Dante liegt in Italien immer in der Luft

Ein Brief aus Italien, einem der von Covid-19 am stärksten betroffenen Länder

von Agnese Grassi (Mailand)

Lesedauer 5 Minuten

Man sagt mir, Italien befinde sich in einer dritten Welle oder zumindest in einer weiteren Variante der Covid-19-Pandemie. Seit über einem Jahr erleben wir in allen Bereichen unseres Lebens anhaltende und massive Einschränkungen.

Unsere Wirtschaft ist am Boden. Trotzdem hat die Hälfte in diesem Land garantierte Arbeitsplätze und Löhne, und diesen Menschen geht es, wirtschaftlich betrachtet, recht gut. Die andere Hälfte jedoch steht am Rande des Bankrotts und ist verzweifelt. Viele kleine und mittlere Unternehmen stehen kurz vor dem Ruin. Nur wenig und ungeordnete wirtschaftliche Hilfe kam von der Regierung.

 Zu Ostern Hausarrest

Nun sind wir wieder in einer strengen Ausgangssperre und die Geschäfte sind geschlossen. Zu Ostern bekamen wir alle „Hausarrest“. Die zur Schließung gezwungenen Restaurants, Bars und Geschäfte bleiben ohne angemessene wirtschaftliche Unterstützung. Da die Proteste der in die Enge getriebenen Gastronomen aber in ganz Italien immer vehementer werden, wollen sie nun etwas Außengastronomie ab dem 26.4.2021 zulassen. Jedoch nur bis 22 Uhr, danach muss jeder zuhause sein.

Den Schulen und Bildungseinrichtungen ist seit Februar 2020, mit kurzen Unterbrechungen, nur der Fernunterricht gestattet.

Ich arbeite in der Sportbranche, ich unterrichte Pilates. Seit Februar 2020 habe ich nur ca. drei Monate arbeiten können. Was mir bleibt, ist ein paar Übungseinheiten online anzubieten. Der gesamte Sport- und Fitnesssektor wurde in Italien lahmgelegt, ohne dass eine Ende abzusehen wäre. Dies verursacht, jetzt schon erkennbar, nicht nur wirtschaftliche und soziale, sondern auch enorme gesundheitliche Schäden.

Zwischen Hoffnung und medialer Panik

Und es wird immer schwerer zu glauben, was die Regierung uns erzählt. Nun haben wir einen neuen Premierminister, Mario Draghi, in den auch ich große Hoffnungen setzte, aber seit dem Ende der Amtszeit seines Vorgängers Giuseppe Conte hat sich im Land nichts geändert.

Ich bin mir persönlich der Schwere des Problems bewusst und weiß auch, dass eine Covid-19-Infektion für zahlreiche Menschen und insbesondere für bestimmte Bevölkerungsgruppen gefährlich sein kann. Ich weiß aber auch, dass das Virus bei gesunden Menschen mit einer angemessenen Behandlung, dem in Italien so genannten „Therapieprotokoll“[1], zu Hause ohne Komplikationen behandelt werden kann.

Vor diesem Hintergrund stellt sich mir die Frage, warum die Medien uns vom ersten Tag an kontinuierlich und in unerträglicher Weise mit dramatischen Nachrichten überfluten, anstatt dem italienischen Bürger mit sachlicher Seriosität zu erläutern, wie er sich denn im Fall erster Symptome sinnvoll zu verhalten habe. Stattdessen ergehen sich die in Scharen eingefallenen „Wissenschaftsjournalisten“ vage, verworren und widersprüchlich, in düsteren bisweilen auch unfreiwillig komischen Spekulationen.

Das große Warten

Vor diesem Hintergrund dieser Orientierungslosigkeit erstaunt dann auch nicht mehr die unverändert kommunizierte Regierungsparole, „Nimm Paracetamol (ital. Tachipirina) und warte … ja … warte, bis du im Krankenhaus landest und falls du „alt“ bist, vielleicht auf der Intensivstation und dann auf dem Friedhof.“

Ist es spitzfindig, zu fragen: Wenn das Durchschnittsalter der inzwischen mehr als 100.000 Todesfälle in Italien über 80 Jahre betrug, warum hat niemand ernsthaft daran gedacht, nur diese empfindliche Bevölkerungsgruppe zu schützen?

Der Regionalpräsident von Ligurien, Giovanni Toti, hatte unlängst unter verschiedenen Tipps zur Vermeidung einer Ansteckung auch vorgeschlagen, ältere Menschen aufzufordern, vorübergehend zu Hause zu bleiben. Dabei argumentierte er, dass dieses Bevölkerungssegment doch ökonomisch betrachtet objektiv unproduktiv und durch das Rentensystem wirtschaftlich geschützt sei. Der Aufschrei war groß, dem armen Mann wurde „Rassismus“, „Faschismus“ und neoliberales Profitdenken vorgeworfen… … kurz, ein Skandal!

