Die Dividende des Sterbens: Luxemburg rüstet auf

von Thierry Simonelli

Lesedauer 6 Minuten
Luxemburg rüstet auf – KI generiert

General Steve Thull, Chef des Generalstabs der luxemburgischen Armee, erklärte Ende Mai 2025 in einem Interview der Online-Zeitschrift Reporter: Wer sich zum Dienst in der Armee entscheide, müsse sich darüber im Klaren sein, dass er einem höheren Ziel diene. Das heißt, so der General in einer rhetorischen Mischung aus Ober-Exerziermeister und Fußballnationaltrainer, „dass man sein Leben geben muss, um Frieden und Demokratie zu verteidigen. Darum geht es. Das ist absolut nobel und das verlangt einem alles ab“ (Reporter, 28. Mai 2025). Mit diesen Worten übersetzt General Thull, der auch ehemaliger Vertreter Luxemburgs im NATO-Komitee für Konsultation, Führung und Kontrolle ist, in unmissverständlicher Sprache, was die luxemburgische Verteidigungsministerin Yuriko Backes noch im April dieses Jahres politisch vorsichtiger formulierte: „Ich muss dafür sorgen, dass wir [Luxemburger] für einen Krieg bereit sind“ (Virgule, 3. April 2025).

Der edle Tod der eigenen Leute

Mit knapp 900 Soldaten, darunter 60 Berufsmusikern, präsentiert sich die luxemburgische Armee als kompakte und klangstarke Verteidigungstruppe, ausgestattet mit einer Flotte aus 40 Humvees, 50 Dingo-Transportfahrzeugen und über 20 Volkswagen Amaroks. Trotzdem zitiert General Thull illusionslos die übliche Kritik an der Luxemburger Armee: „Ihr Luxemburger seid so klein, ihr werdet sowieso nichts ändern. Ob ihr alle Superhelden seid oder nicht, ändert hinter dem Komma überhaupt nichts“ (Reporter, 28. Mai 2025).So viel militärischer Realismus muss sein. Wozu also aufrüsten?

Während sich die politischen Verantwortungsträger in der Kunst üben, NATO-Vokabular in demokratische Gemeinplätze zu übersetzen und dabei die verheißungsvollen ökonomischen Aussichten des militärischen „Dual Use“ für den Finanzplatz zu betonen, bringt der General das Wesentliche auf eine ernüchternde Formel: Der Daseinszweck der Armee besteht darin, den Tod zu organisieren, besonders den noblen Tod der eigenen Leute. „Jeder Soldat [leistet] der Gesellschaft eine wertvolle Hilfe […] und [ist] bereit, im Ernstfall sein Leben zu geben, damit wir hier weiterhin so leben können, wie wir das tun“ (ebd.). Die militärische Verteidigung unserer „Werte“ – Frieden, Demokratie und westlicher Lebensstil – beruht auf dem Opfer menschlichen Lebens.

Der General führt weiter aus: „Militärlogik ist total einfach“ (ebd.). Hinter der Strategie liegt das alte moralische Narrativ des Opferganges. Wenn die Luxemburger Soldaten schon nicht siegreich sein können, so können sie doch ehrenvoll sterben. Für die Solidarität. Der bürgerliche Soldat wird zur idealen Figur der Hingabe an die Nation. Denn nur durch das Opfer kann sich Luxemburg in die Wertegemeinschaft der NATO einreihen.

Diese Rhetorik erinnert an die gefährlichsten politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, in denen das Sterben für eine übergeordnete Sache – für Nation, Volk, Zivilisation – als höchste Tugend galt. Hinter der Verklärung des „edlen Opfers“ verbirgt sich eine Todesmystik, die sich der „Werte“ als Deckmantel bedient. Der Soldat wird zur erlösenden Figur, die durch Selbstverleugnung exemplarische Bürgertugend demonstriert.

