Für die gute Sache

ein Beitrag von Katharina, Johannes Kirnberger und Katja Leyhausen

Das kollektive „Tagebuch“ dient der Dokumentation und Selbstreflexion der zivilgesellschaftlichen Arbeit für Meinungsfreiheit in einer Zeit, wo dieses und andere Grundrechte gefährdet sind: Wer erinnert sich nicht an ein Gespräch oder einen schriftlichen Austausch über die Coronapolitik, bei dem er besonders verzweifelt war über Aggressionen, Mauern, Predigten oder im Gegenteil überrascht darüber, dass plötzlich eine Tür aufging, eine Frage berücksichtigt oder ein Argument angehört wurde. Und an welcher Stelle in der Auseinandersetzung war es möglich, etwas von den Gefühlen, Motiven, Begründungen der anderen Seite nachzuvollziehen und vielleicht gemeinsam weiterzuentwickeln? Welche Situationen und Medien der Kommunikation sind überhaupt geeignet, um in einen Kontakt mit Andersmeinenden zu kommen? Zeichnen sich bei solchen Erlebnissen Entwicklungen im gesellschaftlichen Diskurs ab? Dieser Ort im Magazin ist offen für alle kommunikativen Erfahrungen – Erfahrungen, die einschlägig sind, weil sie etwas über den Stand der Debattenkultur und Meinungsfreiheit in unserem Land aussagen.

Argumentieren im Sommer (Katharina)

Nie habe ich es mehr geschätzt als in diesen Zeiten, auf dem Land zu leben. Ich lebe wie in einem Bilderbuch, weit entfernt von jeglichem Großstadttreiben. Ich kann frei atmen, wenn ich das Haus verlasse. Beim Spaziergang kann ich damit rechnen, keiner Menschenseele zu begegnen. Geschäfte gibt es bei uns nicht. Nach neu-hygienischen Maßstäben lebe ich also schon lange extrem vorbildlich! „C“ ist trotz allem auch hier allgegenwärtig: eine schmutzige Mund-Nasen-Bedeckung im Straßengraben oder ein passierendes Auto, dessen einsame Fahrerin eine Bedeckung trägt …

An einem idyllischen Sommermorgen mache ich mich auf zu einem Spaziergang. Meine Gefühlslage ist resignativ an diesem Tag. Für den Fall einer menschlich-kommunikativen Begegnung stelle ich mich daher auf ein Gespräch über das Wetter ein. Ich will meine Nerven schonen. Doch tatsächlich: Auf den letzten Metern treffe ich auf einen Bekannten aus dem Ort. Vogelzwitschern und Sonnenstrahlen umgeben uns. Ich versuche, ans Wetter zu denken und zu verhindern, dass das C-Thema aufkommt.

Das klappt genau drei Sätze lang. Dann hat er das C-Wort gesagt.

Es fällt ausgerechnet im Zusammenhang mit der Impfung. Der worst case, wenn man mit dem Vorsatz gestartet ist, über das Wetter zu sprechen. Ich versuche es mit einem nichtssagenden, diplomatischen Versuch: „Hm, ja. Hm, naja. Hm, ok, das sehe ich etwas anders“. Denn: Mit welchem Argument sollte ich wohl anfangen?

Das gelbe Impfbüchlein

Sofort werde ich aufgeklärt über die Geschichte der Impfungen. Selbstsicher bezieht sich der Mann auf das gelbe Büchlein des RKI, mit dem Titel „Das Impfbuch für alle“. Bekanntlich bedient es sich der PR eines prominenten Fernseh-Entertainers, der im bürgerlichen Beruf Arzt ist. Ich sehe schon genau vor mir, wie mein Gesprächspartner das gute Stück aus seiner Hosentasche zaubert. Dass er es mir ehrfürchtig überreicht, um mich an seiner Welt der Aufgeklärten teilhaben zu lassen.

Da muss ich meinen morgendlichen Vorsatz begraben. Denn solche Belehrungen zu schlucken und den Dialog mit „Ja, danke für den Hinweis“ zu beenden, das ist so gar nicht mein Ding. Ich probiere es damit, auf die Neuartigkeit der auf Gentechnik basierten Wirkweise dieser Impfstoffe hinzuweisen. Zwei Sekunden später hat er mich mit Worten schon halb tot geschlagen:

“Nichts als Fake News, was du da sagst!”

Na klar, ich Dummerchen! Auf Fake News bin ich hereingefallen, schon 15 Monate lang. Wo knüpfe ich nun argumentativ an? Situation und Umgebung geben einen Exkurs in Biochemie nicht her. Zugegeben: Ich wäre nur oberflächlich dazu in der Lage. Aber nur so könnte ich meine Zweifel begründen. Wie reagiert man bitte schön auf das Totschlagargument „Fake News“? Zumal wenn man merkt, das Gegenüber ist vollends überzeugt vom gelben Impfbüchlein des RKI? Wenn die Werbestrategie bei einem Menschen so tief eingeschlagen hat?