Solidarische Perspektiven

Also blieb es politisch opportuner, keine Vorkehrungen für ältere Menschen zu treffen, und lieber alle zu Hause einzusperren bei Androhung harter Strafen bei Verstößen. Denn in dieser demographisch alten Gesellschaft werden junge Menschen freudig als unsozial stigmatisiert, weil sie naturgemäß die größten Schwierigkeiten haben, im „Gefängnis“ zu bleiben. Und welch solidarische Perspektiven sie haben: Keine Freunde, keine Schule, kein Liebesleben, keine Zukunft … einfach überhaupt nichts, außer…… Arbeit? Ersparen Sie mir über das Thema Arbeitsuche in Italien zu sprechen: Das ist für junge Italiener ein wahrhaft monströses Unterfangen! Die einzige Hoffnung, die sich letztlich bietet, ist im Ausland zu arbeiten. Auch mein 23-jähriger Sohn hat nun diese Idee.

Armes Italien

Lassen Sie mich lieber von der Maske erzählen: Wir tragen seit mehr als einem Jahr Masken, auch im Freien, überall. Und die Infektionen? Nehmen trotzdem zu. Aber ich sehe viele Menschen allein joggen oder in den Feldern radeln, mit Maske. Sie scheinen nicht zu wissen, dass das nicht gesund ist. Die Leute tragen Masken aus irgendwelchen Materialien und teilweise zu grotesken Preisen. Manche tragen stets die gleiche Maske. Dass das auch nicht gesund ist, wissen sie scheinbar auch nicht. Oder man sieht alte Menschen mit schmutzigen, abgenutzten Masken … na ja, armes Italien, möchte man ohnedies andauernd sagen.

Ach ja, und dann gab es da noch den FFP2-Skandal. Da waren ungeeignete Masken mit gefälschten CE-Zertifizierungen geliefert worden und man hatte diese auch munter in den Krankenhäusern verteilt. Das eigentlich Abenteuerliche an der Geschichte war das grell zutage getretene Gemisch von Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz, und, fast mehr noch irritierend, die offenbar gewordene mangelnde Professionalität seitens der Europäischen Gemeinschaft. Ich gebe zu, von Italien hatte ich mir das vorstellen können … aber von Europa? Nun, stattdessen kritisiert man bei uns lieber Großbritannien!

Und wie sieht es mit dem Impfen aus? Auch wenn es niemand ausspricht, aber man hat keine Wahl: Impfen ist obligatorisch. Sollten Sie auf die Idee kommen sich dagegen zu entscheiden, sind Sie von sozialen Aktivitäten so gut wie ausgeschlossen gegebenenfalls auch von Ihrer Arbeit. Mehr noch: Es ist gefährlich, öffentlich zu sagen, dass Sie nicht geimpft werden wollen. Dann werden Sie nämlich beschuldigt, ein „Leugner“ zu sein, und sind für ungezügelte verbale Angriffe in Medien und sozialen Netzwerken freigegeben.

Die große Versprechung

Ich weiß nicht, welche Zukunft mein Land hat, aber eines ist gewiss, Italiens Horizont ist düster, wenn wir so weitermachen. Denn meine Landsleute gewöhnen sich an diese Situation, an die staatliche Alimentierung, an die „reddito di cittadinanza“, ein „Staatsbürgerschaftseinkommen“. Die große Versprechung heißt Wohlfahrtsstaat, der weder Leistung befördert noch anerkennt. In diesem Staat erhalten viele wenig und dieser Staat schafft ein Mittelmaß. Ohne Ideen und ohne Ideale.

Und schließlich ist nicht zu übersehen, dass die Politik längst verstanden hat, mit den nicht enden wollenden Bedrohungsszenarien von Leid und Tod durch Covid-19 die Gesellschaft gefügig zu machen, sie vollständig in ihren Griff zu bekommen. Denn diejenigen, die wie ich unter den anhaltenden und nicht rationalen Einschränkungen leiden, müssen vorsichtig sein, ihrem Widerspruch Ausdruck zu verleihen.

Bittere Aussichten

Gibt es dann noch Gedankenfreiheit und Freiheit der Rede in diesem Land? Natürlich gibt es sie noch, auf dem Papier. Oder wie ist das zu verstehen, dass Journalisten, die gegen Maßnahmen und Wesen dieses „Covid-Regime“, diese Aussicht auf „Gesundheitsdiktatur“, anschreiben, inzwischen auch gerne kurzerhand einmal verklagt werden?

So schaue ich auf mein Land und mir drängen sich Erinnerungen an einen Studienaustausch auf, als ich 1981 die UDSSR besuchen durfte. Ich weiß noch wie erschüttert ich von dieser Reise zurückkehrte, und wie diese Wahrnehmungen meine demokratische und freigeistige Überzeugungen prägten.

Doch, ich weiß es klingt bitter, ich sehe heute mein Land, dieses Italien, nur noch als Demokratie auf dem Papier. Wirkliche Freiheit ist uns genommen und wenn die Menschen dieses Landes nicht die Kraft finden, gegen diese Fehlentwicklung aufzustehen, dann spüre ich Dante in der Luft: „Ahi serva italia, di dolore ostello, nave senza nocchiere in gran tempesta, non donna di provincie, ma bordello“.[2]

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Gastbeiträge geben die Meinung des Autors/der Autorin wieder.
1bis19 bietet eine Plattform für vielfältige Meinungen und Kommentare.

[1] Corriere della serra, Marco Imarisio 30.3.3021, Covid, la cura da fare a casa: il protocollo domiciliare che riduce i ricoveri

[2]  Geknechtetes Italien, Haus der Schmerzen, Schiff ohne Steuermann in großem Sturme, Nicht Länderkönigin, nein Hurenkammer! (Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Das Fegefeuer, 6. Gesang)

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