ein Beitrag von Eugen Zentner
Lesedauer 5 MinutenNach 24 Monaten Corona-Politik liegt die Kulturbranche in Trümmern. Die letzten zwei Jahre haben vor Augen geführt, welche politische Kraft sie wirklich hat – nämlich so gut wie gar keine. Während sich beispielsweise die Pharmaindustrie oder der Finanzsektor auf eine mächtige Lobby stützen können, gibt es kaum Institutionen, die Interessen der Kulturbranche vertreten, am aller wenigsten in Krisenzeiten. Die Initiative «Kunst ist Leben» will das ändern und der Kultur zu mehr Durchschlagskraft verhelfen. Ihr Anliegen ist es, Künstler aus verschiedenen Bereichen zu vernetzen, die Kräfte zu bündeln und dadurch ein festes Fundament zu schaffen, auf dem die eigenen Interessen sich besser durchsetzen lassen als in der Vergangenheit.
Gegründet wurde sie bereits im Mai letzten Jahres, als die meisten Kultureinrichtungen noch immer geschlossen waren oder nur ein stark eingeschränktes Programm anbieten konnten. Besonders hart traf es freischaffende Künstler, die nach Einführung der Corona-Maßnahmen von einem Tag auf den anderen nicht nur ihre Einnahmequelle verloren, sondern auch ihre Wirkungsstätten. Die Kulturbranche war plötzlich lahmgelegt, ohne dass die Betroffenen wussten, wann sie ihren Beruf wieder ausüben durften. Und dennoch blieb es überwiegend still. Hier und da äußerten zwar einige prominente Künstler Kritik, doch die meisten blieben leise. Ein großer Aufschrei war nicht zu vernehmen. „Ich fand das kollektive Schweigen der Künstler schockierend“, sagt Mitinitiatorin Philine Conrad. Die Schauspielerin und Schriftstellerin stand den harten Corona-Maßnahmen schon damals sehr kritisch gegenüber und begann sofort damit, nach gleichgesinnten Künstlern zu suchen.
Beruf und Lebenshaltung
Über einen Artikel auf reitschuster.de fand sie schließlich die Violinistin Marta Murvai, deren Schicksal in der Serie «Kollateralschaden» beschrieben wurde. Vor Corona war sie eine international bekannte Geigerin, die sowohl solo als auch in renommierten Orchestern auftrat. Über Aufträge konnte sie sich nie beschweren. Mit der Maßnahmen-Politik geriet ihre Existenz als Künstlerin in Gefahr. Alle Auftritte fielen aus. Wann sie wieder spielen durfte, konnte niemand sagen. Eine Aussicht auf Konzerte gab es nicht. Murvai ging es genauso wie Conrad, die ihre Schauspieltätigkeit an Theatern auf unbestimmte Zeit einstellen musste. Nach dem ersten Kontakt entschlossen sich beide, «Kunst ist Leben» aus der Taufe zu heben.
Der Name der Initiative spielt darauf an, dass die beiden Phänomene für Menschen wie sie zusammengehören. Kunst und Leben sind eins. Sie bedingen sich gegenseitig. Ohne Kunst ist auch das Leben nicht lebenswert, zumindest für Kulturschaffende wie Conrad und Murvai. Zusammen wollen sie ein Netzwerk aufbauen, damit aus den Kontakten neue Projekte, Diskursräume und Initiativen entstehen, die der Kunst zur Freiheit verhelfen. „Ein großes Problem ist die Cancel Culture geworden“, sagt Conrad und meint damit den gefährlichen Trend, Personen und Organisationen wegen ihrer Meinung auszugrenzen. „Gerade in der Corona-Krise haben wir es mehrfach erlebt, dass kritische Künstler mit Zensur belegt wurden“, so die Schauspielerin. Ihre und Murvais Initiative soll dieser Entwicklung entgegenwirken. Sie verfolgt das Ziel, einen freien wie geschützten Raum zu schaffen, in dem kritisch und konstruktiv gedacht werden kann. Der Gesundheitsstatus sollte kein Ausschlusskriterium für Auftritte sein.
Mitgliederliste wächst kontinuierlich
Mit ihrer Philosophie scheint «Kunst ist Leben» viele Künstler anzusprechen. Die Initiative wächst kontinuierlich und weist mittlerweile eine lange Liste von Mitgliedern auf. Zu ihnen gehören so große Namen wie Eva Herzig (Schauspielerin), Dietrich Brüggemann (Regisseur) oder Alexa Rodrian (Lyrikerin), aber auch internationale Künstler wie der britische DJ Danny Rampling und der italienische Filmproduzent und Architekt Robin Monotti. Viele von ihnen schrieb Conrad direkt an. Andere meldeten sich selber, nachdem sie auf die Initiative aufmerksam geworden waren. Allerdings richtet sie sich ausschließlich an hauptberufliche Künstler, die tatsächlich von ihrem Handwerk leben und es nachvollziehen können, welche existenziellen Probleme Maßnahmen wie die in der Corona-Zeit nach sich ziehen.
