaftliche Revolution wurde allerdings durch den Aufsehen erregenden Vortrag von Charles Marie de la Condamine am 24. April 1754 vor der Académie des Sciences in Paris ausgelöst: Der Vermessungsingenieur sprach sich hier kämpferisch für die Inokulation aus. Politisch und gesellschaftlich revolutionär war der Vortrag,

  • weil er zeigte, wie staatliche Autoritäten das Risikodenken zu ihren Zwecken benutzen konnten bzw. was sie tun mussten, um die medizinische Fakultät bei Entscheidungen über Gesundheit, Krankheitsbekämpfung und Arzneimittel zu umgehen. Bis dahin hatten die Ärzte das Monopol darauf, angemessene Heilmethoden festzulegen. Condamine war kein Arzt; die Ärzte wiesen seine Einmischung in Fragen der Medizin und Gesundheit zurück. Hier nun antwortete er ihnen: Es gehe bei der Inokulation ausschließlich um eine Frage der Wahrscheinlichkeits- und Risikoberechnung, eine Frage der Mathematik also, bei der die Ärzte eher Verwirrung stifteten als etwas beitrügen, während er selbst sie zweifelsfrei beherrsche. Er ließ nur seine Expertise gelten. Dabei ist zu beachten: Condamine war ein französischer Alexander von Humboldt. Soeben war er von einer Vermessungsexkursion nach Südamerika zurückgekommen, aus dieser exotischen und gefährlichen Weltgegend. Seinen Zeitgenossen galt er als Held der präzisen Erkenntnis (44 f.).
  • Außerdem konnte (aus der staatlichen Sicht) mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Öffentlichkeit als Richter über die Inokulation aufgerufen werden, selbst wenn sie keine Ahnung von dem medizinischen Eingriff hatte. Staatliche Institutionen bekamen dadurch einen weiteren Hebel, die Mediziner zu marginalisieren (45).
  • Zudem konnte die staatliche Gewalt die Öffentlichkeit ab sofort in zwei Gruppen aufteilen: in diejenigen, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung nachvollziehen konnten (bzw. wollten), die deshalb als urteilsfähig galten, und in die anderen, die keine Schulbildung hatten bzw. keine mathematische Einsicht zeigten, einschließlich der Mütter, denen man die Urteilsfähigkeit rundweg absprach (46).
  • Schließlich diente die Vermessung von Risiko und Zufall ab sofort dazu, die Debatte von “zu viel” moralischer und theologischer Reflexion “zu reinigen”, sie also – mit dem Verweis auf Rationalität und Vernunft – gänzlich zu beenden. Man solle aus einer Wahrscheinlichkeitsfrage keine Gewissensfrage machen, meinte Condamine. Das befreie Menschen von ethischen Entscheidungsproblemen. Nach der Berechnung könne sich jeder Vater (!) vernünftigerweise nur noch auf eine Seite schlagen. Condamines politische Schlussfolgerung war radikal: Die Risikoberechnung führe zu einer Gesellschaft von Menschen, die sich frei und vernünftig für das Richtige entscheiden und überflüssige Debatten vermeiden, die ja doch nichts bringen, weil sie endlos sind, widersprüchlich, unlösbar … (50 f.).

Scheitern durch Aufklärung

So leicht allerdings war gegen die Traditionen von Moral und Glauben nicht anzukommen. Der Vortrag Condamines löste eine heftige öffentliche Debatte aus (46). Um die gleiche Zeit – um 1760 herum – kam nämlich in Paris der Sensualismus in Mode, dem zufolge Moral und moralisches Handeln nicht von der Vernunft herkommen, sondern vom menschlichen Gefühl. Für die europäische Aufklärung war diese Strömung von Sensualismus und Empfindsamkeit allgemein von großer Bedeutung, und für die Inokulationen war sie es, weil es bei ihnen vorwiegend um Kinder und Familien ging. Der Philosoph und Mitherausgeber der renommierten Encyclopédie – Flaggschiff der französischen Aufklärung – d’Alembert meinte, Gefühle und Moral seien viel komplexer, als Condamine das mit seinen Risikoabwägungen (pèse-risques) zugab (67 f.):

  • Eltern haben Angst vor der Reue. Das Risiko, das eigene Kind durch die Inokulation zu töten, hat andere moralische Konsequenzen, als das Risiko, es durch eine Erkrankung zu verlieren. Von Mme Rolland, die während der Französischen Revolution einen berühmten politischen Salon führte und 1793 guillotiniert wurde, ist überliefert: “Lieber soll die Natur mein Kind töten, als dass ich es tue” (68).
  • Vom Gefühl her wird immer die Gegenwart bevorzugt. Es gibt keine Möglichkeit des Vergleichs einer nahen Bedrohung mit all denen, auf die man im Laufe des Lebens später irgendwann vielleicht noch trifft. Ihre Entfernung in der Zukunft macht sie für das Gefühl unsicher (incertain) und den Blick darauf milde (adoucit la vue; 69).
  • Außerdem muss man die unterschiedliche Risikoexposition unterschiedlicher Personen berücksichtigen: Ein Bergarbeiter hat in seinem Leben andere Risiken als ein Adliger. Für ihn lohnt sich das Risiko der Inokulation viel weniger, während die Adligen mit ihrem komfortablen Leben selbstverständlich für die Inokulation sind (69).
  • D’Alembert sah den Unterschied zwischen dem Interesse des Staates und dem des Einzelnen: Die nach der Wahrscheinlichkeit gewonnenen Leben zählen nur aus Sicht des Staates, für den ein Leben so gut oder schlecht ist, wie das andere (69).