Mir bleibt in diesem Moment nur, auf meinem Standpunkt zu beharren: „Keine Fake News. Das ist ein Fakt: Es handelt sich um eine neuartige Technologie, die als Impfstoff nie langfristig am Menschen erprobt wurde.“ Zwei Sekunden später fühle ich mich selbst wie in einer bezahlten Werbekampagne des RKI. Oder stecke ich im Wahlkampf von Jens Spahn? Und schließlich höre ich noch on top:

„Allein schon aus Gründen der Solidarität den anderen gegenüber, vor allem für die, die nicht geimpft werden können” – Ein Impfbuch für alle eben.

Moral, Freiheit, Inselglück

Dann fallen Schlagworte, die man in solch einem Small-Talk kaum aus dem Weg räumen kann. Es wird unangenehm. Automatisch sehe ich mich einer Rechtfertigungsposition ausgeliefert. Als müsste ich gleich unter der moralischen Keule einbrechen. Das empfinde ich als Unrecht. Ich hatte über das Wetter sprechen und ihm seinen Glauben lassen wollen! Daraufhin versuche ich es mit klassischen Gegenargumenten: „Auch das sehe ich anders. Geimpfte sind weiterhin ansteckend. Das Impfen muss eine individuelle Entscheidung sein.“

Naja, das mit der Übertragung, das sei aber doch SEHR unwahrscheinlich. Aber ja, das Impfen solle jedem frei stehen.

Huch! Die erste Gemeinsamkeit im Gespräch! Ich versuche anzuknüpfen und bestätige: „Richtig, das ist der Punkt. Es sollte jeder selbst entscheiden dürfen.“ Zwar bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich seine Überzeugung ist. Doch da er für die Impfung brennt, hätte es wohl nichts genutzt, wenn ich schnell noch einmal auf die Übertragungswahrscheinlichkeit eingegangen wäre. Die Andeutung einer Übereinkunft zwischen uns halte ich für einen annehmbaren Gesprächsausgang. Das denke ich, und freue mich auf die wärmende Mittagssonne.

Aber ich bin noch nicht entlassen. Es fällt noch das Wort “England”. Drei Wochen zuvor hatte der englische Premierminister den Freedom Day ausgerufen: “Also, was jetzt der Johnson gemacht hat. Der spinnt doch. Den kann ich gar nicht ernst nehmen.“ Mich interessiert der englische Blondschopf nicht; viel mehr interessieren mich die Konsequenzen seiner Entscheidung. In meinen Augen sprechen sie eine ziemlich eindeutige Sprache. Deshalb entgegne ich: „Die Katastrophe bleibt dort scheinbar aus. Trotz Aufhebung der Maßnahmen sinken die Zahlen.“ Seine Antwort bedarf keiner Gegenrede mehr:

„Da hat der Johnson aber ziemlich Glück gehabt.“

Schade, denke ich. Dieses Glück ist wahrscheinlich nur ein Inselglück und uns nicht vergönnt.

Deeskalieren im Winter (Johannes)

Unlängst hatte ich ein Telefonat mit einem Schweizer Freund, einem früheren Kletterpartner. Wir kennen uns schon viele Jahre, sind allerdings nicht besonders eng befreundet. Man kennt sich eben, vom Alpinismus und Kaffeeplausch. Trotzdem habe ich mich noch in der Nacht an das Telefonat erinnert:

Nebenwirkungen

Wir sprechen über Sport und Klettern, über ethische Fragen im Gebirge, wenn wir am Fels sind. Über das Älterwerden und über sportliche Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter. Er habe in zunehmendem Maß Probleme mit Schmerzen, vor allem am frühen Morgen. Grund seien unerklärlich hohe Entzündungswerte im Blut. Die Ärzte seien unsicher, das könnte viele Ursachen haben. Auch Stress könnte ein Auslöser sein, denn Corona sei noch nicht vorbei. Ich suche nach einem Ausweg aus dem Thema …

… da kommt auch schon die Frage nach meinem Impfstatus – unvermittelt und präzise. Ich antworte ehrlich, und das bringt mich in die Defensive: Impfen sei doch eine moralische Verpflichtung! Ich versuche meine Position darzustellen, spreche über meine Ängste bezüglich der Nebenwirkungen. Ich kenne genügend Beispiele für solche Nebenwirkungen, nicht nur von vielleicht dubiosen Kanälen, sondern auch aus meinem direkten Umfeld.
Nebenwirkungen? Er selbst halte es für möglich, dass es sich bei seinen Beschwerden um eine Autoimmunreaktion des Körpers handle! Doch das müsse er hinnehmen, für die Gesellschaft, für das Gesamtergebnis.

