von Kenneth Anders
Lesedauer 3 Minuten
Wie verhalte ich mich in einer Gesellschaft, deren Spielregeln ich für falsch und schädlich halte, der es an Ehrlichkeit im Umgang mit ihren eigenen Schwächen fehlt, die zu einer Gefahr für den Selbsterhalt vieler geworden ist? Diese Frage ist ab einem bestimmten Punkt unabweisbar. Unser Diskurs, sofern er Formen der Widerständigkeit fokussiert, ist in der Regel auf heroische, den lauten Widerspruch wagende Menschen gerichtet, die in verschiedenen Zeiten beinahe Unvorstellbares geleistet haben, indem sie sich übermächtigen Verhältnissen entgegengestellten. Alle schweigen, einer macht den Mund auf, das ist das vorherrschende Modell. Aber ist dieses Modell hilfreich?
Es soll keineswegs bestritten werden, dass lauter Protest unter bestimmten Umständen die einzige Möglichkeit darstellt, die gesellschaftliche Erstarrung und kollektive Hinnahme von unerträglichen Verhältnissen zu durchbrechen. Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, gibt es nicht mehr viel abzuwägen. Es soll auch jenen, die in der Geschichte eine schmerzhafte und opferreiche Konfrontation gewagt haben, weder das Gedenken noch der Respekt abgesprochen werden. Und schon gar nicht soll dem Schweigen und Verschweigen ein zwielichtiges Wort geredet werden, denn die öffentliche Sprache ist und bleibt der wichtigste Schauplatz der gesellschaftlichen Entwicklung.
Und doch kann die mutige Geste, die sich unerträglichen Machtverhältnissen laut entgegenstellt, auch negative Folgen haben, indem sie die gesellschaftliche Verwerfung verstärkt und zementiert. Denn wo es bei dieser einzelnen Geste bleibt und sie geahndet wird, sodass der Mutige aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, sind die schweigenden und beobachtenden Anderen womöglich erst recht gelähmt und also eher gewillt, ein für alle Mal zu verstummen.
Daraus folgt, dass jeder Versuch, die individuelle Erfahrung und die gesellschaftliche Kommunikation wieder in Beziehung zu setzen, auch klug sein sollte. Zu bedenken sind seine Folgen für die Mitmenschen, für die man entweder direkte Verantwortung trägt oder die sich an einem orientieren. Individueller Mut sollte nicht der eigenen Größe oder Vergrößerung dienen, er sollte in das soziale Feld eingebettet sein, in dem man lebt und wirkt. Nur aus diesem Feld lassen sich Maßstäbe für das eigene Verhalten gewinnen, die über den Augenblick hinausgehen. Dieses Feld will also betrachtet und verstanden sein.
Wem diese Überlegung zu abstrakt ist, der kann sich vielleicht eine der Episoden von Astrid Lindgrens „Michel aus Lönneberga“ anschauen. Das Verhalten dieses kleinen Jungen ist manchmal aberwitzig, auf jeden Fall aber unkonventionell, und es findet – das sei hier ausdrücklich erwähnt – unter sehr günstigen sozialen Verhältnissen statt. Und doch gibt es auch in dieser vermeintlich heilen Welt Ungerechtigkeit, Leid und Gefahren. Was immer Michel in seinen Geschichten anstellt, wird von der Autorin durch eine minutiöse Schilderung der jeweiligen Situation und der in ihr handelnden Menschen vorbereitet. Jede seiner Handlungen beruht auf der Wahrnehmung einer hohen Komplexität, auf die der Held der Geschichte irgendwann mit einer faszinierenden Verzögerung reagiert. Eben deshalb ist Michels Verhalten auch nicht mit dem deutschen Wort „frech“ zu bezeichnen, denn Frechheit ist nur möglich durch die Ignoranz gegenüber dem Bestehenden. Michel ist gerade nicht ignorant. Sein befreiendes Wesen macht sich geltend, indem er die reichen Ansprüche des Lebens gegenüber den Verhärtungen, Heucheleien und armseligen Hilfskonstruktionen der Erwachsenen geltend macht.
Man kann getrost davon ausgehen, dass ein Mensch wie dieser, der nach Willen und Aussage der Autorin später einmal Bürgermeister seines Dorfes werden soll, diese Fähigkeit beibehalten wird, wenn auch dann weniger anekdotisch und weniger komisch, eben erwachsen. Vielleicht ist der erwachsene Michel ein ganz leiser Mann, über den überhaupt keine Geschichten die Runde machen, weil er vorausschauend und bedacht handelt, weil er so wirksam in seiner Gemeinschaft unterwegs ist, dass man ihn kaum bemerkt – und dennoch alle auf ihn schauen. Vielleicht ist er aber auch laut, laut im richtigen Moment. Allein aus der Singularität und Lautstärke einer Handlung lässt sich jedenfalls nicht ableiten, welche Qualität diese Handlung hat – und wie viel Widerstand und Eigensinn von ihr aus in das soziale Feld investiert werden.
Ähnlich unauffällig haben sicher viele Eltern ihre Kinder unter den unerträglichsten Bedingungen großgezogen, und kaum jemand hat sich später gefragt, wie in dieser oder jener Zeit so feine Menschen heranwachsen konnten. Ohne Liebe und Geduld hätten sie diese Arbeit an ihren Kindern sicher nicht verrichten können. Aber im Diskurs über das Oppositionelle spielen diese Tugenden keine große Rolle.
Wir sind verschieden, also haben wir auch verschiedene, nur uns zur Verfügung stehende Mittel, hilfreich zu sein. Vielleicht ist dieser Gedanke weniger einschüchternd als manche Heldenerzählung, die den Einzelnen und seine mutige Tat in den Mittelpunkt rückt, die anderen aber wegen ihres Schweigens und Zurückbleibens lähmt und beschämt.
Eine nicht opportunistische Form des Selbsterhalts: Danach wäre zu suchen, wenn wir das Gespräch auf ein Verhalten lenken wollen, das unter Bedingungen der gesellschaftlichen Ohnmacht vielleicht hilfreich ist. Ob dieses Verhalten laut oder leise, gewitzt oder träge daherkommt, das hängt vom jeweiligen Menschen ab. Entscheidend ist, dass andere einen Impuls davon aufnehmen können, dass sie sich eingeladen und ermutigt sehen, selbst daran mitzuwirken, die gesellschaftliche Verwerfung abzubauen.