D’Alembert zeigte also, dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung ungeeignet ist, eine allgemeine Überzeugung pro Impfung herzustellen und die Einstellung dazu zu standardisieren. Jeder einzelne, so meinte er, wird das Risiko für sich anders berechnen, je nach Alter, Familienzusammenhang, Lebenssituation, Denkgewohnheiten, individuellem Gefühl … Es wird wohl nicht zwei Menschen geben, die die gleiche Risikobewertung für sich vornehmen (70).

Impftagebücher im Salon als Instrument der kritischen Öffentlichkeit

Condamine hatte damals viele und mächtige Gegner. Die schnöde Wahrscheinlichkeitsrechnung etwa auf den König anzuwenden, das war für viele skandalös, weil sich der ja mit niemandem vergleichen ließ. Außerdem war das Misstrauen gegenüber den Berechnungen groß; die propagandistische Absicht war zu offensichtlich. Bekannt war bspw., dass man sich fürs Inokulieren gesunde Menschen aussuchte, dass aber die Epidemien, mit deren Todesraten die Impferfolge verglichen wurden, unter einer Gesamtbevölkerung mit schwacher Gesundheit wüteten. Bekannt war auch, dass es unter den Pockenerregern verschiedene Varianten gab: einerseits gutartige, die nicht einmal Narben zurückließen, und andererseits eine große Bandbreite hin zu schweren, absolut tödlichen Formen. Da wollten sogar diejenigen, die zu dem Eingriff bereit waren, wissen, mit welcher Variante sie inokuliert werden würden. Gefragt waren Erfahrungsberichte (ce type de savoirs) aus dem eigenen, vertrauten sozialen Umfeld (71-73).

So entstand die Textsorte der sogenannten Impftagebücher/journaux d’inoculation als neues Wahrheitsmedium der kritischen Öffentlichkeit (73 ff.). Sie entstand im Kontext der damals florierenden Schriftkultur und mondänen Geselligkeit in den französischen Salons. Konversation, Tagebuch- und Briefeschreiben hatten durch die neue Kultur der Empfindsamkeit einen Aufschwung genommen, denn die empfindsamen höflichen Umgangsformen (bienséances) erforderten eine nahe Anteilnahme am Befinden der anderen. Briefe wurden hin- und hergeschickt und im Salon laut vorgelesen. Sogar bei wenig vertrautem Umgang stattete man sich aus Anstand gegenseitig zahlreiche Besuche ab – und zwar gerne bei frisch Inokulierten. Freunde wachten Stunde um Stunde über den Gesundheitszustand der Behandelten und hielten ihn im Impftagebuch fest. Diese Tagebücher, Besuche, Briefe waren eine effiziente Methode der Evaluation und Aufklärung – nicht akademisiert und zentralisiert, sondern auf viele verteilt und bodenständig (un regard non pas centralisé et médicalisé, mais profane et distribué, 76 f.).

Ein breit gespanntes Wissensnetz über die tatsächlichen Inokulations-Komplikationen kam auf diese Weise zustande. Wichtig war, dass diese Berichte von der medizinischen Fakultät breit berücksichtigt wurden. Die Pariser Salon-Öffentlichkeit genoss bei den Ärzten eine uneingeschränkte medizinische Autorität. Deren akademische Expertise entstand also nicht in überheblicher Abgrenzung, sondern durch Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Erfahrung. Die Mediziner befragten ihre Inokulierten; aktiv konsultierten sie die Tagebücher und Briefwechsel. Umgekehrt waren die Betroffenen nicht passiv, sondern ergriffen selbst die Initiative zur Beurteilung der Behandlung, die sie (in vielfachem Sinne) bezahlten: Sie holten Informationen ein, sie diskutierten, sie redigierten ihre Berichte und kümmerten sich um ihre Publikation in den Zeitschriften. (Die Ärzte hatten damals noch keine eigenen Fachzeitschriften; Fachvertreter und Öffentlichkeit trafen in den allgemeinen Periodika noch direkt aufeinander.) Sie überwachten den Verlauf der Behandlung, sie schickten bei Zwischenfällen nach dem Arzt, sie veranlassten Autopsien … Diese Pariser Öffentlichkeit, so resümiert der Diskurshistoriker, war eine rege und erfolgreiche Gesellschaftsform (une sociabilité très riche), die bewirkte, dass es damals recht klare Vorstellungen von den Gefahren der Inokulation gab – weit entfernt von den abstrakten Risikoberechnungen (77 f.).