Das Netzwerk soll vor allem den Austausch zwischen den Mitgliedern fördern, damit Wege gefunden werden, sich in Krisenzeiten zu behaupten. In den letzten 24 Monaten sei ihnen allen klar geworden, dass es nur zwei Möglichkeiten gebe, sagt Violinistin Murvai: „Entweder wir verdienen unseren Lebensunterhalt mit Nebenjobs oder wir nehmen die Dinge selbst in die Hand.“ Wurde in der Initiative anfangs noch über die aktuelle Situation reflektiert, ging man nach und nach dazu über, sich Gedanken über neue Strukturen zu machen. Die Lösung ist so schlicht wie vielversprechend: Die beteiligten Künstler sollen selber in die Rolle der Veranstalter schlüpfen und sich gegenseitig Auftritte verschaffen.
Festivals und Veranstaltungen
Mit der Umsetzung dieser Idee begann die Initiative gleich zu Beginn dieses Jahres. Geplant war ein zweitägiges Festival im Januar. Das Programm in Berg am Starnberger See bestand aus heterogenen Beiträgen, aus Lesungen und Diskussionsrunden sowie Musik- und Gesangseinlagen. Allerdings wurde das Festival nach dem ersten Tag abgebrochen, mit einer Begründung, die irritierend wirkte. Verantwortlich dafür war die lokalpolitische Vereinigung Q.U.H. e.V. Sie argumentierte zunächst mit Inzidenzzahlen, ließ aber in gleichem Atemzug verlauten, dass man Maßnahmen-Kritikern keine Bühne bieten wolle. Doch die Initiative lässt sich von dieser Erfahrung nicht entmutigen und organisiert gerade ein zweites Festival, das mit einem ähnlichen Programm am 21./22. Mai stattfinden soll. Zwischendurch sind einzelne Veranstaltungen in Köln, Zarrentin bei Hamburg und Oderaue bei Berlin geplant.
Für Conrad und Murvai ist die Initiative fast schon zu einem Hauptberuf geworden. In intensiven Phasen wird teilweise bis zu zehn Stunden am Tag gearbeitet. Während die Schauspielerin Marketing, Organisation, Kommunikation und Akquise übernimmt, kümmert sich die Violinistin um die praktischen Angelegenheiten. Sie liest die jeweiligen Infektionsschutz-Verordnungen, klärt, was erlaubt ist und was nicht, sie redigiert Texte und sorgt beispielsweise dafür, dass bei den Events die Technik steht. Es bleibe aber noch viel zu tun, sagt sie. Eine große Herausforderung stelle die Vergütung der Künstler dar. Die Eintrittsgelder allein reichten dafür nicht aus, weshalb die Initiative nach potenziellen Unterstützern Ausschaue halte, nach Mäzenen, die Kultur mit Zuwendungen am Leben halten. „Das gilt vor allem für die sogenannte Ernste Kultur“, sagt Murvai. „Sie ist weniger massenkompatibel und musste daher schon immer subventioniert werden.“
Positive Bilanz nach einem Jahr
Dennoch hat die Initiative innerhalb eines Jahres viel erreicht. Sie konnte nicht nur ein stattliches Netzwerk an Künstlern aufbauen und einige Veranstaltungen auf die Beine stellen, sondern erfreut sich auch wachsenden Medieninteresses. Darüber hinaus ist im Rahmen von «Kunst ist Leben» ein Abend mit dem Titel «Wir spielen weiter» entstanden, eine Mischung aus Lesung und Konzert. Vorgetragen werden Szenen aus dem Stück «Geistige Gefangenschaft» von Philine Conrad und ihrem Kollegen Dieter Brandecker, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse und Umwälzungen beleuchtet werden.
Es geht um Themen wie Denunziation und Zensur, um massenhafte Testungen der Kinder und deren Reaktionen – eine Art Zeitzeugenbericht der letzten zwei Jahre. Abwechselnd zur Lesung spielt Murvai auf der Violine. Seit dem letzten Jahr sind die beiden mit diesem Abend auf Tour. Demnächst soll das Stück «Geistige Gefangenschaft» auch als Hörspiel erscheinen. Als Theaterstück gibt es ebenfalls eine Fassung, allerdings hat bislang noch kein Theater in Deutschland den Mut aufgebracht, es zu inszenieren.
Im April hat eine neue Phase der Hoffnung begonnen. Alle tiefgreifenden Maßnahmen sind gefallen. Die Kulturbranche fährt allmählich hoch, sodass nicht nur freischaffende Künstler, sondern auch die Initiative aufatmen können. Sie will jedoch weiter an ihren Zielen festhalten, zumal sie aus den vergangenen zwei Jahren weiß, wie schnell sich die Situation ändern kann. Das Misstrauen gegenüber der Politik sitzt tief. Für die Mitglieder rund um «Kunst ist Leben» gilt es, aufmerksam zu sein und für die Zukunft eine gewisse Resilienz zu entwickeln, um auf mögliche Berufsverbote wie in der Corona-Zeit gut gewappnet zu sein. „Die kritische Stimme der Künstler muss laut bleiben“, sagt Conrad. „Wir können nicht so tun, als wäre in den letzten 24 Monaten nichts geschehen.“