von Martina Binnig
Lesedauer 2 MinutenDie staatliche Zentrale weckt mich über mein von ihr geliehenes Smartphone. Sofort setze ich eine FFP2-Maske auf und verabreiche mir meine heutige Booster-Spritze, die automatisch digital erfasst wird. Nun kann der Tag beginnen. Ich checke meine App. Diesmal habe ich Glück: Mein Impfstatus gilt als aktuell. Morgen schon kann es ganz anders aussehen. Ich seufze erleichtert auf.
Es wird gerade hell draußen. Die Zentrale hat mich spät geweckt. Mir wird sofort klar, warum: Es herrscht wieder einmal Stromausfall, und das Licht funktioniert nicht. Leider kommt auch kein fließendes Wasser aus der Leitung. Fluchend verstecke ich meine ungewaschenen Haare unter einem Kopftuch und verlasse die Wohneinheit. Unterwegs grüßt mich mein Nachbar. Ich weiß, dass ich ihm gegenüber vorsichtig sein muss, damit er mich nicht denunziert, und grüße überfreundlich zurück. Die Tram fährt nicht, und so bleibt mir nur ein langer Fußmarsch zum Büro. Das Schmuddelwetter schlägt mir aufs Gemüt, und die Optimierungs-App treibt mich zur Eile an.
Ich wage es nicht mehr zu fluchen, denn nun befinde ich mich im öffentlich überwachten Raum, und negative Gedanken werden sofort an die Zentrale gemeldet. Ich beginne, eine fröhliche Melodie zu pfeifen, doch die Lippen sind rau. Mein Magen knurrt, und ich sehne mich nach einem Kaffee. Keine Chance: Mein Impfstatus ist zwar gerade eben noch aktuell, doch mir fehlt der nötige Punktestand, um eine Bäckerei betreten zu dürfen. Da fällt mir ein, dass ich im Büro immerhin einen süßen Insektenriegel versteckt habe. Hoffentlich hat ihn der Putzroboter noch nicht entdeckt.
Ich wende all meine Energie auf, um den Gedanken an den versteckten Riegel zu verdrängen, denn mentale Geheimnisse werden mit besonders hoher Priorität an die Zentrale gesendet. Dann droht mir, dass nicht nur der Insektenriegel aufgespürt und vernichtet wird, sondern dass auch ich abgefangen und einem Verhör zugeführt werde. Insektenriegel sind rar, und die Zentrale ist daran interessiert, Undercover-Lieferanten zu enttarnen.
Ich bemühe mich, meine Gedanken positiv zu halten und keinen Argwohn zu erregen. Prophylaktisch strahle ich alle mir Entgegenkommenden an und ernte misstrauische Blicke. Hoffentlich habe ich sie nun nicht in Bedrängnis gebracht, denn ihre Irritation könnte die Zentrale ebenfalls auf sie aufmerksam machen. Plötzlich informiert mich die Optimierungs-App darüber, dass ich 5,63 Sekunden in Verzug bin. Der Schreck fährt mir in die Glieder: 5,63 Sekunden? Das würde bedeuten, dass ich über Nacht im Büro bleiben und ohne Schlaf durcharbeiten müsste.
Ich strenge mich an, die automatisch gesteuerten Phasen der Verkehrskontrollanlagen effizient zu nutzen, doch das perfekt getimte System macht es mir unmöglich, meine Verspätung aufzuholen. Ich bekomme Angst und versuche, sprachlos zu denken, um mich der Nachverfolgung zu entziehen. Immerhin kann ich mich, da ich in meinem früheren Leben Kontrabassistin war, bei Bedarf noch an Musik erinnern. Das verwirrt die Zentrale. Mein letzter Trumpf. Ich konzentriere mich also auf das Adagio aus Bachs Cembalokonzert d-moll und erreiche ohne Zwischenfälle meine Bürotür. Jetzt kann mir erst einmal nichts mehr geschehen ‒ es sei denn, im Büro wartet schon jemand auf mich.
Da klingelt der Wecker: Zum Glück war alles nur ein Traum!
Ich seufze erleichtert, setze meine FFP2-Maske auf und verabreiche mir meine heutige Booster-Spritze…