Eine Medizin der menschlichen Optimierung wird eingerichtet

Allerdings entstand auch, als Ergebnis der heftigen öffentlichen Debatte, in den 1760er Jahren, im medizinischen Diskurs ein unübersichtliches Durcheinander. Eigentlich hatten sich die Ärzte darauf verständigt, dass die Pocken ansteckend und keine Krankheit aus angeborener Anlage sind. Diese Einsicht nahmen die Impfpropagandisten nun zurück: Wer durch die Inokulation verstarb, von dem sagten sie, er habe eben die individuelle Veranlagung dazu gehabt – an der der Geschädigte sowieso früher oder später gestorben wäre. Diese hinkende Argumentation wurde, weil sie praktisch war, gern genommen, aber die Diskussion wurde immer verfahrener:

Normalerweise unterschieden die Ärzte zwischen “Heilbehandlungen” für die Gesundung Kranker, die auch, wie es hieß, gegen die Natur/contre nature sein durften (wie der Aderlass bspw.), und “hygienischen Behandlungen” Gesunder, die nicht gegen die Natur sein durften (Diäten z.B.). Die Inokulation nun war als vorbeugende, “hygienische Behandlung” Gesunder eindeutig gegen die Natur. Es wurde also nichts weniger als ein ganz neues Verständnis der Medizin etabliert: die Medizin einer Transformation und Optimierung des menschlichen Körpers, mit Behandlungen, die überhaupt kein therapeutisches Ziel beim Behandelten hatten und die damals experimentell waren (47-49).

In diesem neuen diskursiven Durcheinander entstanden weitere Dispositive der technologischen Entfesselung. Das Risikodenken als solches war durch Aufklärung der Öffentlichkeit moralisch und praktisch (auch juristisch) gescheitert. Die Inokulationen mussten daher, im Sinne ihrer Befürworter, noch einmal ganz neu definiert und positiv aufgeladen werden. Dafür bot das 1796/1798 entdeckte Kuhpocken-Vakzin die passende Gelegenheit (83). Man tat alles, damit sich der Ruf verbreite, es sei nicht ansteckend und absolut gutartig. Dabei griffen ab 1800 nackte (staatliche) Gewalt und die Gewalt der freundlichen Oberfläche (pouvoir nu und pouvoir doux) eng ineinander (88).

Gewaltsame Unterwerfung menschlichen Lebens unter die Gesetze des Zufalls

Nackte Gewalt wurde zuerst – noch im 18. Jahrhundert – in der Privatwirtschaft praktiziert, später auch in der staatlichen Politik. 1723 ist die Bezahlung eines Inokulators durch die Royal African Company belegt. Der Sklavenhandel in ihren Kontoren (comptoirs négriers) sollte profitabler und flüssiger werden. Durch effektive Krankheitsvorbeugung sollte die Ware wertvoller, die Überfahrt sicherer werden. Hindernisse wie die Quarantäne von Infizierten sollten vermieden werden. Im Jahre 1756, als es in Paris nur wenige Inokulierte gab, wurden in der französischen Kolonie Maurice et Réunion 400 Sklaven der Inokulation unterzogen. Das probabilistische Kalkül wurde dabei ohne Umschweife angewandt: Ein Vertrag ist überliefert, dem zufolge der Arzt für jeden inokulierten Sklaven (pro Kopf) 20 Francs bekommt, und wenn einer davon stirbt, dann zahlt er 1000 Francs zurück (69 f.).

Seit den 1760er Jahren wurde die Wahrscheinlichkeitsrechnung und Unterwerfung des individuellen Lebens unter die Gesetze des Zufalls (mise en probabilité de la vie, 33) auch als Mittel des biopouvoir betrachtet. Mit dem Siebenjährigen Kriegkam das staatstragende Bevölkerungsargument für die Inokulation hinzu: Der Krieg brauche Männer, die Bevölkerung müsse optimiert werden, die Inokulation sei eine nationale Pflicht. Dazu wurde 1760 (von Daniel Bernoulli) die erste mathematische Modellrechnung veröffentlicht, die besagte, wie viele Menschen (mit welchem Altersanteil) dem König mehr zur Verfügung ständen, wenn alle Neugeboren inokuliert würden. Zwar würde durch die Prozedur die Bevölkerung kurzfristig minimiert werden, denn 1 von 200 Neugeborenen würde dabei sterben. Aber das rentiere sich langfristig. Denn es würden nur die unnützen (weil physisch nicht robusten) Babies sterben (les enfants inutiles à la société). Und die positiven Aspekte zeigten sich dann später, im gebärfähigen Alter der Inokulierten: Unter den später 25-Jährigen könnten, berechnet auf eine Kohorte von 1 300 Kindern, 79, 3 gerettet werden, die folglich zusätzlich fürs Zeugen und Gebären da wären. Die Aufmerksamkeit des regierenden Fürsten habe sich auf dieses Alter der Ernte (l’âge de la récolte) in der Gesamtheit zu richten, damit er schließlich über genügend Soldaten, Arbeiter und Gebärende verfügen könne (55 f.). Solche Berechnungen wurden, nach der Französischen Revolution, zur Grundlage gewaltsamer Impfexperimente an Waisenkindern.

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