Ein Kommentar von Tobias Gall
Lesedauer 3 Minuten
In einem normalen demokratischen Land ist bekannt, dass der Staat mit seinen Organen keine Parteipropaganda betreiben darf. Das ist keine verfassungsrechtliche Spitzfindigkeit, sondern eine elementare verfassungsrechtliche Grunderkenntnis: Der Staat muss sich in seiner Selbstdarstellung politisch neutral verhalten. Er darf weder eine Partei noch eine politische Grundorientierung bekämpfen oder bevorzugen. Diese Neutralitätspflicht schützt nicht nur die parteipolitische Chancengleichheit, sondern bildet zugleich ein staatliches Propagandaverbot.
Und doch geschieht genau das: Die saarländische Ministerpräsidentin und als solche derzeit Bundesratspräsidentin nutzt den offiziellen Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, um unverhohlen zum staatlichen Kampf gegen eine Oppositionspartei aufzurufen – und das in einer Vereinigungsfeier, bei der kein einziger Ostdeutscher zu Wort kommt, kein einziger von den Menschen, die sich mit mutigstem Widerstand unserer freiheitlichen Rechtsordnung angeschlossen haben. Jeder im Saal wusste, von welcher Partei die Rede war. Jeder verstand, dass diese Partei als staatliches Feindbild markiert wurde und dass die Begründung dafür nichts anderes war als eine politische Verleumdung. In einem Land, in dem ein Mindestmaß an staatsrechtlicher Bildung, an Respekt vor den verfassungsrechtlichen Grundintentionen und an Bewusstsein für die eigene Rolle im Staatsgefüge vorhanden wäre, hätte es einen solchen Vorfall nicht gegeben.
Denn selbstverständlich handelt es sich bei der AfD nicht um eine verfassungswidrige oder gar verfassungsfeindliche Partei. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat – bei allem politisch motivierten Bemühen – keinerlei Beweise für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorgelegt, die eine solche Bezeichnung rechtfertigen würden. Unfreiwillig hat es damit den Beweis erbracht, dass die Alternative für Deutschland offensichtlich in jeder Hinsicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Wer anderes behauptet, lässt die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit hinter sich. Und wer als staatliches Organ diese Behauptung noch bekräftigt und etwas von wehrhafter Demokratie dazu faselt, hat sich vom Boden der Verfassung längst gelöst.
Endgültig zum rechtspolitischen Skandal wird das Ganze, wenn der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, also derjenige, der die Judikative bei diesem Festakt repräsentiert, diesem offenen Verfassungsbruch nicht nur beiwohnt – ohne ihn zu erkennen oder zu benennen. Noch schlimmer: Er applaudiert. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist nicht in der Lage, zu erkennen, dass hier gerade der demokratische Rechtsstaat verlassen wird und der vierthöchste Amtsträger letztlich zum Staatsstreich gegen den Souverän aufruft.
Applaus für eine Propaganda-Rede am Nationalfeiertag. Applaus für eine politische Instrumentalisierung des Staates gegen eine nicht nur legale, sondern vom Volk zunehmend mehrheitlich gewählte Partei. Applaus für das Gegenteil dessen, was das Bundesverfassungsgericht schützen soll – die freiheitlich-demokratische Grundordnung, in der jede Partei die gleichen verfassungsmäßigen Rechte genießt und Repräsentanten des Volkes als Souverän des Landes im Staat stellt.
Wer in einem solchen Moment Beifall spendet, hat entweder die Fähigkeit für das Verständnis des verfassungsrechtlichen Gefüges verloren oder aber den Mut, die verfassungsmäßige Ordnung im Parteienstaat zu verteidigen. Beides ist für den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts untragbar. Allein dieser Applaus müsste seinen sofortigen Rücktritt nach sich ziehen.
Denn es war kein spontanes Missverständnis, kein unbedachter Moment. Es war sichtbarer Ausdruck eines politischen Schulterschlusses zwischen Teilen der Staatsführung und dem Verfassungsgericht – dort, wo eigentlich Distanz, Mäßigung und die Verpflichtung auf das Grundgesetz geboten wären.
In einer Demokratie darf der Staat nicht Partei ergreifen. Er darf nicht definieren, wer „richtig“ und wer „falsch“ ist. Er darf schon gar nicht eine Oppositionspartei als Feind markieren. Wer das tut, verrät nicht nur das Neutralitätsgebot, sondern den innersten Sinn des Grundgesetzes: den Schutz der politischen Freiheit.
Als Amtsträger leistet man einen Eid auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Nicht auf eine Staatsführung, die sie missachtet. Nicht auf eine politische Klasse, die sich selbst über das Recht erhebt. Der Eid gilt der Verfassung – und der Pflicht, ihr auch dann treu zu bleiben, wenn der Staat selbst sie verletzt. Wenn die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung von allen politischen Amtsträgern der Bundesrepublik mit großem Applaus bedacht wird, dann verpflichtet Verfassungstreue zum Widerstand.
Der Kommentar erschien zuerst in der Sendung „Kontrafunk aktuell“ am 7. Oktober 2025.