Was in der rituellen Beschwörung dieses „noblen Opfers“ auch gern vergessen wird, ist, dass der Tod im Krieg selten nur jene trifft, die bereitwillig für ihn einstehen. Die Opferstatistik moderner Konflikte zeigt eine systematische Aushöhlung des humanitären Völkerrechts, das eigentlich den Schutz von Nichtkombattanten garantieren soll. So lag der Anteil ziviler Opfer im Korea-Krieg bei 74 %, in Vietnam bei 46 %, im ersten Golfkrieg bei 87 %, in den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien zwischen 52 und 56 % und im Irakkrieg bei 66 % (Khorram-Manesh et al., S. 5). Der Krieg für Demokratie und den Lebensstil fordert also zuallererst das Leben derer, die weder darüber abgestimmt noch daran verdient haben.

Abschreckung nach NATO-Plan

Wozu also dient die Militarisierung Luxemburgs? Zur Abschreckung, gemäß dem alten Rezept des „peace through deterrence“ aus der Zeit des Kalten Krieges. Die Logik der organisierten Drohung ist denkbar einfach: Zuerst wird der Bedarf an Abschreckungsmitteln ermittelt, dann erfolgt die Verteilung der Zuständigkeiten durch die NATO-Führung an die Mitgliedstaaten: „Wenn die Analyse gemacht wurde, wird das aufgeteilt auf die verschiedenen Länder, und so bekommen auch wir unsere Ziele. Und dann müssen wir dem gerecht werden. Und diese Kapazitäten haben einen Preis und der ist ausgerechnet worden“ (Reporter, 28. Mai 2025).

Die NATO bestimmt also nicht nur die sicherheitspolitische Richtung, sondern kalkuliert gleich mit, wieviel die nationale Haushaltsplanung künftig kosten soll. Die Entscheidung über das Staatsbudget wird zur nachgeordneten Vollzugsfrage eines überstaatlichen Aufrüstungsplans. Der politische Souverän darf sich darauf beschränken, die Rechnung zu begleichen. Sobald die NATO-Marschrichtung festgelegt ist, wird das Fragen eingestellt. Demokratische Einwände, öffentliche Debatten oder parlamentarische Einlassungen gelten in dieser Logik als Störfaktoren. Auch die Politik wird ihrer deliberativen Funktion enthoben und auf eine exekutive Rolle reduziert. Sie hat die notwendigen Mittel bereitzustellen und die Bevölkerung auf Kurs zu bringen. Militärisch gefasste Entscheidungen verlangen politische Gefolgschaft, keine Diskussionsrunden.

Die liberale luxemburgische Verteidigungsministerin erfüllt diese Aufgabe mit musterhafter Disziplin und karrieristischem Eifer. Sie bringt das umfassendste Rüstungsprogramm der Landesgeschichte auf den Weg (Tageblatt, 8. Mai 2024) und wiederholt dabei in nahezu liturgischer Regelmäßigkeit die zentrale Botschaft an die Wirtschaft: Die militärischen Investitionen von heute garantieren den ökonomischen Wohlstand von morgen – erst nach einer kurzen Phase fiskalischer Enthaltsamkeit selbstverständlich, die zum Beispiel mit der schrittweisen Verschiebung des Renteneintrittsalters beginnt.

Was dann noch öffentlich als partizipativer Diskurs durchgehen darf, reduziert sich in der politischen Philosophie des Generals und seiner folgsamen Ministerin auf die wiederholte Einsicht, „dass der Frieden die Grundbasis für alle weiteren Bedürfnisse ist“ und dass „Sinn und Zweck der Armee die Friedenssicherung“ sei. Die Tonlage ist klar: Nicht die Ministerin setzt die Akzente, sondern der General diktiert die Partitur. Die Politik begleitet brav im Marschtakt.

Frieden als Grundlage für alles andere: Diese scheinbar selbstverständliche Prämisse fungiert als Legitimationsformel für die politische Disziplinierung nach innen. Krieg ist nicht mehr politisch, strategisch oder ökonomisch bedingt; er wird als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens sakralisiert. Außenpolitik beginnt in diesem Paradigma mit der Formung des inneren Raums. Wer den Frieden sichern will, muss die nationale Geschlossenheit durch Kontrolle, Mobilisierung und Ausgrenzung abweichender Positionen herstellen.

