ein Beitrag von Eugen Zentner
Lesedauer 5 MinutenDie Demokratie ist in Gefahr. Seit der Corona-Krise wird das besonders deutlich. Der Diskurs geht nur in eine Richtung. Wer von der herrschenden Meinung abweicht und die Regierung kritisiert, muss mit Ausgrenzung, Diffamierung und Zersetzung rechnen. Es wird ein Konformitätsdruck aufgebaut, wie er für autoritäre Gesellschaften typisch ist. Mit ihm verschleifen auch die demokratischen Tugenden. Doch wie sehen diese aus? Wie lassen sie sich begrifflich fassen? Gängige Tugendkataloge helfen da kaum weiter. Während man dort Rittertugenden, christliche oder bürgerliche Tugenden findet, fehlt von demokratischen Tugenden jede Spur. Es wird daher Zeit, sich mit diesem Phänomen näher zu befassen und zumindest einen provisorischen Katalog anzulegen.
Die ursprüngliche Bedeutung von Tugend lautet Tauglichkeit. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man darunter eine erstrebenswerte Eigenschaft. Aus diesen beiden Komponenten lässt sich eine erste Definition formulieren, die bei der Suche nach demokratischen Tugenden behilflich sein kann. Erstrebenswert ist eine Eigenschaft dann, wenn sie dazu taugt, einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen. Sie eignet sich für eine Aufgabe. So dienen beispielsweise die bürgerlichen Tugenden wie Ordentlichkeit, Fleiß oder Pünktlichkeit dazu, den Alltag praktisch zu bewältigen. Aber nicht nur: Im Zeitalter der Aufklärung erwiesen sie sich dem Bürgertum insofern als nützlich, als sich dieses durch jene erstrebenswerten Eigenschaften gegenüber dem Adel kulturell und wirtschaftlich emanzipieren konnte.
Was aber sind erstrebenswerte Eigenschaften in einer Demokratie? Und was ist ihr Zweck? Jede Demokratie lebt von der direkten politischen Beteiligung des Volkes, von dem schließlich alle Staatsgewalt ausgeht – in erster Linie durch Wahlen und Abstimmungen. Nun ist der Demos1 aber kein homogenes Gebilde, sondern besteht aus zahlreichen Individuen mit unterschiedlichen Meinungen und Interessen. Sie alle sollten beim Prozess der Willensbildung miteinander konkurrieren dürfen, weshalb sich eine Demokratie durch Pluralismus auszeichnet. Ausgetragen wird der Wettkampf unterschiedlicher Ideen, Interessen und Meinungen über einen offenen Diskurs. Das setzt aber voraus, dass alle Individuen an ihm teilnehmen können und dass niemand aufgrund anderer Ansichten von ihm ausgeschlossen wird. Das funktioniert aber nur, wenn man gegensätzliche Meinungen achtet und toleriert.
Politische Teilnahme und Skepsis
Aus diesen Rahmenbedingungen lassen sich nun die demokratischen Tugenden ableiten. An erster Stelle steht die aktive politische Teilnahme, die nicht nur Wahlen einschließt, sondern auch ein Engagement in Parteien, Vereinen oder Initiativen. Sie zeigt sich in der Artikulation der eigenen Meinung, in der Kritik am Status quo oder in der Haltung, das öffentliche Leben mitgestalten zu wollen. Politisch aktiv sind Individuen dann, wenn sie nicht ins Private flüchten, sondern sich öffentlich einmischen und den Prozess der Willensbildung beeinflussen. Ihre Mittel sind allein das Wort und Argumente, die sich im Konkurrenzkampf der Meinungen und Ideen bewähren müssen. Jegliche Form von Gewalt, ob physische oder psychische, stellt ein Tabu dar.
Die zweite demokratische Tugend ist die Skepsis gegenüber der Staatsmacht. Denn diese strebt immer nach Absolutheit. Wer die Macht hat, gibt sie nur ungern aus der Hand. Sie ist die Grundlage dafür, dass die eigenen Interessen durchgesetzt werden können. Jegliche Kontrolle setzt ihr Grenzen auf, weshalb die Staatsmacht zu unlauteren Mitteln greifen muss, um als solche zu überleben. Skepsis und Zweifel sind insofern mehr als angebracht. Ansonsten wird die Macht absolut und unangreifbar. Deshalb darf man ihr keine Ruhe geben. Ihre Methoden müssen immer hinterfragt werden, um mögliche Manipulation so früh wie möglich offenzulegen. Skepsis lebt vom Geist der Aufklärung und bildet das Fundament für eine egalitäre Gesellschaft, weil sie eigenständiges Denken fördert, das notwendig ist, um sich von Autoritäten zu lösen.
Achtung und Toleranz
Als dritte demokratische Tugend fungiert die Achtung gegenüber politischen Rivalen und Andersdenkenden. Wer mit ihnen nicht übereinstimmt, muss doch ihr Daseinsrecht akzeptieren. Das geht bereits aus dem ersten Artikel des Grundgesetzes hervor, das die Würde des Menschen an die oberste Stelle setzt. Dort heißt es sogar wörtlich: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das gilt jedoch für alle demokratisch gesinnten Menschen. Solange Rivalen und Andersdenkende sich an die Verfassungsregeln halten, muss ihnen eingeräumt werden, zu existieren, am politischen Konkurrenzkampf zu partizipieren und sich am offenen Diskurs zu beteiligen.
