Eine Kurzgeschichte von Leonia Tralalińska
Lesedauer 2 MinutenIch saß im Sommerkleid und in Sandalen aus Ziegenleder auf der Terrasse eines Cafés an der Straße. Der Herbst war warm dieses Jahr. Ein Hauch von Freiheit wehte von Osten heran. Die Café-Besucher tranken Espresso, lachten, raschelten mit Zeitungen.
Ich schlug mein Buch auf und vertiefte mich in die Lektüre: „Chopins Leben in Żelazowa Wola“. Der kleine Frycek im Obstgarten, am Fluss, Streiche und Unfug, Familienbeziehungen. Faszination für die polnischen Mazurkas, die die Bauern des Dorfes bei Sonnenuntergang spielten, Duft von Rosmarin und Frycek, der verzaubert zuhört. Trauerweiden und ihr Brummen, unterbrochen nur vom Krächzen der Störche. Der Duft von Kräutern im Abendnebel.
„Schatz, wir haben hier 2G“. Die Kellnerin erschien über mir. Sie sah aus wie Demeter, die nach ihrer Tochter suchte. Sie war schwarz gekleidet, sah blass aus und schaute mich mit flüchtigen Augen an.
„2G?“
„Ja. Kannst du mir die Papiere zeigen?“
„Welche Papiere?“
„Deinen Covidpass, bist du geimpft?“ Als sie das fragte, legte sich der Ostwind, und ein Verrückter, der die Straße entlangkam, fluchte vor sich hin.
Ich schaute zurück ins Buch. Fryderyk Chopin, dieser niedliche kleine Junge mit dem Gesicht eines Brotlaibes und mit Haaren so hell wie Gold, war ein großer, dürrer Mann mit einem länglichen, grauen Gesicht geworden. Verachtung sickerte aus seinen flinken Augen, die von einer kleinen runden Brille verdeckt wurden. Er nahm die Gestalt eines wütenden Mannes an. Die Mazurkas, der Rosmarinduft und die Störche interessierten ihn wurscht. Ein Schwarm von fettig glänzenden Zikaden erschien vor ihm auf dem Bürgersteig. Sie stießen ein süßliches Liedchen aus.
Fryderyk zog sich den eleganten Ziegenledermokassin vom linken Fuß. Mit einem halben Lächeln im Gesicht und einem lauten Klatschen haute er ihn auf die dickste und lauteste der Zikaden. „Schützen Sie sich und andere“. Fryderyk nickte mit dem Kopf. Das Insekt war nur noch ein nasser grauer Fleck. Dann zerquetschte er noch eine. Und noch eine.
Bis Fryderyk seinen Mokassin ruiniert hatte.
Ich hob meinen Blick vom Buch. Die Kellnerin stand wieder neben mir.
„Schatz, du kannst hier sitzen. Ich bringe dir einen Kaffee. Aber sei vorsichtig, falls die Polizei kommt”. Sie informierte mich besorgt und verschwand schnell wieder in den Tiefen des Cafés.
An diesem Nachmittag trank ich meinen bitteren Kaffee und fühlte mich dabei wie ein Verbrecher, der seinen Schierlingsbecher leerte. Die Café-Besucher raschelten gemächlich weiter mit ihren Zeitungen. Die Polizei kam nicht. Dennoch war etwas Eigenartiges passiert, als ich mich wieder auf den Weg machen wollte. Meine linke Ziegenledersandale war kaputtgegangen. Halb schuhlos lief ich durch den Herbst nach Hause.