Frieden durch Androhung von Krieg

Wenn sich die Politik dem Jargon der Generäle anvertraut, wird sie zur freiwilligen Echokammer der Mobilmachung. Die luxemburgische Verteidigungsministerin pflegt es gern zu wiederholen: „Wer den Frieden will, muss auf den Krieg vorbereitet sein“ (Tageblatt, ebd.). Es ist das militaristische Klischee von Frieden durch Androhung von Krieg. Pax armata, der bewaffnete Frieden – diese Logik wurde im Kalten Krieg zur Doktrin der „Abschreckung“ veredelt und kehrt heute im Gewand der „strategischen Resilienz“ wieder.

Es handelt sich um ein Paradox: Die Nato-Strategie „deterrence and defence“ (NATO, 2022) behauptet, Feindschaft zu verhindern, indem sie sie institutionell voraussetzt und fortwährend simuliert. Denn eine Politik, die auf Abschreckung baut, muss den Gegner stets mitdenken, ihn konstruieren und aufrechterhalten als Bedrohung, als Gegenspieler, als moralisch und existenziell Anderen. Der „Frieden“ solcher Art wird nicht durch Vertrauen, Verständigung oder gemeinsame Sicherheit getragen, sondern durch die permanente Bereitschaft und Androhung der Gewalt. Nicht der Frieden überwindet Konflikt und Gewalt, sondern Krieg schafft Frieden.

Dieses scheinbare Friedensdenken gründet also nicht auf gegenseitiger Anerkennung, sondern institutionalisiert das Gleichgewicht des Schreckens. Kriegsvorbereitung ist keine Vorsorge, sondern eine Kriegskonstruktion. Sie verlangt eine Kriegswirtschaft und verhindert damit jene Art von Frieden, die auf Entmilitarisierung, Gerechtigkeit und Dialog beruht. Wer den bewaffneten Frieden vorbereitet, bereitet in Wahrheit den Krieg vor.

Ausnahmezustand als neue Regierungsform ist die größte Gefahr

Was General Thull beschreibt, ist die militarisierte Variante jener Transformation moderner Demokratien, die der italienische Philosoph Giorgio Agamben seit mehreren Jahren als permanenten Ausnahmezustand analysiert. Einst als temporäre Reaktion auf Notlagen gedacht, wird der Ausnahmezustand in dieser Regierungsform zur dauerhaften Politik. Die Exekutive suspendiert rechtliche Normen unter Berufung auf die Notlage und wahrt damit gleichzeitig den Anschein konstitutioneller Ordnung.

Agamben zeigt, dass sich nicht nur Diktaturen, sondern auch liberale Demokratien diese Logik aneignen. Finanzkrisen, Sicherheitspolitik, Gesundheitsregime und Antiterrorgesetze dienen der Vorbereitung auf einen Dauerkriegszustand. In La Guerre civile. Pour une théorie politique de la stasis (Agamben, 2015) beschreibt Agamben den Wandel der Regierungstechniken, in denen Sicherheit nicht mehr das Ziel, sondern das Mittel ist, um Kontrolle auszuüben. Moderne Staaten nutzen das ständige Bedrohungsszenario als Vorwand, um Bevölkerung wie Militär zu mobilisieren. Sicherheitspolitik wird so zu einer Dauerorganisation, in der demokratische Debatten schwinden und politische Macht in der Exekutiven zentralisiert wird.

Begriffe wie „innere“ oder „äußere Feinde“ und „Kriegsrecht“ gegen bestimmte Gruppen bewirken auch nach Innen ein Verschmelzen von permanenter Polizeipräsenz und staatlicher Ausspähung mit ziviler Verwaltung. Politisches Handeln wird immer weniger zivil geführt, sondern nach militärischem Denken strukturiert.

