von Christian Steidl
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In Deutschland herrscht das Narrativ von der Gewaltenteilung: Legislative (Parlament), Exekutive (Regierung) und Judikative (Justiz) sollen die drei Säulen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bilden – ergänzt durch die Freie Presse als vierte Säule. Auf dem Papier hat das noch nie gestimmt, weil das Justizministerium schon immer Einfluss auf die Richter hatte, z.B. über Beförderungsentscheidungen. Aber es gab früher noch die Grundüberzeugung, dass unabhängige Gerichte wichtig sind und dass man ins Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anerkannte Juristen schickt, die nicht parteipolitisch motiviert sind. Spätestens mit der Wahl des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Stephan Harbarth am 22. November 2018 zum Richter des Bundesverfassungsgerichts hat sich die Politik davon verabschiedet. Während der Corona-Zeit hat das BVerfG vielfach als Bollwerk der Regierung gegen die Bürger agiert. Die Nominierung der SPD-Kandidatinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Ann‑Katrin Kaufhold ging noch einen deutlichen Schritt weiter. Beide Kandidatinnen wollen wesentliche Bestandteile unseres Grundgesetzes durch Umdeutung der Begriffe oder wegen angeblich höherer Ziele antasten: Wenn (nach dem berühmten Merkel-Ausspruch) „Diskussionsorgien“ vermieden werden sollen, dann diskutiert man nicht öffentlich und transparent über eine Änderung des Grundgesetzes, sondern man deutet es einfach – wie schon beim Klimaschutzurteil – um.
Brosius-Gersdorf hat zwar ihre Kandidatur inzwischen zurückgezogen. Aber ein öffentliches Problembewusstsein ist nicht entstanden. Anstatt zu berichten, für welche politischen Ziele die Kandidatin steht, vermittelte der Öffentliche Rundfunk das Bild, sie sei zum Opfer einer „Schmutzkampagne“ geworden. Weil keine Diskussion geführt wurde, soll hier anhand der Aussagen der SPD-Kandidatinnen deutlich herausgestellt werden, wie sie im Schulterschluss mit Grünen und Linkspartei das Grundgesetz angreifen, ohne dass ein wirksamer Widerstand der CDU absehbar ist.
Brosius-Gersdorf: Abtreibung verletzt die Menschenwürde nicht
Stein des Anstoßes für den Protest gegen Frauke Brosius-Gersdorf war ihre radikale Pro-Abtreibungsposition. Dabei ging es nicht nur um ihre Ansicht, dass ein Schwangerschaftsabbruch auch noch im 9. Monat legal sein soll, sondern auch um die Art, wie sie Artikel 1 Absatz 1 unseres Grundgesetzes (GG) verdreht: Sie meint, dass die „Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht verletzt wäre“. Sie argumentiert dabei folgendermaßen: „Mit der Beendigung einer Schwangerschaft durch die Frau ist aber nicht regelhaft ein Unwerturteil über den Embryo/Fetus verbunden. Die Schwangerschaft wird in der Regel nicht beendet, weil der Embryo/Fetus als lebensunwert erachtet wird, sondern weil für die Frau eine Mutterschaft zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar ist.“ Das klingt wie „passt gerade nicht“ oder „Menschenwürde entfällt wegen is nicht“. Gemäß dieser Argumentationslinie könnte jedem die Menschenwürde abgesprochen werden, zum Beispiel, weil er zu viel CO2 ausatmet oder nicht ausreichend Wohnraum vorhanden ist.
Familienpolitische Übergriffe und Förderung des radikalen Islamismus
Außerdem strebt die Aktivistin eine Legalisierung der Leihmutterschaft an, was den Kinderhandel kommerzialisieren würde. Sie will die Abschaffung der Witwenrente und eine Kindergartenpflicht, die dem elterlichen Erziehungsrecht widerspricht (Art. 6 Abs. 2 GG). Zudem will sie das Ehegattensplitting und die kostenlose Krankenmitversicherung für Ehepartner abschaffen sowie durch ein neues Erbrecht die Umverteilung voranbringen.
Außerdem will Brosius-Gersdorf Polygamie und Minderjährigenehen als grundgesetzkonform einstufen. In dem nach ihrem Doktorvater Horst Dreier benannten Grundgesetz-Kommentar, dessen aktuelle Auflage von ihr herausgegeben wird, erklärt sie: „Eine Festlegung des Ehebegriffs auf die Einehe ist durch die Zielsetzung von Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht zwingend.“ Zur Frage, ob Ehepartner volljährig sein müssen, schreibt sie: „Eine Minderjährigenehe ist nur im Einzelfall unvereinbar mit Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz, wenn mit ihr die Beistands- und Verantwortungsfunktion der Ehe nicht erfüllt werden kann.“ Es sieht so aus, als wollten Brosius-Gersdorf und die SPD damit radikale Islamisten als Wähler gewinnen.