Es ist doch für die gute Sache.

Schwieriges Terrain

Nach wie vor halte er sich an die Kontaktbeschränkungen, obwohl er geimpft ist.

Ungeimpfte vom normalen Leben auszuschließen, das sei im Prinzip in Ordnung. Natürlich hätten sie ein Grundrecht, sich nicht impfen zu lassen, ein Recht auf Entscheidungsfreiheit. Doch diese Menschen würden das Virus weiter verbreiten. Wer am normalen Leben teilhaben möchte, müsse sich entscheiden: unbegründete Angst vor der Impfung oder soziale Beschränkungen.

Er steigert sich: Für die wirren Aussagen der Maßnahmengegner hat er wenig Verständnis. Man lebe nicht in einer “Diktatur”, aber die Demokratie müsse solche Aussagen aushalten.

Es ist nicht einfach, das schwierige Terrain zu verlassen. Mir ist bewusst, dass es aktuell nicht meine Aufgabe ist, den Freund zu überzeugen oder bei ihm um Verständnis zu werben. Ich muss dieses Gespräch in ruhigeres Fahrwasser lenken. Nur so ist es möglich, in Kontakt zu bleiben. Aufklärung und Überzeugungsarbeit müssen warten.

Doch in der Nacht wache ich auf. Noch einmal höre ich den Freund sagen: „Es ist doch für die gute Sache”

Der Austausch über ethische Fragen am Fels ist wirklich einfacher, obwohl wir auch dort nicht immer einer Meinung sind. Irgendwann werde ich ihn besuchen, irgendwann.

Treffen Sie niemanden!

Ob nun bei Begegnungen im Wald oder auf dem (imaginierten) Berg: Auf allen Umwegen trifft uns das Impf-Thema. Dabei zeichnete sich im letzten halben Jahr eine Entwicklung ab: Im Sommer steckten wir noch in einer Dauerwerbekampagne für die Impfung und in dem ohnmächtigen Versuch, die Kampagne mit guten Argumenten abzuwehren. Nun, da es schon lange Winter geworden ist, werden Ungeimpfte unablässig als Schädlinge beschimpft. Sie werden diffamiert, ausgegrenzt und auf Montagsveranstaltungen sogar körperlich angegriffen. Niemand außer den Betroffenen scheint sich daran zu stören. Als ob der Slogan “Treffen Sie niemanden!” die Gesellschaft, die Nachbarn und Freunde auf direktem Wege zu dem anderen Slogan geführt hätte: “Treffen Sie keine Ungeimpften!” Aber man trifft sich doch, manchmal weitab von dieser Gesellschaft.

Wo sind wir falsch abgebogen auf dem gemeinsamen Weg, so dass wir uns nur noch auf Umwegen treffen?

Jedes Leben ist endlich. Aber in unserer Zeit haben Krankheit und Tod keinen Platz mehr. Wir wollen leistungsfähig sein bis ins hohe Alter. Wir wollen kein Risiko. Wir wollen, dass alles perfekt ist. Deshalb versprechen uns Politik und Medien mit gelben Impfbüchlein, Bratwürstchen und allerlei anderen schönen Gaben, jedes Leben könne gerettet werden. Richtig ist: Wir werden das Risiko einer Erkrankung auf uns nehmen müssen und die Verantwortung, all diejenigen zu schützen, welche das wegen ihrer Vorerkrankungen oder übergroßer Angst nicht können.

Eine gute Sache ist unser Grundgesetz

Eine gute Sache ist unser Grundgesetz: Es bildet die Grundlage für ein Leben in Freiheit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Es limitiert Übergriffe durch den Staat und die Mehrheitsgesellschaft. Es bildet die Grundlage für eine offene und intensive Debatte.
Wenn wir es nicht als Grundlage nutzen, ist es selbst in Gefahr.

Gerne wird argumentiert: Die eigene Freiheit ende dort, wo sie die Freiheit von anderen berühre. Aber wird nicht meine Bewegungsfreiheit in unzulässiger Weise durch die Ängste und Überzeugungen meines Gegenübers unangemessen eingeschränkt? Muss ich akzeptieren, dass ich vom normalen Leben ausgeschlossen werde, weil die mir gegenüberstehenden „Geimpften“ den Impfstoffen ebensowenig vertrauen wie ich, aber daraus andere Konsequenzen ziehen?

Wir gehen also weiter spazieren, mit dem Grundgesetz im Kopf. Die beiden Gespräche zeigen: Wenn man das Recht auf Entscheidungsfreiheit beim Impfen direkt von Angesicht zu Angesicht einfordert, dann kann es vielleicht doch noch ein Einlenken und eine gemeinsame Grundlage geben.

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