Die Strategie der Militarisierung führt somit weder innen- noch außenpolitisch zur Verteidigung der friedlichen Demokratie; sie führt zu ihrer Suspension. Sie errichtet keine Festung der Werte, sondern ein Bollwerk gegen demokratische Teilhabe. Die größte Gefahr liegt nicht in der äußeren Bedrohung, sondern in der inneren Preisgabe politischer Vernunft im Namen militärischer Notwendigkeit. Eine Gesellschaft, die sich auf den „edlen Tod“ ihrer Bürger beruft, hat ihre demokratische Substanz bereits geopfert.

Luxemburg hat sich diese Lektion mit dem Eifer des Klassenbesten zu eigen gemacht. Von der atlantischen Bündnistreue über die Rhetorik des Opfers bis zur beispiellosen Aufrüstung folgt das Land mustergültig dem neuen Katechismus der Sicherheitsdoktrin. Was als Ausdruck internationaler Verantwortung verkauft wird, ist in Wahrheit Ausdruck einer kritiklosen Unterwerfung unter die strategische Doktrin eines Militärbündnisses, das nicht zur Verteidigung territorialer Integrität, sondern zur moralischen Aufladung einer Politik dient. Diese erwartet von der Bevölkerung bedingungslosen Konsens, sogar im Hinnehmen der eigenen Entmündigung.

Am anderen Ende der „Dual Use“-Doktrin winken handfeste wirtschaftliche Profite. Sie verspricht nicht nur Verteidigung, sondern Wachstum, Innovation und industrielle Wettbewerbsfähigkeit. Im Schatten der strategischen Parolen blühen die Profite. Nur, dass im Krieg nicht die Politiker sterben, nicht die Lobbyisten, Ministerialbeamten und deren klientelistisches Geflecht. Es sterben jene, für die das Wort „Solidarität“ längst zur zynischen Worthülse verkommen ist. Wer vom Krieg träumt, braucht jedenfalls in Luxemburg vom Kapitalismus nicht zu schweigen.

Literatur

Agamben, Giorgio. 2003. État d’exception (Übersetzung von J. Gayraud). Paris: Seuil.

Agamben, Giorgio. 2015. La Guerre civile: Pour une théorie politique de la stasis (Übersetzung von J. Gayraud). Paris: Points.

Backes, Yuriko / Julien Carette. 2025. Yuriko Backes: «Je dois faire en sorte qu’on soit prêt pour une guerre» https://www.virgule.lu/luxembourg/yuriko-backes-je-dois-faire-en-sorte-qu-on-soit-pret-pour-une-guerre/52359332.html

Basham, Victoria M. 2020. „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor“. Über liberalen Militarismus. Aus Politik und Zeitgeschichte 16‑17. S. 48-52.

Khorram-Manesh, Amir / Frederick M. Burkle / Krzysztof Goniewicz / Yohan Robinson. 2021. Estimating the Number of Civilian Casualties in Modern Armed Conflicts –A Systematic Review. Frontiers in Public Health 9. S. 1-11.

https://www.frontiersin.org/journals/public-health/articles/10.3389/fpubh.2021.765261/full

Kunzmann, Stefan. 8 Mai 2025. Armee / Luxemburg rüstet massiv auf: Rekordinvestition in die Verteidigung. https://www.tageblatt.lu/headlines/luxemburg-ruestet-massiv-auf-rekordinvestition-in-die-verteidigung/

NATO. 2022. NATO Strategic Concept 2022. [Fact Sheet] https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2022/6/pdf/220629-factsheet-strategic-concept-en.pdf

Scholtes, Pit. 2025. Steve Thull im Interview: „Wir haben nicht mehr an Krieg geglaubt“. https://www.reporter.lu/luxemburg-interview-general-steve-thull-wir-haben-nicht-mehr-an-krieg-geglaubt/

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Ein Kommentar

  1. „ Mit knapp 900 Soldaten, darunter 60 Berufsmusikern, präsentiert sich die luxemburgische Armee als kompakte und klangstarke Verteidigungstruppe“. Herrlich, habe sehr gelacht. Ansonsten finde ich es bemerkenswert, wie früh sich Agamben schon mit den Themen beschäftigt hat, die erst 2020 zu voller Blüte gereift sind.

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