Impfpflicht sei verfassungsrechtlich geboten
Eine Impfpflicht verstößt gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) und gegen den Nürnberger Kodex. Aber Brosius-Gersdorf schrieb während der Corona-Zeit in einem zweiseitigen Gutachten zur Impfpflicht Folgendes: „Eine allgemeine Impfpflicht gegen das Covid‑19‑Virus verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Man kann sogar darüber nachdenken, ob mittlerweile eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Einführung einer Impfpflicht besteht. Es ist Aufgabe des Staates, die große Mehrheit der Bevölkerung, die freiwillig geimpft ist, wirksam davor zu schützen, dass ihre Gesundheit, ihre persönliche Freiheit sowie ihre berufliche und wirtschaftliche Existenz weiterhin von Ungeimpften bedroht wird.“
Diese Argumentation ist unlogisch: Wenn die sogenannte “Corona-Impfung“ vor Corona schützen würde, bräuchten die Geimpften keine Angst zu haben vor Corona-kranken Ungeimpften. Frau Brosius-Gersdorf disqualifiziert sich mit diesem Rechtsgutachten für jede intellektuell höherstehende Tätigkeit – nicht nur für ein Richteramt.
Kaufhold: „Alle Macht geht vom Volke aus“ wird zur Farce
Prof. Dr. Ann‑Katrin Kaufhold leitet an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München u. a. die Forschungsgruppe „The Institutional Architecture for a 1.5 °C World“ und forscht dazu, welche Institutionen (Parlamente, Gerichte, Zentralbanken, Finanzmärkte) effektiv zum vermeintlichen Klimaschutz beitragen können. Die LMU zitiert ihre Professorin folgendermaßen: „Ich glaube, der springende Punkt ist, dass wir diese Aufgabe nicht einer einzelnen Institution, einer einzelnen Person oder einem einzelnen Sektor übertragen können. Wenn wir über eine gesamtgesellschaftliche Transformation sprechen, und die braucht es, dann müssen wir an allen Stellschrauben drehen. Und das betrifft Institutionen genauso wie den Einzelnen.“ Das klingt wie „gemeinsam schaffen wir das“. Aber die Justiz ist eines der angesprochenen „Sektoren“ und das BVerfG ist eine der „Institutionen“: Wenn man das in dem Kontext sieht, dass das Bundesverfassungsgericht immer mehr Entscheidungskompetenz an sich zieht (vergl. FAZ-Interview mit der Bundesverfassungsrichterin Gabriele Britz vom 19.2.2023), die eigentlich den gewählten Volksvertretern in den Parlamenten zusteht, dann ist das beängstigend. Wie Britz meint auch Kaufhold, „Gerichte eignen sich zunächst einmal besser, unpopuläre Maßnahmen [im Klimaschutz] anzuordnen.“ Statt mühsam mittels tiefroter Wetterkarten bei ARD und ZDF die breite Volksmasse zur Wahl der Grünen zu nötigen, sollen laut Kaufhold die Gerichte an den Parlamenten vorbei weitreichende Entscheidungen treffen. Es verwundert nicht, dass die Wortwahl von Kaufhold an das Buch „Die große Transformation“ vom ehemaligen Chef des umstrittenen Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab erinnert.
Kaufhold ignoriert Klimawissenschaftler
Ann‑Katrin Kaufhold ist keine Unbekannte. Sie war im Klimaschutzverfahren 2021 vor dem Bundesverfassungsgericht juristisch für den Bundestag tätig. Das Skandalurteil deutete Artikel 20a GG (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) so um, dass er den „Klimaschutz“ als Staatsziel inkludiert. Auf dieser Basis forderte das BVerfG die Verschärfung des Klimaschutzgesetzes von 2019 (Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz vom 24. März 2021 [Aktenzeichen: 1 BvR 2656/18 u. a.]. Der Staat wird damit verpflichtet, den statistischen Mittelwert von Temperatur-, Wind- und Niederschlagsdaten vor zu großer Veränderung zu schützen. Das ist das Ergebnis der Missachtung des Kenntnisstandes der Klimawissenschaft und der Fokussierung auf die „Fachleute“, die die Narrative der Regierung verbreiten (Vergl. „False Alarm: The Rise and Fall of the Carbon Dioxide Theory of Climate Change“ von Rex J. Fleming: https://www.amazon.de/False-Alarm-Rex-Fleming/dp/1951008405). Kaufhold lobt das Urteil ausdrücklich, weil es angeblich langfristig Freiheitsrechte schütze: Würden Klimaschutzmaßnahmen zu lange verschleppt, würden später alternativlose Einschnitte nötig werden, wie z. B. ein Klimalockdown. Das ist die gleiche faktenbefreite Argumentationslogik wie beim Lockdown im November 2020, der dafür sorgen sollte, dass wir am 24. Dezember 2020 wieder ganz normal in der Großfamilie zusammen Weihnachten feiern können. Ein Richter hat die Pflicht, ALLE relevanten Fachleute zu hören und in eine Gerichtsentscheidung einzubeziehen. Wer bei einer vermeintlichen „Pandemie“ nur die Einschätzungen von RKI und WHO berücksichtigt oder bei einem vermeintlichen „Klimanotstand“ nur die Meinungen vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und dem Weltklimarat (engl. IPCC) einholt, verstößt gegen seine Amtspflichten. Solche uninformierten Urteile haben katastrophale Auswirkungen auf die deutsche Industrie sowie auf Wohlstand und Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung.