Achtung steht für Respekt und Wertschätzung. Der Begriff enthält somit die Bedeutungskomponente «aktiv», wie die Redewendung «jemandem Achtung entgegenbringen» veranschaulicht. Im Gegensatz dazu akzentuiert Toleranz, die vierte demokratische Tugend, den passiven Aspekt. Der Begriff geht zurück auf das lateinische Wort «tolerare», das mit «ertragen» übersetzt werden kann. Darin schimmert bereits die immense Bedeutung der Toleranz für eine Demokratie durch. Verlässt eine politische Meinung oder Position nicht den verfassungsrechtlichen Rahmen, muss man sie dulden und ertragen, selbst wenn sie bis an die eigene Schmerzgrenze geht. Diese Fähigkeit ist daher die Bedingung dafür, politischen Konkurrenten überhaupt erst Achtung entgegenbringen zu können.
Schutz gegen autoritäres Denken
«Aktive politische Teilnahme», «Skepsis gegenüber der Staatsmacht», «Achtung» und «Toleranz» sind die Tugenden, die in einer Demokratie als erstrebenswert gelten. Sie sind es deswegen, weil sie dazu taugen, einen offenen Diskurs und Pluralismus nicht nur hervorzubringen, sondern auch zu erhalten. Wer sie kultiviert, ist gegen autoritäres Denken gewappnet. Die demokratischen Tugenden bewahren die Mitglieder einer Gesellschaft vor dem Abgleiten in totalitäre Verhältnisse. Sie verhelfen dazu, solche Tendenzen sofort zu erkennen und im Keim zu ersticken.
Wer sich die Situation vor der Corona-Krise vergegenwärtigt, stellt schnell fest, dass die demokratischen Tugenden schon damals ihre Bedeutung lange verloren hatten. Es herrschte eine ausgeprägte Politikverdrossenheit, sodass die aktive politische Teilnahme immer schwächer wurde. Die Skepsis gegenüber der Staatsmacht war ebenfalls nur rudimentär ausgeprägt, weil der Großteil der Bevölkerung in Deutschland der Regierung nahezu blind vertraute und sich Rechtsbrüche nicht vorstellen konnte. Mit dem Aufstieg der sozialen Medien ging zugleich auch die Fähigkeit verloren, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen und sie zu dulden. Facebook, Twitter oder YouTube sorgen – salopp gesagt – für zu viel „Input“, um die Vielzahl an Aussagen und Kommentare zu ertragen. Dazu kommt, dass bei der Kommunikation im virtuellen Raum die Hemmschwelle niedriger liegt. Da lassen es sich politische Konkurrenten und Andersdenkende nicht nehmen, ihre Rivalen persönlich anzugreifen und ihnen das Daseinsrecht abzusprechen. Sie werden nicht geachtet, sondern verachtet.
Demokratische Tugenden müssen gepflegt werden
Im Zuge der Corona-Krise haben zumindest zwei der demokratischen Tugenden eine Renaissance erfahren. Mehr und mehr Menschen begegnen der Regierung mit Skepsis. Die vielen Rechtsbrüche, gebrochenen Versprechen und widersprüchlichen Aussagen geben ihnen gute Gründe, an der Staatsmacht zu zweifeln. Deswegen werden sie politisch zunehmend aktiver. Das drückt sich unter anderem in der verstärkten Teilnahme an Demonstrationen aus, die von Woche zu Woche an Zulauf gewinnen. Es entstehen aber auch neue Parteien, Verbände und Initiativen.
Eine Verschlechterung ist hingegen bei den beiden demokratischen Tugenden «Achtung» und «Toleranz» festzustellen. In den letzten knapp zwei Jahren haben sie weiter an Kraft verloren, was sich in der aufgeheizten Debatte in den Medien niederschlägt. Anstatt mit Argumenten zu operieren, greift man zu Beleidigung und Diskreditierung. Vor allem die Staatsmacht kämpft mit harten Bandagen. Sie erträgt keine Kritik und diffamiert alle, die nicht ihrem Kurs folgen. Das führt zu Konformitätsdruck und autoritären Tendenzen. Entgegenwirken kann man ihnen nur, wenn alle demokratischen Tugenden kultiviert und gepflegt werden. Es ist daher höchste Zeit, Achtung und Toleranz wieder als erstrebenswerte Charaktereigenschaften zu betrachten.
1 Der Begriff „Demos“ (altgr. δῆμος) definierte im Gegensatz zum Volksbegriff der Ethnie in der griechischen Antike, ein im Kern politisch-rechtliches Konstrukt, welches das Staatsvolk abbildete. Die über volles Bürgerrecht verfügenden Mitglieder verliehen dem “Demos” mittels gemeinschaftlicher Willensbekundung per Volksversammlung Legitimität.