Ablehnung der Marktwirtschaft und des Rechtes auf Eigentum
Im Rahmen der Diskussion um Green Finance und effektive Klimapolitik weist Ann‑Katrin Kaufhold auf die Rolle des Finanzsektors hin: Sie meint, Finanzmärkte müssten staatlich gesteuert werden, um private Investitionen in klimafreundliche Projekte zu lenken. Ihre Ablehnung der Marktwirtschaft geht so weit, dass sie sich für staatliche Mindestpreise bei Fleisch ausspricht, um CO₂-Emissionen zu senken. Außerdem hebt das Verfassungsziel zum Klimaschutz das Recht der Bürger auf Eigentum (Art. 14 GG) auf. Denn es führt dazu, dass die Bürger ihren Besitz (Ölheizung, Auto mit Verbrennungsmotor, Haus ohne dicke Dämmung …) nicht mehr nutzen dürfen. Schon das ist grundgesetzwidrig. Ann-Katrin Kaufhold geht aber noch weiter; sie will die Verstaatlichung von Wohnungen zulassen.
Kaufhold und Brosius-Gersdorf wollen die AfD verbieten
Beide SPD-Kandidatinnen für das Verfassungsrichteramt wollen die größte Oppositionspartei verbieten. Vermutlich ist diese Haltung der Hauptgrund für ihre Nominierung. Das angestrebte AfD-Verbot bedeutet, dass Bürger, die mit der Abschaffung von Grundrechten und dem Angriff auf die freiheitlich-demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung nicht einverstanden sind, weder durch eine Wahl noch durch die Anrufung von Gerichten eine Chance haben, sich dagegen zu wehren. Das beinhaltet die Gefahr großer gesellschaftlicher Spannungen. Schlimmstenfalls werden manche sich fragen, ob dann Artikel 20 Absatz 4 GG zum Tragen kommt. Dort heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Da beide SPD-Kandidatinnen Jura studiert haben, müssten sie diese Gefahr sehen. Doch das Ziel, die AfD zu verbieten, scheint parteistrategischen Charakter zu haben. Denn ohne die AfD könnte die SPD den Kanzler stellen.Ulrich van Suntum, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, hat das auf X so formuliert: „Es wird immer deutlicher, dass die SPD mit ihren linken Verfassungsgerichts-Kandidatinnen in Wahrheit vor allem das ebenfalls von ihr geforderte AfD-Verbot durchbringen will. Alle AfD-Mandate im Bundestag und in den Landtagen fielen dann sofort weg, und die linken Parteien bräuchten nicht einmal mehr die Union, um gemeinsam zu herrschen. Klingbeil würde Kanzler, und jede Opposition wäre auf Jahre, wenn nicht sogar endgültig ausgeschaltet.“
Es gibt ein Mäßigungsgebot für Richter
Auf das Mäßigungsgebot für Richter hat, anlässlich der damals zuerst vorgesehenen Kandidatin Brosius-Gersdorf, die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Köln Dr. Anke Eilers in einem Leserbrief in der FAZ hingewiesen (Nr. 164 vom 18.07.25, S. 6). Richter müssten „jeden Eindruck einer Voreingenommenheit oder Befangenheit ausschließen“, aber „im Fall von Frau Brosius-Gersdorf“ war das „wohl nicht (mehr) gewährleistet“, so schrieb Dr. Eilers in ihrem Leserbrief, bevor sich die Kandidatin zurückzog. Der Staatstrechtler Dr. habil. Ulrich Vosgerau kommentierte damals auf X, Brosius-Gersdorf habe „sich in zahllosen Rechtsfragen längst in die Befangenheit geredet“.
Sigrid Emmenegger, die aktuelle Ersatzkandidatin, war taktisch klüger; sie hat sich mit „kontroversen Stellungnahmen“ und „steilen Thesen“ zurückgehalten. Die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes (Artikel 79 Absatz 3 GG) besagt: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“. Das gilt auch für eine Umdeutung einiger dieser ersten 20 Artikel des Grundgesetzes, wie sie von den Bundesverfassungsgerichtskandidaten angestrebt werden. Daher ist eine breite gesellschaftliche Debatte dringend notwendig.